Das zu hoch dosierte Leben

In seiner Novelle „Gewittergäste“ führt Dirk von Petersdorff Ost und West, Gegenwart und Vergangenheit zusammen

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An einer Stelle heißt es von einer der Figuren, die in Dirk von Petersdorffs neuem Prosatext zusammengeführt werden: „[Er] hatte sie noch nie so reden gehört, wie eine Figur in einem Theaterstück […].“ Tatsächlich kann man sich das erzählte Geschehen, im Kern ein geselliger Abend im Hochsommer, auf der Bühne vorstellen – noch besser jedoch als Fernsehspiel, das einen weiteren Mitspieler, das heftige nächtliche Unwetter, besser in Szene setzen könnte als eine Bühnenfassung.

Es ist ein Tag in einem wieder einmal viel zu heißen, viel zu trockenen Sommer. Die Eheleute Friedrich und Jenny, die eine Doppelhaushälfte bewohnen und zusammen zwei Söhne haben, erwarten Gäste zum Abendessen. Während das Paar vor längerer Zeit aus Westdeutschland in eine mittelgroße Stadt im Osten gezogen ist, sind Jennys Berufskollege Rolf und seine Frau Beate waschechte „Ossis“ aus Brandenburg. Man kennt sich nicht sehr gut, Rolf hat sich mehr oder weniger selbst eingeladen. Als fünften Gast hat Friedrich die in Düsseldorf lebende Tine hinzugebeten, eine Freundin aus seiner Jugendzeit, die gerade zufällig in der Gegend ist.

Während Jenny mit der Vorbereitung des Essens beschäftigt ist, macht sie sich Gedanken über den möglichen Ablauf des Abends, dem sie mit gemischten Gefühlen entgegensieht. Sie ist, wie man beiläufig erfährt, Mitglied der Grünen, allerdings ein passives, während Rolf politisch offenbar eher rechts orientiert ist. Die Einladung an Tine irritiert sie, aber sie beschließt, sich von möglicherweise entstehenden „Eifersüchteleien“ nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.

Zufällig findet sie in einer Schublade ein altes Chemie-Arbeitsblatt ihres Sohnes, auf dem steht: „Es gilt: Ziel aller Elemente ist es, eine stabile Elektronenkonfiguration zu erreichen.“ Wieder, wie in Petersdorffs 2018 erschienenem Roman Wie bin ich denn hierhergekommen, wird die Assoziation an Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften geweckt, in dem ebenfalls menschliche Beziehungen mit dem Bindungsverhalten chemischer Elemente parallelisiert wurden.

Die Fünferkonstellation erscheint Jenny prekär. Da am Tisch noch ein sechster Stuhl steht, überlegt sie, ob sie, im Sinne der Symmetrie, eine sechste Person einladen solle, verzichtet aber darauf. Der sechste Stuhl wird im Verlauf des Abends von mehr oder weniger zufällig hinzukommenden Personen besetzt werden. Ihr Erscheinen sorgt für Überraschungen, gibt dem Geschehen aber keine grundsätzlich neue Wendung. Die ergibt sich eher aus dem Wetter, einem heftigen Sturm, dem ein ungewöhnlich starkes Gewitter folgt.

Zur Gattungsbezeichnung „Novelle“ drängt sich eine zweite Erinnerung an Goethe auf, der diese Prosaform als „eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“ definierte. Im Wort „Novelle“ steckt das lateinische Adjektiv „novus“, neu. Das mögliche Neue, Unerhörte bereitet Petersdorff gut vor: Aus der Ost-West-Begegnung könnten Konflikte entstehen, die aus dem Ruder laufen; Friedrichs Konfrontation mit seiner Vergangenheit könnte alte Gefühle aufrühren und die gegenwärtig stabile Beziehung zu seiner Frau gefährden; auch das Unwetter kündigt sich in der drückenden Schwüle der Luft bereits an.

Tatsächlich entwickelt sich der Abend zunächst erwartungsgemäß brisant. Rolf und Beate erscheinen etwas zu früh, sodass die Gastgeber gestresst sind. Über einige Reizthemen wird gesprochen: die benachteiligten oder sich so fühlenden Ostler, die immer meckern, die Syrer, für die angeblich immer Geld da ist, während in der ostdeutschen Provinz die Ärzte fehlen, die Erfolge der DDR im Sport, die aber vor allem auf Doping gegründet seien und so weiter. Jedoch zum Eklat kommt es nie. Beate versteht es, ihren Rolf zu zähmen: „Ruhig, Großer‘, sagte Beate und legte ihm die Hand auf den Unterarm, setz dich wieder hin, nicht provozieren lassen, das hast du gelernt.‘“ Jenny ist verunsichert und Friedrich viel zu sehr mit Erinnerungen an die Zeit vor dreißig Jahren beschäftigt, als dass er engagiert diskutieren könnte. Zudem taucht immer, wenn die Situation zu kippen droht, eine Figur auf, die die Zuspitzung verhindert, des Öfteren vor allem der kleine Sohn Paul, der nicht schlafen kann.

