Die Lasten der Vergangenheit

Auch in „Der Sturm“, dem vierten Thriller der australischen Autorin Jane Harper, spielt die Natur wieder eine wichtige Rolle

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwölf Jahre  ist es her, dass ein verheerender Sturm die südtasmanische Küstenstadt Evelyn Bay verwüstete. Zwei junge Männer mussten damals sterben, als ihr Boot beim Versuch, einen Menschen zu retten, kenterte. Auch ein 14-jähriges Mädchen, Gabby Birch, verschwand an jenem Tag vom Strand und tauchte nie mehr auf. Allein ihr angeschwemmter Rucksack wurde gefunden, so dass man annahm, sie wäre in der aufgewühlten See ertrunken. Kieran Elliott  fühlt sich seit der Naturkatastrophe schuldig. Sein leichtsinniges Verhalten führte damals dazu, dass sein älterer Bruder Finn und dessen Freund Toby wider besseres Wissen hinausfuhren und umkamen. Viele ließen Kieran fortan spüren, dass sie genauso dachten wie er, darunter seine Eltern – für die Finn ohnehin immer der bessere Sohn gewesen zu sein schien –  und Tobys Sohn Liam Gilroy, für den Kieran auch mehr als ein Jahrzehnt später noch ein Mörder ist.

Zurückzukehren an die Orte, an denen man seine Jugendzeit verbrachte, und zu jenen Menschen, mit denen der Kontakt seit damals nie ganz abriss, ist deshalb für Kieran nicht leicht. Er ist inzwischen mit einem Mädchen aus dem Ort liiert, Mia, damals die beste Freundin jener in der Sturmnacht verschwundenen Gabby. Er traf sie  beim Studium in Sydney wieder und hat  inzwischen mit ihr eine kleine Tochter. Nach Evelyn Beach ist die kleine Familie gekommen, weil Kierans dementer Vater in eine Pflegeeinrichtung umziehen muss und die Mutter sich in deren Nähe eine kleine Wohnung gesucht hat. Nun will man den Eltern beim Umzug helfen.

Doch schon am ersten Morgen nach ihrer Ankunft wird am Strand die Leiche der Kunststudentin Bronte Laidler gefunden. Sie hat den Sommer als Aushilfskellnerin in einem örtlichen Lokal verbracht, sich mit Gabbys großer Schwester Olivia Birch ein Strandhaus geteilt und die Aufmerksamkeit gleich mehrerer Männer auf sich gezogen. Nun untersuchen Kriminalpolizisten aus aus der tasmanischen Hauptstadt, die zur Unterstützung der kleinen, vor ihrer Schließung stehenden Polizeistation von Evelyn Bay angereist sind, das Tötungsverbrechen und finden schnell Hinweise auf Verbindungen zu den tragischen Ereignissen von vor zwölf Jahren.

Die seit ihrer Kindheit in Australien lebende, in Manchester geborene Autorin und Journalistin Jane Harper (Jahrgang 1980) versteht ihr Handwerk aufs Beste. Nahezu unbemerkt bauen ihre Thriller Spannung auf, legen feine Spuren, die sie schnell wieder verwischen, setzen auf Psychologie, Figurenzeichnung und großartige Landschaftsbilder statt auf Action. So finden sich die Lesenden in der Regel schon nach wenigen Seiten in einem Geflecht von menschlichen Beziehungen wieder, das auf den ersten Blick ganz einfach ist, sich dann aber von Kapitel zu Kapitel verkompliziert.

Auch Der Sturm spielt mit einem guten Dutzend von Figuren, die damals, als Gabby Birch vor zwölf Jahren verschwand, wie auch in der Gegenwart, als man die brutal ermordete Bronte Laidler just an der Stelle gefunden hat, wo Gabby zum letzten Mal gesehen wurde, vor Ort waren bzw. sind. Dazu gehört die Clique um Gabbys Schwester, zu der auch Kieran zählt, der in dem Jahrhundertsturm fast sein Leben lassen musste und aus dessen Perspektive der Roman erzählt wird. Aber  auch ein ominöser Kriminalschriftsteller, der nicht bei allen im Ort beliebt ist, und Kierans Vater, damals Sportlehrer an der Schule der Kids und einer der Letzten, die mit Gabby Birch gesprochen hatten, heute ein durch seine Demenzerkrankung verwirrter alter Mann, der gelegentlich unbemerkt sein Haus verlässt und am nahe gelegenen Strand herumirrt, tragen einiges dazu bei, damit die Lesenden sie den Verdächtigen zurechnen. Wie die Autorin das Rätsel um die beiden Tode schließlich löst, ist schriftstellerisch gekonnt und so tragisch wie überraschend zugleich.

Wer Jane Harpers Schriftstellerkarriere von Anfang an verfolgt hat, weiß dass die Natur von jeher eine große Rolle in ihren Büchern spielt. In Force of Nature (deutsch Ins Dunkel, 2018) ist es der australische Busch, in The Lost Man (deutsch Zu Staub, 2021) die Einsamkeit und Weite des Outbacks im Nordenosten des fünften Kontinents, die ihren Geschichten als Hintergrund dienen und den jeweiligen Helden alles abverlangen. Als Schauplatz ihres neuen Romans fungiert nun Tasmanien, die dem australischen Festland im Süden vorgelagerte Insel. Und erzählt von zwei im Abstand von zwölf Jahren ermordet am Strand gefundenen Mädchen, einer kleinen Stadt, in der ein dunkles Geheimnis darauf wartet, gelüftet zu werden, und einem Jahrhundertsturm, nach dem nur scheinbar wieder Ruhe und Frieden Einzug in die Gemeinde hielten.

Die Erinnerung an das Naturereignis, das Menschenleben kostete und eine „dunkle Zeit der Schuldvorwürfe und Abrechnungen“ einläutete, ist auch ein Dutzend Jahre später noch höchst lebendig. Denn alle, die damals vom Unglück der beiden jungen Männer und dem Verschwinden eines Mädchens betroffen waren, sind wieder da, wenn erneut der Tod einer jungen Frau die Stadt erschüttert. Sie sind Überlebende der Ereignisse rund um den schweren Sturm – The Survivors (die Überlebenden) heißt im Übrigen, sich auf eine Figurengruppe am Strand beziehend, die an einen tragischen Schiffbruch vor hundert Jahren erinnern soll, der englische Originaltitel von Jane Harpers Roman. Und wie bei allen Überlebenden egal welcher Katastrophe ist auch das weitere Leben von Harpers Figuren geprägt von dem zurückliegenden Ereignis. Man stellt sich Fragen nach der eigenen Schuld und rekonstruiert immer wieder in Gedanken das Geschehene. Sich von dem Vergangenen endgültig zu befreien, will freilich auch dann nicht gelingen, wenn das Rätsel um die beiden Mädchen schließlich gelöst ist.   

Titelbild

Jane Harper: Der Sturm.
Aus dem Englischen von Matthias Frings.
Rütten & Loening Verlag, Berlin 2022.
396 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783352009686

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch