Politik als gesellschaftlicher Rahmen für Identität

Arianna Farinellis „Aufbrüche“ ergründet exemplarisch, wie sich Politik auf unsere Suche nach Identität auswirken kann

Von Graciela PeraltaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Graciela Peralta

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aufbrüche macht, dem Titel gerecht, auf den ersten Blick einen gespaltenen Eindruck. Einerseits soll es sich um ein Liebes-/Familiendrama rund um eine außereheliche Affäre handeln, andererseits verspricht die Inhaltsangabe auch eine Auseinandersetzung zu einer Vielzahl an komplexen politischen Themen wie Rassismus, „Clash der Kulturen“ und weiblicher Identität. Von Beginn an fragt man sich, wie sich diese Punkte auf schlüssige Art miteinander vereinen lassen.

Den Erzählkern bildet die komplizierte Dynamik zwischen der Protagonistin Bruna, ihrem Mann Tom und ihrer Affäre Yunus. Zwanzig Jahre zuvor ist Bruna für ihren Ehemann aus Italien in die USA ausgewandert. Obwohl sich Toms strenge italo-amerikanische Eltern gegen die Beziehung stellen, heiraten die beiden, bekommen Kinder und leben in einem luxuriösen Apartment in Manhattan. Tom wird ein angesehener Arzt und Bruna entwickelt sich zu einer emanzipierten Professorin für Globalisierung und Politik. Der Einfluss von Toms Eltern bleibt jedoch bestehen. Um den hohen Erwartungen an ihn als Immigranten-Sohn trotzdem noch gerecht zu werden, bleibt Tom mehr Sohn als Ehemann und gibt stattdessen Bruna unterschwellig die Schuld für die Distanzierung zu seinen Eltern. Hinzu kommt, dass die Identitätsfindung der gemeinsamen Kinder mehr und mehr moralische Fragen nach Gerechtigkeit und deren Umsetzung im Alltag aufwirft. Besonders im Umgang mit ihrer trans Tochter Maria kristallisieren sich unterschiedliche Erziehungsweisen der Eltern heraus. Bruna nimmt durch den Roman hinweg eine liberale Position ein. Sie ist der Meinung, die Kinder sollten sich frei entfalten und mit Gender experimentieren dürfen und ist dementsprechend ermutigend, wenn es darum geht, ihr Kind Kleider tragen zu lassen. Tom hingegen ist von den konservativen Ansichten seiner Familie geprägt und hätte lieber, dass Maria sich mehr zurückhält.

Es entsteht eine familiäre Situation aus kurzen glücklichen Momenten, Schweigen, Streitigkeiten und Enttäuschung, die Bruna letztendlich in eine Affäre mit ihrem zwanzig Jahre jüngeren Studenten Yunus treibt. Abgesehen von ihrem schlechten Gewissen scheint alles zunächst unbeschwert mit Yunus. Er ist intelligent, einfühlsam und leidenschaftlich und es entwickelt sich eine Zuneigung, die nicht nur auf einer körperlichen Verbindung basiert, sondern auch auf einem emotionalen und intellektuellen Verständnis. Als Yunus sich jedoch völlig überraschend dem IS anschließt, während Bruna zeitgleich herausfindet, dass sie von ihm schwanger ist, verkompliziert sich die ohnehin schon schwierige Situation drastisch.

Bruna begibt sich daraufhin für den Rest des Romans auf die Suche nach den Faktoren, die zu dieser Situation führen konnten. Dies eröffnet ihr und der*dem Lesenden einen einfühlsamen Ansatzpunkt für eine gesellschaftskritische Reflexion darüber, was Politik mit den Menschen macht.

Arianna Farinelli stellt hierfür jede einzelne Figur auf eine Stufe und ergründet deren tiefe und facettenreiche Innenleben auf urteilsfreie Weise. Indem den Lesenden unterschiedlich perspektivierte Rückblenden zu den Charakteren gegeben werden, die Farinelli mit relevanten politischen Rahmenbedingungen ergänzt, entsteht im Verlauf des Buches eine kaleidoskopartige Übersicht über den Zusammenhang zwischen individueller Weltanschauung, gesellschaftlicher Identität und eigenem Handeln.

Ein anschauliches Beispiel hierfür erkennt man vor allem in Yunus’ Geschichte. Die Frage nach seiner Motivation, sein scheinbar normales Studentenleben in New York aufzugeben, um sich in Mossul dem IS anzuschließen, baut durch den gesamten Roman hinweg den Spannungsbogen auf. Farinelli bettet die Antwort darauf in seine persönliche und familiäre Biografie ein, aber eben auch in die Auswirkungen von legislativen Entscheidungen der US-amerikanischen Politik.