Selbst der syrische Pizzabote, der sich in der Tür geirrt hat, lässt sich von Rolf nicht provozieren, sondern verblüfft die Runde durch kluge, schlagfertige Repliken und überrascht nebenbei die Eltern mit der Information, dass Georg das Klassenziel verfehlt hat. Als Georg, der vorzeitig eine Party verlassen hat, plötzlich auftaucht, muss er das kleinlaut zugeben („Mama, ich bin lost“), wird aber dadurch entlastet, dass Beate in die Stille hinein sagt: „Unsere Ruth hat auch verkackt.“

So ist es vor allem das Wetter, das für Aufruhr sorgt. Vor dem Gewitter kommt ein heftiger Sturm auf. Durch einen herabfallenden Ast wird Tines roter Mini, den sie sich selbst „wochenlang zusammenkonfiguriert“ hat, stark beschädigt. Während sie und Friedrich, den sie „Freddy“ nennt, sich den Schaden besehen, erinnert sie ihn an eine gemeinsame traumhafte Autofahrt in den Süden, an die unbeschwerte, in die Zukunft offene Jugendzeit, aus der sie anders herausgekommen ist als er: Er hat Familie und ein Haus, das er noch lange abbezahlen wird, weshalb sie ihn einen „Knecht“ nennt. Sie dagegen ist noch immer nicht richtig angekommen, nach der Liebesgeschichte mit Freddy ist eine weitere Beziehung gescheitert, sie bewegt sich ohne festes Ziel durch das Leben und kann den Erwartungen der anderen an sie nicht entsprechen.

Dies ist der Höhepunkt der Novelle, auch wenn dann noch spektakuläre Dinge passieren, die etwas aufgepfropft wirken. Als das Gewitter mit sehr starkem Regen losbricht, erscheint der ehemalige Soldat der Sowjetarmee Sergej, von dem bereits öfter gesprochen wurde, als sei er eine Legendenfigur. Er habe, heißt es, damals vor dreißig Jahren bei einem Desertionsversuch seinen Kameraden verloren, der erschossen worden sei. Seitdem komme er jedes Jahr in der alten Uniform hierher, um seiner zu gedenken. Nun sitzt er auf dem sechsten Stuhl, und Rolf, der in der DDR acht Jahre Russisch gelernt hat, übersetzt seine Reden.

Dann hört man Hubschrauber in Richtung Osten fliegen, amerikanische auf dem Weg zu einem NATO-Manöver, wie sich herausstellt. Den letzten trifft ein Blitz, die Piloten können sich nach einer Notladung retten, und die beiden US-Soldaten stehen irritiert einem Sowjetsoldaten in Uniform gegenüber. Im Reflex greift der eine an die Seite, „als müsse er eine Waffe packen“, aber Georg entschärft die Situation mit den Worten: „Itʼs just a game.“

Wie ist nun diese Geschichte zu deuten? Was ist das zentrale Motiv, der „Falke“, der nach Paul Heyse eine Novelle zusammenhält? Ist es das – sehr anschaulich geschilderte – Unwetter, das aus einer ganz alltäglichen Abendgesellschaft „Gewittergäste“ macht? Rolf zählt am Ende alle auf, die an dem Ort zusammengetroffen sind, und kommt zu dem Schluss: „In diesem Deutschland ist nichts mehr normal.“

Eher scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Das Unnormale, Nicht-Alltägliche verdankt sich der Konstruktion, in die einiges hineinpraktiziert wurde, das zwar empirisch möglich ist, aber am Rand des Wahrscheinlichen liegt. Blendet man das aus, geschieht wenig Spektakuläres. Die Ost-West-Spannung ist noch da, pendelt sich aber in mittlerer Lage ein und wird vielleicht bald verschwinden. Die mittlere Generation, die bereits das Alter kommen sieht, hat sich mehr oder weniger gut eingerichtet, ist sich aber ihrer selbst nicht vollständig sicher, was ja kein Wunder ist. Wer wäre das schon jemals, in welcher Lebensphase auch immer, abgesehen von der Kindheit? Die Euphorie aus der Jugendzeit hat sich jedenfalls gelegt, „der alte Schwung ist hin“, wie einst Werner Enke sagte. Eine zentrale Aussage zum Lebensgefühl dieser Generation findet sich in einem inneren Monolog Jennys: „Das Leben verlief nicht verkehrt, keineswegs, vielleicht sogar genau richtig, aber es war zu hoch dosiert. Zu viel Wollen oder Sollen und das eine vom anderen nicht zu unterscheiden.“

Überraschend ist der immer noch nicht verklungene Nachhall einer fernen Zeit, der alle zusammenbringt und von einem ganz Jungen, nämlich Georg, wachgehalten wird: Zur Gitarre spielt und singt er „All Along the Watchtower“ von Bob Dylan, berühmt geworden durch Jimmy Hendrix, und alle gemeinsam, zusammen mit Sergej, singen sie den Love-and-Peace-Song „Universal Soldier“, den Donovan zu einem Welthit machte. Sogar der DDR-sozialisierte Rolf singt mit und ist gerührt.

In seinem neuen Buch erzählt der vor allem als Lyriker bekannt gewordene Dirk von Petersdorff eine unterhaltsame, abwechslungsreiche Geschichte, die ganz unterschiedliche Fragen aufwirft, ohne allzu sehr in die Tiefe zu gehen.

Titelbild

Dirk von Petersdorff: Gewittergäste. Novelle.
Verlag C.H.Beck, München 2022.
123 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783406792281

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