Über den Wolken

Vanessa Gieses Romanbiografie „Die Frau, die den Himmel eroberte“ erzählt vom Aufstieg und Absturz der Fallschirmpionierin Katharina Paulus

Von Ella Charlotte RichterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ella Charlotte Richter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist das Jahr 1935, die Nazis machen sich in Deutschland breit und Käte Paulus liegt im Sterben. Ihr letzter Wunsch: Einer jungen Freundin ihre Lebensgeschichte anzuvertrauen. Von dieser Rahmenhandlung geht Vanessa Giese geschickt aus und schenkt ihrer Käte für deren Geschichte fast 400 Seiten Debutroman mit dem etwas abgehobenen Titel Die Frau, die den Himmel eroberte. Das ist viel. Doch hat man das ungelenke erste Drittel überwunden, vergeht die Zeit wie im Flug.

Ihr Leben als Damenschneiderin im Frankfurt der späten 1880er langweilt Käte. Schon seit ihrer Kindheit in Armut weiß sie, was sie stattdessen will: hoch hinaus. Die Chance auf frischen Wind fällt ihr in Gestalt des bekannten und natürlich sehr attraktiven Flugschiffers und Fallschirmspringers Hermann Lattemann in den Vorgarten, der ganz zufällig auf der Suche nach einer innovativ denkenden Schneiderin für seine Ballons ist. Obwohl ihre Mutter Hermann zunächst für einen Luftikus hält, tritt Käte in seine Dienste. Sie erweist sich als Überfliegerin, als Naturtalent der Ballonschneiderei – und kurze Zeit später schweben die beiden im wahrsten Sinne des Wortes im siebten Himmel. Erst bringt sie ein Kind zur Welt, dann steigt sie mit Hermann im Ballon auf und springt dem gesellschaftlichem Gegenwind zum Trotz sogar mit dem Fallschirm ab. In halb Europa entfacht ihre Luftnummer Begeisterungsstürme. Doch dann ziehen dunkle Wolken auf. Hermann stürzt, von Käte hilflos beobachtet, mit tödlichem Ausgang ab; der gemeinsame Sohn stirbt kurze Zeit später an Diphterie.

Erst die Windstille nach diesen Verlusten trägt Kätes Geschichte in mitreißendere Wetterlagen. Begleitet von ihren Schutzengeln (ihrer Mutter und einer alten Mitarbeiterin Hermanns) steckt sie im zweiten Teil des Buches ihre gesamte Energie in Hermanns Luftfahrtunternehmen und steigt zur selbstbewusst (ver)handelnden Geschäftsfrau auf. Unter ihrem neuen Künstlernamen Miss Polly erobert sie die Herzen des Publikums im Sturm. Dass der Wind sich von der Ballonfliegerei in Richtung Motorflugzeuge dreht, nutzt sie für die Vermarktung eines selbst konstruierten Fallschirms.

Indessen, jetzt schon in Teil drei des Romans, verdunkelt sich der Himmel über Berlin, der erste Weltkrieg liegt in der Luft. Obwohl der von ihr entworfene Fallschirm Kätes Mitarbeiterinnen und zahlreichen Soldaten während des Kriegs das Leben rettet, steht sie bei Friedensschluss vor einem Abgrund. Ihre in Kriegsanleihen angelegten Ersparnisse haben sich in Luft aufgelöst. Käte Paulus erzählt ihre Geschichte zu Ende und stirbt arm, krank und vergessen.

Tatsächlich wissen heute maximal Fachmenschen, dass Katharina Paulus die Erfinderin des noch immer gebräuchlichen Paketfallschirms war. Dass sich das zumindest in den Kreisen der Brigitte-Leserinnen ändern wird, ist der Verdienst der Journalistin und Unternehmensberaterin Vanessa Giese. Ihr Roman gehört zu einer Sorte Bücher, die seit einigen Jahren halb feministisch, halb ökonomisch motiviert starke Frauen der letzten dreihundert Jahre porträtieren und so der weiblichen Hälfte der Weltbevölkerung eine Geschichte geben. Das ist grundsätzlich löblich und unterhaltsam, aber viel zu oft nicht gut gemacht. So auch hier, teilweise zumindest.

Wäre dieses Buch ein Film – und es wirkt sehr so, als sei eine mögliche Verfilmung von vornherein mitbedacht worden –, dann liefe dieser Film zur besten Sendezeit in einem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender. Er wäre besser produziert als eine Vorabendserie, enthielte für einen Wohlfühlfilm das genau richtige Maß an historischem Hauch und epischer Filmmusik, hätte dann aber doch nicht ausreichend Flughöhe für die Kinoleinwand. Das Buch böte jedenfalls die perfekte Vorlage. Es arbeitet mal gekonnt und fesselnd, mal einfach nur irritierend mit filmischen Mitteln. Beispielsweise werden Informationen, vor allem technische, die der Leserin (das Zielpublikum ist eindeutig weiblich) fehlen könnten, demonstrativ in Gesprächen vermittelt. Zwar braucht die alte Käte mit all ihrer Erfahrung bestimmt keinen Vortrag über aerodynamische Gegebenheiten des Segelfliegens, aber zu Gunsten der Leserin fragt sie gerne nochmal danach.

Überhaupt sind die Dialoge häufig steif, wirken abgekartet, künstlich, unmotiviert, so als sei keine Zeit zum entspannten Erzählen. In einem Spielfilm hätte man die tatsächlich nicht, hier wäre es nachsehbar, dass die Geschichte unnatürlich glatt vonstatten gehen muss, indem alles immer beim ersten Versuch gelingt, beziehungsweise Käte zufällig immer zur besten Zeit am besten Ort ist (und Hermann zum Beispiel zufällig in ihrem Vorgarten landet). Ein Roman aber hat die Zeit, für flüssige Dialoge genauso wie für Fehlversuche und eine realistische Szenenführung.

Speziell dieser Roman könnte außerdem Zeit gewinnen, indem er einige unnötige und damit verwirrende Szenen rausfliegen lässt. Zum Beispiel taucht relativ am Anfang ein windiger Actionarius auf, der Käte kurz anmacht. Etwa zwanzig Seiten später ist er wieder da, ebenso kurz, höchst unangenehm, sein Auftritt fühlt sich an wie die Präsentation eines Antagonisten. Und dann trifft man ihn nie wieder. Warum? Auch andere detailliert beschriebene Szenen entpuppen sich im Verlauf der Geschichte als bedeutungslos, immer wieder werden erzählerisch geweckte Erwartungen enttäuscht.

Die anstrengendste Parallele zum 20.15-Uhr-Spielfilm ist die melodramatische Poetik und der gepflegte Pathos, den schon der Titel des Buchs verspricht. „‘Was ist aus der kleinen Akrobatin Käte geworden?‘ ‚Sie wurde zur Näherin, legte ihre Träume in eine Kiste, verschloss sie und schob sie unter ihr Bett.‘ ‚Dann wird es Zeit, die Kiste hervorzuholen und zu schauen, ob die Träume noch dort sind.‘“ Spoiler: Sie sind es.

Seinen Höhepunkt erreicht dieser Stil nach dem Krieg in Kätes Abschlussrede an ihre Mitarbeiterinnen. Die Szene ist absolut filmreif, man kann gar nicht anders als im Underscore die Solo-Violine und später das ergreifend aufblühende Orchester mitzuhören.

‘In den vergangenen Jahren haben Sie Großes geleistet, meine Damen. Sie haben unseren Soldaten das Leben gerettet, haben dem Kaiser und dem Vaterland gedient. Unter Hunger und Entbehrungen haben Sie hier vermessen, zugeschnitten, genäht und verpackt. […] Sie haben Männer, Brüder und Söhne verloren. Und doch waren Sie alle immer hier. Dafür danke ich Ihnen von Herzen‘