So wird beispielsweise aufgezeigt, wie die Verfassungsänderung des 13. Artikels im Jahr 1865, durch den die Sklaverei zwar verboten wird, aber dennoch eine Ausnahme bei Inhaftierten zulässt, noch einen nachhaltigen Effekt auf Yunus haben kann. Bis heute wird Artikel 13 als Grundlage für rassistische Diskriminierung gegen Schwarze Menschen im Justizsystem instrumentalisiert, was sich in Yunus’ Leben in der Stigmatisierung seines Vaters als „Verbrecher“ äußert, die dann auch trotz übervorsichtiger Lebensweise zur Inhaftierung führt. Zusätzlich lösen die unberechtigte Haft und der spätere Tod seines Vaters eine Haltlosigkeit und Desillusionierung bei Yunus aus, die ihn in seiner Suche nach Identität anfälliger für den IS machen.

Zwar könnte man kritisieren, dass aufgrund der Fülle an dramatischen Situationen in Aufbrüche die angerissenen politischen Realitäten nicht in ihrer vollen Komplexität dargestellt werden können. Dem lässt sich aber die Sorgfalt hinter der Auswahl komplementärer Fakten entgegenhalten. Natürlich kann kein vollständiges Verständnis über die verschiedenen Themen erlangt werden, aber das ist auch nicht Ziel des Romans. Er entstand, laut Farinelli selbst, aus der Motivation heraus, die Gründe für das chaotische politische Geschehen um das Jahr 2016 anhand der biographischen Erfahrungen der Menschen, die Politik antreiben, emotional nachzuvollziehen. Politik wird ihres Erachtens grundlegend von den Emotionen hinter intimsten Fragen wie „Wer bin ich?“, „Zu welcher Gruppe gehöre ich?“ oder „Wer ist anders als ich?“ geformt.

Dabei vernachlässigt Farinelli zugleich nicht die verschiedenen Wechselwirkungen innerhalb dieses Prozesses. Da politische Entscheidungen die gesetzlichen Bedingungen für Lebensumstände wie Wohnen, Arbeit und Bildung festlegen, beeinflussen sie genauso die praktischen Erfahrungen, aus denen sich der Vorstellungsrahmen zur Beantwortung eben dieser Fragen der Identität ergibt.

Charaktere wie Yunus oder Bruna zeigen zudem, wie gesellschaftliche Minderheitsrollen wie „Schwarzer Mann“, „Muslim“, „Immigrantin“ oder „Frau“ so von außen definiert werden, dass die Betroffenen bei der Beantwortung dieser existenziellen Fragen stets gesellschaftliche Urteile mitdenken müssen. Sie werden deshalb angetrieben, ihren Handlungsspielraum durch Toleranz und progressive Politik zu erweitern.

Aber Tom und seine Eltern, die die konservative Seite repräsentieren, werden aufgrund ihrer Migrationsgeschichte mit einem ähnlichen Bewusstsein für die Einschränkungen durch gesellschaftliche Stigmatisierung gezeigt. Aus ihrer Erfahrung leiten sie jedoch eine andere Art, mit Ungerechtigkeit umzugehen, ab. Freiheit entsteht für sie mehr aus Selbstverantwortlichkeit und dem Vermögen, vom Staat finanziell unabhängig zu sein.

Insgesamt lässt sich sagen, dass es dem Roman gelingt, eine Reihe von vielschichtigen politischen und zwischenmenschlichen Problematiken greifbar zu machen. Jedoch erst durch die Allwissenheit der Erzählperspektive, die ein Zusammenspiel aus Einfühlungsvermögen für die Figuren und politischer Analyse ermöglicht.

Dadurch, dass wir in unserem täglichen Leben ständig mit einer Masse an Informationen konfrontiert werden, ist es in der Realität jedoch weit schwieriger, für die Menschen in unserem persönlichen Leben oder gesellschaftliche Phänomene das gleiche Maß an Empathie und ein tieferes Verständnis aufzubringen. Wie also mit der Herausforderung, ein politischer Mensch in dieser chaotischen Zeit zu sein, umgehen? Farinelli legt im Nachwort noch einen alternativen Ansatz nahe. Im gesellschaftlichen Querschnitt, den der Roman darzustellen versucht, ist zu sehen, dass alle Figuren – egal in welcher gesellschaftlichen Rolle – immer auch zuallererst von ihrem grundsätzlich menschlichen Verlangen nach Freiheit und Glück geprägt sind. Zwar leben wir in unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen, aber letztlich dennoch vereint in unserem Menschsein. Aufbrüche schafft es somit durch seinen vielschichtigen Blick, auf eine einfache politische Grundidee hinzuweisen, die im Chaos der Geschehnisse oft untergeht. Menschen, die sich einen nahbareren und neutralen Zugang zum Persönlichen im Politischen wünschen, kann der Roman daher nur empfohlen werden.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2022 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2022 erscheinen.

Titelbild

Arianna Farinelli: Aufbrüche.
Aus dem Italienischen von Luis Ruby.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
320 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783103970470

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch