Bauer sucht Frau

Bénédicte Belpois‘ Buch „Hingabe“ verspricht die Geschichte einer ungewöhnlichen Liebe. Dabei hat der Roman so wenig mit Liebe zu tun wie das Verhältnis der beiden Hauptfiguren mit Hingabe.

Von Jan Niklas KlodRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Niklas Klod

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich kann man Tomás nur bemitleiden. Verkorkste erste Ehe, Alkoholproblem und nun die Schockdiagnose Lungenkrebs. Der 40-jährige Großbauer ist in die Dorfgemeinschaft seiner galizischen Heimat zwar integriert, gilt allgemeinhin aber als mürrischer Außenseiter. Eines Abends, beim allabendlichen Routinebesuch in Álvaros Dorfschenke, erblickt er das erste Mal die neue Kellnerin Suiza. Diese ist ihrem französischen Waisenhaus entflohen und ins galizische Nirgendwo gezogen, mit dem Ziel das Meer zu sehen. Mehr als einmal denkt man sich beim Lesen: Wäre sie doch besser dortgeblieben.

Denn statt individueller Freiheit erwartet sie in Nordspanien viel Testosteron und primitives Gehabe. Ihre jugendliche Schönheit erregt die harten Bauernkerle, allen voran Tomás, dessen sexuelle Gier eines Nachts in einer Vergewaltigung eskaliert. Seine „Kriegsbeute“ lebt ab sofort bei ihm. Es entwickelt sich eine krankhafte Besessenheit, die schlussendlich in einem tragischen Ende mündet.

Als Ich-Erzähler skizziert der Großbauer sein Leben ab dem Tag seiner Diagnose. Schilderungen des bäuerlichen Alltags wechseln sich dabei mit dutzenden entgrenzten Sexszenen ab, welche nie ohne völlige Unterwerfung der Frauenfigur und animalischer männlicher Geilheit ablaufen und so unangenehme Lesemomente garantieren. Die Asymmetrie dieser Sexbeziehung schockt, ja sie widert in manchen Szenen sogar an, weil die Frauenfigur im Text zum reinen Lustobjekt verkommt. Ausbrüche aus dem bäuerlichen Alltag und den Bettgeschichten bieten die Arztbesuche Tomás‘, die eine tragende Funktion in der Handlung einnehmen, indem sie, wie ein Damoklesschwert, über der Hauptfigur schweben und den Einbruch des bevorstehenden Todes andeuten.

Tatsächlich gehören die Szenen im Krankenhaus zu den besten im Buch, wodurch es passieren kann, dass man sich als LeserIn fragt, warum der Fokus der Erzählung auf der Beziehung der beiden Figuren liegt und der Krebs in ihrem Zusammenleben eigentlich überhaupt keine Rolle spielt. Der Verfall Tomás’ wird psychologisch nachvollziehbar geschildert. Die Autorin schafft es, die anfängliche Scham, die Absurdität eines Arztbesuchs und die endgültige Hoffnungslosigkeit glaubhaft auszuerzählen. Die Ehrlichkeit und der stumme Zynismus, mit dem Tomás seiner Krankheit begegnet, ist dabei so stark geschildert, dass man in manchen Situationen sogar Mitleid für ihn empfindet. Weniger gut gelungen ist die Gestaltung der galizischen Ortschaft, welche sich aus einer Aneinanderreihung von Stereotypen zusammensetzt. Das Dorf, „Vergessen von der Welt“, scheint jegliche Art von Modernisierung verschlafen zu haben und stellt mit einer Dorfschenke und einem Lebensmittelladen den letzten vor der Globalisierung verschlossenen Mikrokosmos dar. Die Figuren tun ihr Übriges. Angefangen bei den harten („wie Steine“) Bauernburschen, bis hin zur schrulligen Alten, bei der, trotz der überschaubaren sozialen Zusammenhänge, keiner so richtig weiß, wer sie eigentlich ist, bietet Hingabe seinen LeserInnen ein Großangebot an Dorfklischees. Paradoxerweise schafft es Belpois sogar beim eigentlich löblichen Versuch, die festgefahrene männlich/weiblich Struktur ihres Textes zu durchbrechen, diese gleichzeitig wieder zu bestätigen. Konkret zeigt sich das am einzigen Homosexuellen im Dorf, Lope, der, lächerlicherweise, natürlich eine Schwäche für die Farbe Pink hat.

