Ein Liebhaber der Literatur

Peter Demetz schreibt in „Was wir wiederlesen wollen“ über Facetten der Erzählkunst

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 21. Oktober 2022 begeht Peter Demetz seinen 100. Geburtstag. In den Sphären der Literatur, Kunst und Kritik hat er unverkennbare und ebenso unverwechselbare Spuren hinterlassen, sensibel, doch auch energisch und souverän, als gebürtiger Prager besonders auch mit den Schattierungen aus Franz Kafkas Werken vertraut. Die literargeschichtlich wie literarturkritischen Beiträge, die in einem Zeitraum von fünfzig Jahren, von 1960 bis 2010, überwiegend in Die ZEIT und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht wurden, sind nun zusammengeführt worden in einem durchaus weiträumig angelegten Band, der sachgerecht den Blick für die – nicht despektierlich, sondern anerkennend gemeint – essayistische Kleinkunst dieses sehr besonderen Literaten neu öffnet und zur Lektüre einlädt.

Die Herausgeberin Meike G. Werner nennt Peter Demetz einen „überragenden Stilisten“, dessen „Kritiken nicht nur von etwas Geformten handeln, sondern selbst etwas Geformtes sind“. Der Autor erhebe die „Kritik zur Kunst“. Dabei bleibt er doch ein behutsamer Literaturkritiker, zugleich wissend, dass die Kritik nicht der Literatur vorgeordnet und der Kritiker mitnichten zum Schulmeister bestellt ist, ebenso wenig jene, die literarisch schreiben, zu irgendeiner Form der Vormundschaft für das Lesepublikum bestellt sind. Wer schreibt, provoziert auch, beobachtet aber zunächst, führt zusammen, unterscheidet und teilt Begebnisse mit, spricht mitunter oder beständig auch von sich selbst. Fraglich erscheint, ob Demetz wirklich „oft polemisch“ auftritt, wie die Herausgeberin denkt, und nicht eher wie ein Liebhaber der Literatur, der ganz gewiss die „Kunst des genauen Lesens“ beherrscht und über den Mangel an Präzision verstimmt ist. Auch über fragwürdige Stilisierung denkt er skeptisch nach. Anlässlich eines Buches über Thomas Mann, indem dieser zum „klarsten politischen Denker“ erhoben werden soll, erkennt Demetz „sonderbare Abwege“, denn die „wechselvollen politischen Erwägungen“ Manns taugten nicht dazu, den „Magier der Nuancen“ zu einem „politischem Denker substanzhafter Unterscheidungskunst“ zu stilisieren. Wer behaupte, dass Thomas Mann „immer recht“ habe, werde ihm nicht gerecht. Zwar habe er den „Vormarsch der faschistischen Inhumanität mit seismographischer Sensibilität“ verzeichnet, aber den „Offensiven der kommunistischen Inhumanität immer nur den blinden Fleck seiner reizempfindlichen Netzhaut zugekehrt“. Mit „ästhetisch reizvollen Kategorien“ sei der „politischen Wirklichkeit“ nicht beizukommen – und für Peter Demetz bleibt vieles, was Thomas Mann öffentlich vortrug und publizierte, doch sehr dem 19. Jahrhundert zugehörig. In manchem äußerte er sich hellsichtig, in anderem blieb er unscharf, und für die bedrängte Lage der Menschen im Stalinismus war er nahezu blind, seine Lobredner indessen waren dies noch mehr. Ähnliches zeigt sich, wenn Demetz über Peter Weiss nachsinnt, der in „artistischen Fragen“ sehr kundig sei und von sich selbst erzähle,

als ob er Kafka wäre, der über K. spricht, und diese Beschränkungen der Erzählperspektive, die uns niemals gestattet, über die Nasenspitze des Subjektes fortzublicken, konstituiert zuallererst jene Denk- und Sprachsperren, die der parteiliche Autor gar nicht zu überschreiten wünscht[.]

So korrespondieren „scharfsinnige Analysen“ mit „Scheuklappen“, wenn von den radikalen Linken gesprochen wird:

[…] man klagt übe die mangelnde Zusammenarbeit zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten vor Dreiunddreißig, aber keiner erinnert sich daran, wie oft die Kommunisten mit den Nazis zusammen gegen die Sozialdemokratie, ihren Hauptfeind, im Reichstage stimmten; bohrende Gewissensbisse, unruhiges Schweigen, fortgesetzte Spekulationen über das Schicksal jener Parteifunktionäre, die den Moskauer Prozessen zum Opfer fallen, aber nicht ein einziges Wort über die toten Sozialrevolutionäre, Menschewiken oder gar ukrainischen Bauern, die am Wege der Partei liegen.

Lobend sodann, mit sichtbarer Zuneigung, schreibt Demetz über Wolfgang Koeppen, „einst der Verfemte“, heute wiederum kaum beachtet, zuweilen der „hochaktuelle Autor, der die Machinationen der konservativen Macht mitleidlos entblößte“. Manche seien in den 1970er-Jahren dabei, „ihm übel anzukreiden“, dass er den Faschismus nicht ökonomisch analysiert habe, „so sprechen besonders jene, die ihre wirtschaftsgeschichtlichen Informationen aus dem Studium der politischen Dialektik beziehen“. Peter Demetz charakterisiert Koeppen als auf gewisse Weise verloren gegangenen Autor, der über traurige Menschen schreibt, zögernd, in keinem System heimisch, aber darum wissend, „daß die Gesellschaft nicht nur aus Institutionen, sondern auch aus Menschen besteht, und daß wir der täglichen Einsicht bedürfen, wie Menschen miteinander leben und wie sie nacheinander verlangen“: „Die ökonomisch orientierte Literaturkritik ist ja längst zu Orthodoxie und Tradition erstarrt, und der junge Koeppen … ist wieder der ungealterte, der quicklebendige Avantgardist.“ So formuliert Demetz 1976, an das frühe literarische Werk Wolfgang Koeppens erinnernd, der über Menschen schreibt, die einander suchen, lieben oder lieben möchten und nicht alles, vor allem nicht Wesentliches, nur politisch oder ökonomisch erklären will. Trotzig und entschlossen verteidigt hier Peter Demetz Literatur gegen die Vereinnahmungen des politischen Zeitgeschmacks damals, aber – auch das gehört zu diesem Literaturkritiker – zugleich lobt er den Schriftsteller Karl Marx. Zwar grenzt er sich ab von den „neuen Theorie-Kaskaden“ der Marxisten. Anlässlich eines Bandes des Oxforder Komparatisten S. S. Prawer schreibt Demetz:

In der chronologischen Perspektive werden aber auch Konstanten und Wandlungen. Deutlicher sichtbar: Marx als eigentlich konservativer Leser, der sich bei den Klassikern der Antike und der Weltliteratur heimischer fühlte als bei den Autoren der eigenen Epoche (Ausnahme: Heine); seine wachsende Abneigung gegen romantische Rhetorik (auch im eigenen Stil); sein äußerst sparsamer Gebrauch der Widerspiegelungsmetaphern (Philosophie und Sprache ‚spiegeln wider‘, nicht die Literatur). … Marx ist, als Analytiker unserer gesellschaftlichen Erfahrungen und als deutscher Schriftsteller, viel zu bedeutend, um ihn ganz den Marxisten zu überlassen.

Von Franz Kafka spricht Peter Demetz oft, aber doch anders als „Hunderte von klugen Kafka-Kommentatoren“, die „über seine metaphysischen Symbolsysteme oder über seine weltliterarisch erotischen Institutionen schreiben“. Auch viele, die Kafkas Prosa im Deutschunterricht kennenlernen durften oder mussten, sind dieser Zugangsweisen so müde, einigen blieb sodann der Blick auf Kafkas Welt auch verstellt und versperrt oder, anders vielleicht, diese Leserinnen und Leser trollten sich und lasen Kafka dann nicht mehr oder nicht gern. Demetz macht auf die lyrischen Momente aufmerksam: „Einer, der an der Quaderbrüstung lehnt und in das Abendwasser schaut, die Hände auf einem Stein.“ Dieser „Moment der Ruhe, der unbewegten physiologischen Gegenwart“ bleibt, „allen Romanen zum Trotz“. Ja, Kafka besaß ein „grenzenloses Talent, unglücklich zu sein“, aber in Sätzen wie diesen sei der ganz so, „wie er sich selbst sehen wollte“:

Hier, auf der Karlsbrücke, war er plötzlich mein Prager Gefährte, Mitbürger, Nachbar, Schulfreund. … Dieser eine Satz genügt mir jedenfalls, um Kafka aus der Nähe zu lesen, denn ich habe selber gelernt, was das heißt: ‚die Hände auf alten Steinen‘ ruhen zu lassen.

Peter Demetz verzichtet auf jede klügelnde Interpretation, Ausdeutung, Einordnung oder philosophische Erwägung. Die karge Beschreibung genügt, und es genügt auch, sie einfach zu wiederholen, wieder zu lesen und nachklingen zu lassen. So wie Demetz für solche Sätze dankbar ist, so dankbar sind Leserinnen und Leser heute für seine klugen, wahrhaft kunstvoll komponierten literarischen Essays, die in diesem Band gesammelt sind und erstmals oder auch nach langer Zeit wieder und neu gelesen werden dürfen.

Titelbild

Peter Demetz: Was wir wiederlesen wollen. Literarische Essays 1960-2010.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022.
320 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783835352186

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