Natürlich haben da alle Tränen in den Augen. Dass Käte diese Frauen allen Tränen zum Trotz nur aus ökonomischen Gründen gut durch den Krieg gebracht habe, ist ein interessanter Zug an Gieses Darstellung von Käte. Die Autorin schreibt im Nachwort, sie wisse mangels historischer Quellen nur sehr wenig über ihre Protagonistin, stelle sie sich aber als Opportunistin vor, als eine, die ihre Fahne nach dem Wind hängt. Kätes folgerichtige Begeisterung für das Nationale überrascht positiv, nicht aus Identifikationsgründen, sondern weil die Hauptfigur nicht so perfekt ist wie sie es in einem „Frauenroman“ zu sein hätte. Dass sie in ihrer konservativen Art allerdings auch den zeitgenössischen Feminismus quasi überfliegt, ist eine verpasste Chance für das Buch. Käte hat Begleiterinnen, die sich für die Besserstellung der Frau in der Gesellschaft einsetzen, sie hat also Vorbilder und gleichzeitig die Bekanntheit, um Wind in die Sache zu bringen. Doch Gieses Käte ist eine Einzelkämpferin. Ihren Beitrag zur Gleichberechtigung bildet ein Werbevertrag mit der Firma Adler, die Fahrräder herstellt, die Frauen wohl eine selbstbestimmtere Fortbewegung ermöglichen sollen. Vor allem Käte verdient gut daran.

Während die Protagonistin im Verlauf der Geschichte durch ihr bodenverhaftetes, geschäftstüchtiges Auftreten gefällt, entspricht ihre Darstellung zu Beginn auf unangenehme Weise den Klischees eines „Frauenbuchs“. So ist ernsthaft „Sieht er gut aus?“ ihre erste Frage, als ihre Mutter vom im Vorgarten gelandeten Hermann erzählt. Und weil er so attraktiv ist, durchfährt sie eine halbe Seite später, als sie ihn das erste Mal sieht, „ein Beben, gefolgt von einer Hitze, die meinen Körper ergriff.“ Ähm, hallo? Emanzipation? Die ewige Reproduktion solcher Bilder von Weiblichkeit ist zum in die Luft Gehen. Glücklich macht dafür die Beziehung, die sich anschließend zwischen Hermann und Käte entspinnt: Gleichberechtigt, liebevoll. Dass sie schon am Abend nach dem ersten Kuss das erste Mal miteinander schlafen und dass der Akt unrealistisch explizit geschildert wird (schließlich erzählt immer noch die alte Käte ihrer jungen Freundin von ihrem Leben), darüber möchte man angesichts der Schönheit und Greifbarkeit der Gefühle hinwegsehen. Nicht nur Käte ist „ihrer Zeit weit voraus“, wie der Klappentext verspricht. Ihr Partner ist es ebenso, vielleicht sogar noch weiter. Entsprechend durch den Wind ist dann auch die Leserin vom unerwarteten Ableben des Traumprinzen. Und entsprechend begierig verfolgt sie, wie Käte sich aus all ihrem Unglück aufrappelt und zu einer noch stärkeren Frau wird.

Denn über den kritisierten Punkten schwebt mitreißend die Geschichte einer selbstbewussten Frau und ihrer oft nicht weniger selbstständigen und vor allem weisen Begleiterinnen. Diese starken Frauenfiguren, teilweise komplett fiktional, teilweise historisch verbürgt, sind es, die den Roman luftig und das Lesen vergnüglich machen. Besonders unterhaltsam ist dabei, zumindest für Ortsansässige, der im Buch ausgeschriebene Dialekt der Frankfurter Umgebung; zum Beispiel, wenn Käte mal wieder vom Winde verweht in einem Baum gelandet ist und ein zu Hilfe eilender Arbeiter ihr zur Begrüßung „Gude!“ zuruft. Und wenn dieser Arbeiter später lokale Weisheiten zum Besten gibt: „Hier in Seckbach sache mer: En junger Mann is wie Most, der lässt sisch nedd halde, der muss gäre.“ Auch Käte lässt sich nicht halten, atemlos verfolgt man schließlich ihren Aufstieg.

Die Frau, die den Himmel eroberte leistet einen unterhaltsamen Beitrag zur Wiederentdeckung der Luftfahrtpionierin und Erfinderin des Paketfallschirms Katharina Paulus. Dabei schwingt sich der Roman seinem thematischen Potential zum Trotz nicht zu literarischen Höhenflügen auf, sondern bleibt vor allem stilistisch am Boden. Als vergnügliche Lektüre für den nächsten Urlaub sei er trotzdem empfohlen. Denn Käte bestätigt verlässlich, was schon andere in die Hirnwindungen der Gesellschaft gepustet haben: Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2022 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2022 erscheinen.

Titelbild

Vanessa Giese: Die Frau, die den Himmel eroberte.
Insel Verlag, Berlin 2021.
400 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783458179351

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