Eine Naturkatastrophe und ihre weltweiten Folgen

Timo Feldhaus erzählt in „Mary Shelleys Zimmer“, wie ein Vulkanausbruch in Indonesien die Welt erschüttert

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1816 gilt bekanntermaßen als das „Jahr ohne Sommer“. Viele verbinden mit diesem Jahr auch die sagenumwobene Gemeinschaft von Percy Shelley, seiner späteren Ehefrau Mary, ihrer Halbschwester Claire sowie dem Dichter Lord Byron und dessen Leibarzt John Polidori. Die illustre Runde versammelte sich in der Nähe des Genfersees in Lord Byrons Villa Diodati. Wegen des nicht enden wollenden Regens ließen sich die Literaturaffinen auf einen literarischen Wettstreit ein und einigten sich auf eine Schauergeschichte, die sie schreiben und schließlich vortragen sollten. Literaturhistorisch ist dieser Moment durchaus von Bedeutung: Mary Shelley erschuf ihren Frankenstein und John Polidori legte den Grundstein für seine erste, aber weniger bekannte Erzählung Der Vampyr, in der ein aristokratischer Blutsauger sein Unwesen treibt – Jahrzehnte, bevor Bram Stoker 1897 seinem adeligen Dracula Kontur verleihen würde.

Timo Feldhaus erzählt in Mary Shelleys Zimmer. Als 1816 ein Vulkan die Erde verdunkelte von ebendieser Begegnung, weitaus mehr. Denn nicht nur die Schriftstellerin Mary Shelley, sondern auch verschiedenste andere Persönlichkeiten werden zu literarischen Figuren geformt, darunter Johann Wolfgang von Goethe, Caspar David Friedrich, Friedrich Ludwig Jahn oder Napoleon. Sie alle vereinen die spürbaren Folgen des heftigen Ausbruchs des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa in Indonesien.

Die verheerende Naturkatastrophe selbst geschah bereits im April 1815 und bildet den Ausgangspunkt der Geschehnisse in Timo Feldhaus Sachbuch. Mit jedem Kapitel wechselt der Autor den Schauplatz. Während in den ersten Kapiteln noch London (Mary Godwin, später Shelley) und Weimar (Goethe) das Setting bilden, legt Feldhaus später den Fokus auf Sumbawa, wo der schottische Forschungsreisende John Crawfurd unterwegs ist. Noch scheint der Vulkan friedlich zu sein, doch man ahnt, dass es unter der Oberfläche brodelt. Schon wenig später steigen Unmengen von vulkanischem Material in die Atmosphäre: „Innerhalb des nächsten Jahres breitete es sich über den ganzen Erdball aus. Dort stellte die graue Wolke sich dem Sonnenlicht in die Quere. Sie reflektierte das Licht zurück ins All, und die Erde kühlte ab.“ Was nach einem apokalyptischen Science-Fiction-Roman klingt, sind historische Fakten. Viel Regen und die Abkühlung der Nordhalbkugel zählten zu den Folgen des Vulkanausbruchs. Goethe etwa verfolgte die Theorie, dass die wachsenden Gletscher den Beginn einer neuen Eiszeit markierten.

In 38 Kapiteln entwirft Feldhaus ein Panorama der Jahre 1815 bis 1816. Mal implizit, mal explizit beleuchtet er die globalen Auswirkungen des Vulkanausbruchs, die große Teile der Welt in eine Krisenzeit stürzten. Die heftigen Niederschläge und niedrigen Temperaturen führten in Europa zu Missernten, Massenarbeitslosigkeit und Landflucht. Mit den historischen Persönlichkeiten, die Feldhaus als Protagonist*innen wie in einem Roman auftreten lässt, versucht der Autor den damaligen Zeitgeist einzufangen: Seien es die Gespräche zwischen Percy und Mary, Goethes Interesse an den Wolkenformationen oder Napoleons Gedankenspiele vor der Schlacht bei Waterloo. Innere Monologe, Dialoge und Begegnungen werden atmosphärisch fiktionalisiert und in kurzen Kapiteln dargeboten. Die Lektüre wird dadurch zwar abwechslungsreich, aber doch zu sprunghaft gestaltet. Gerne wäre man noch etwas länger mit Goethe durch Weimar spazieren gegangen oder hätte eine Weile in Caspar David Friedrichs Atelier verbracht. Wer ein reines Sachbuch erwartet, dürfte enttäuscht werden. Der Mehrwert des Buches liegt vielmehr im Zusammenspiel von faktenorientiertem Wissen, Originalzitaten und Fiktionalisierungen.

Es ist ein Vergnügen, Mary bei der literarischen Schöpfung ihres Frankensteins über die Schulter zu schauen. Umgetrieben von den Entwicklungen ihrer Zeit beschäftigt sich die angehende Autorin mit der noch geheimnisvoll anmutenden Kraft der Elektrizität. Sie sinniert darüber, ob diese Kraftwirkung Tote erwecken oder gar Leben erschaffen könnte. Vergleichbare Gedanken hatte auch E.T.A. Hoffmann, allerdings findet er trotz seiner Auseinandersetzungen etwa mit dem Magnetismus nur am Rande als Jurist Erwähnung. Feldhaus versäumt, das Potenzial eines namhaften Schriftstellers auszuschöpfen, hat Hoffmann doch 1816 die literaturgeschichtlich bedeutsame Erzählung Der Sandmann veröffentlicht.

Die inneren Monologe nicht nur Marys, sondern auch von Goethe oder Napoleon sind bereichernd und unterhaltsam. Dennoch tritt hie und da eine Erzählstimme des 21. Jahrhunderts hervor, die die meiste Zeit wohltuend abwesend, dann aber wieder auf aufdringliche Art und Weise allzu präsent ist und auf sprachlicher Ebene den Zeitgeist des 19. Jahrhunderts stört: „Goethe bedeutete sein Aussehen viel. Es fiel ihm wieder ein, als seine Augen, kurz bevor das Morgenlicht über die Wipfel brach, auf sein Spiegelbild im Fenster zoomten.“ Auch vom heutigen Klimawandel geprägte Kommentare wirken fehl am Platz:

Diese Kohle konnte Feuer machen, das nie endete. Das Feuer des Stahls und des Eisens, das die neuen Maschinen benötigten, es lag unter der Erde. Dass das Wunder der Steinkohle für die nun beginnende stärkste Klimaveränderung der Erdatmosphäre verantwortlich werden würde, weil sich durch das CO2, das bei der Verbrennung entsteht, der Lebensraum wie unter einer Glasglocke zerstörerisch aufheizt, das konnte sich in diesem Augenblick keiner vorstellen.

Selbst ohne diese Einschübe ist offensichtlich, wie die wachsende Industrialisierung des Jahres 1816 in den nächsten zweihundert Jahren das Klima verändern würde. Die explizit ausgeführten Kausalitäten wirken teilweise belehrend. Feldhaus hätte seinem Lesepublikum mehr zutrauen können. Insgesamt jedoch ist Mary Shelleys Zimmer ein lesenswertes und vor allem auf Unterhaltung ausgerichtetes Buch mit zahlreichen Parallelen zu unserer heutigen Zeit, in der wir uns der globalen Zusammenhänge und Krisen – anders als vor über zweihundert Jahren – bewusst sind.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Timo Feldhaus: Mary Shelleys Zimmer. Als 1816 ein Vulkan die Welt verdunkelte.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022.
320 Seiten, 26 EUR.
ISBN-13: 9783498002367

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