Unterbrochen wird die Ich-Perspektive Tomás’ durch vier kursiv hervorgehobene Wechsel zur Frauenfigur Suiza. Diese Inkonsequenz im Erzählverhalten wirkt unsinnig und ist offensichtlich der Tatsache geschuldet, dass man ohne sie kaum etwas über ihre Persönlichkeit und Biografie erfahren würde, denn der männliche Blick Tomás’ beschränkt sich auf nackte Oberflächlichkeit. Allerdings deckt dieser Wechsel in der Perspektive auch das größte Problem des gesamten Textes auf, nämlich die Figur der Suiza selbst. Die Frau, welche eigentlich Sylviane heißt, ist nicht nur schwer greifbar, und das nicht im Sinne eines postmodernen Romanhelden, sondern dahingehend, dass man sich als LeserIn fragt, ob Suiza eine geistige Beeinträchtigung hat. Ihre offensichtliche kognitive Einschränkung zeigt sich beispielsweise im Umgang mit Zahlen – einfachste mathematische Alltagsprobleme bereiten ihr Schwierigkeiten. Suizas Alter wird im Buch nicht genannt. Ob man es hier im schlimmsten Falle also sogar mit einer pädophilen Beziehung zu tun hat, bleibt der Text einem unverständlicherweise schuldig.

In Suizas Einschüben wechselt die Sprache ins kindlich Einfache und man erfährt im ersten (und längsten) der vier Abschnitte, ihren Namen und die Gründe und Umstände ihrer Reise nach Galizien: Die Sehnsucht zum Meer und Lkw-Fahrer, mit denen sie „Liebe“ auf dem Rücksitz gemacht hat. Das Wort „Vergewaltigung“ fällt dabei kein einziges Mal. Dieser Umgang mit sexueller Gewalt wird im Buch nie direkt problematisiert. Grund dafür ist, dass sie meistens aus der Perspektive Suizas erzählt werden und somit keine kritische Reflektion stattfindet. Dadurch verschließt sich der Text der Auseinandersetzung mit sexuellem Missbrauch, wodurch das „Liebe machen“ auf dem Rücksitz dann zwar keine explizite Vergewaltigung darstellt, aber die Konstellation erwachsener LKW-Fahrer und junges (und vor allem kognitiv eingeschränktes) Mädchen dennoch eine ungleiche Machtdynamik darstellt und deshalb eine sensiblere Behandlung verdient hätte. Wer will, kann eine Korrelation zwischen ihrer bedingungslosen sexuellen „Hingabe“ und ihrer im zweiten Einschub als Ich-Erzählerin geäußerten Verlustangst erkennen und damit eine indirekte Kritik an den sexuellen Verhältnissen des Textes. Tomás solle sie „behalten“, sagt sie dort, dafür müsse sie eine gute Hausfrau sein, das habe sie im Waisenhaus gelernt. Anfangs will man in Suizas Verhalten noch eine Kritik an der Erziehung junger Mädchen in Institutionen wie Waisenhäusern erkennen, doch im Laufe des Textes wird klar, dass die Kommunikation der beiden Figuren (Suiza spricht kaum Spanisch) nur auf Grundlage dieses alten Rollenbilds überhaupt funktioniert. Die Verständigung Tomás’ und Suizas läuft nach dem Schema: Du Frau, ich Mann.

Nachdem Tomás mit ihr ans Meer fährt, scheint Suiza tatsächlich etwas wie Liebe für ihn zu empfinden und kocht und backt fleißig im heimischen Galizien. Der Text will einem weißmachen, wie rührend es doch ist, dass Tomás der erste ist, der sich um sie kümmert und ihre Wünsche erfüllt. Dabei fußt ihre Beziehung weniger auf Liebe als auf schierer Verlustangst. Tomás weiß, dass er stirbt und Suizas „unendliche Hingabe“, wie es im Klappentext heißt, mit der sie sich um seinen Haushalt kümmert, gründet nicht im Wissen um seine Krebsdiagnose, sondern in ihrer Angst vor dem Alleinsein. Sie verliert im Laufe des Buches keinen Satz über seine Erkrankung.

Hingabe schafft es tatsächlich, einen glaubhaften und nachvollziehbaren psychologischen Verfall zu schildern. Dennoch überwiegen nach der Lektüre die unangenehmen Leseeindrücke. Es ist der stumpfe, harte Unterdrückersex und die fragwürdige junge Frauenfigur, die „Quelle der Lebenskraft“, die jegliche aufkommende Erotik und Intimität im Keim ersticken. Mit tatsächlicher „Hingabe“ hat dieser Roman wenig zu tun.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2022 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2022 erscheinen.

Titelbild

Bénédicte Belpois: Hingabe.
Aus dem Französischen von Eva Scharenberg.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
256 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783103900040

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