Wann endet die Kindheit?

Die kolumbianische Schriftstellerin Pilar Quintana gibt in ihrem Roman „Abgrund“ eine ebenso naheliegende wie verstörende Antwort

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die achtjährige Tochter trägt den gleichen Vornamen wie die Mutter, nämlich Claudia. Weshalb sich die beiden gerne mit „Namensschwester“ anreden. Natürlich macht der Altersunterschied sie zu ungleichen Schwestern. Auch ist ihr Verhältnis keineswegs schwesterlich, denn am Ende steht immer die elterliche Macht dazwischen. Ein Kind ist eben ein Kind. Doch mit acht Jahren kommt manches in Bewegung, zumindest wird dem Kind Claudia bewusst, wie rätselhaft diese undurchdringliche, seltsame Erwachsenenwelt eigentlich ist. Warum sind Erwachsene so mit all ihren Streitereien hinter verschlossenen Türen, mit ihrer Launenhaftigkeit, ihrer Heimlichtuerei? Was treibt sie dabei an? Und was findet Claudias Mutter an diesem komischen pomadigen Gonzalo? Claudia lernt schnell und viel, aber wirklich verstehen kann sie kaum etwas und nimmt es hin.

Pilar Quintana selbst äußert Bedenken, ob die Kindheit wirklich die glücklichste Zeit im Leben sei, wie es ein beliebtes Klischee zu wissen meint. Vielleicht mag das manchmal so sein und vielleicht verdrängen wir nur das Schlimme darin, blenden gewisse Erfahrungen einer vielfältigen, subtilen Gewalt in den Erinnerungen aus. Als Kind erfahren wir jedenfalls, dass die Erwachsenenwelt voller Widersprüche ist und es nie klar ist, ob das Gesagte auch das Gemeinte ist. Ganz abgesehen davon, dass Sagen und Handeln oft zweierlei sind. Und Kritik daran ist stets unerwünscht. „Als Kinder sind wir neugierige Entdecker und beobachten etwa Ameisen“, meint Quintana, „aber wir wachen auch in der schrecklichen Welt der Erwachsenen auf.“

Von genau diesem Erwachen handelt der Roman Abgrund – wobei der Roman hält, was der Titel verspricht. Da gehen einige Wege direkt an der Bruchkante entlang mit permanenter Absturzgefahr und die Autorin lässt uns mit Claudia spüren, wie Verlustängste die Wahrnehmungen und Gefühle des Mädchens zu beherrschen anfangen und steuern. Das ist unheimlich und eine Art schleichendes Gift wie in Henry James‘ The Turn of the Screw. Quintana gelang das literarisch so überzeugend, dass sie dafür 2021 den spanischen Literaturpreis Premio Alfaguara de Novela erhielt.

Die Familie wohnt in der kolumbianischen Millionenstadt Cali, südwestlich von Bogotá gelegen und ziemlich nahe an der Pazifikküste. Sie gehört zur wohlhabenden Mittelschicht und bewohnt eine Maisonette-Wohnung. Man leistet sich eine Hausangestellte, die jedoch nie lange bleibt, weil jede nur von oben herab behandelt wird. Soziale Kälte kann die Hausherrin besonders gut. Claudia ist es strikt verboten, sich mit der Hausangestellten anzufreunden oder mit ihr gar zu spielen. Sie ist ein sinnliches Kind und beschreibt uns ihre Wohnung als einen Urwald. Überall gibt es Pflanzen, die prächtig gedeihen („Ich liebte es, durch den Urwald zu laufen und zu spüren, wie mich die Pflanzen sanft berührten, mittendrin stehen zu bleiben, die Augen zu schließen und zu lauschen.“). Die Handlung versetzt uns in die 1980er Jahre.

Vor dem Haus stehen Trompetenbäume. Von dort fliegen die Vögel auf den Balkon und einige mutige, wie etwa die Kolibris, wagen sich bis ins Esszimmer vor. Claudia liebt das alles, aber in dieser Idylle gibt es auch etwas Beunruhigendes, Bedrohliches, nämlich die Treppe, die in der Wohnung in die obere Etage führt und wodurch ein Abgrund entsteht – „als wären die Stufen eine zerklüftete Felsschlucht“. Eine solche Felsschlucht spielt dann tatsächlich eine angsteinflößende Rolle, als die Familie in den Bergen um Cali eine Finca als Sommerfrische mietet.

Die Schöpferin dieses Urwalds ist ihre Mutter. Angefangen hat es mit einer Grünlilie aus dem Haus ihrer verstorbenen Eltern. Und weil sie die mickrige Pflanze wieder zum Ergrünen brachte, war sie darüber so beglückt, dass die Gärtnerei zu ihrem Hobby wurde. „Für mich waren die Pflanzen im Urwald immer die Toten meiner Mama“, verrät uns Claudia, „ihre auferstandenen Toten.“ Wir haben in dem Roman noch öfter die Gelegenheit, Claudia als Philosophin zu erleben, die zwar wie ein Kind naiv sein kann, aber gerne auch tiefe Gedanken von sich gibt. Auffällig, wie oft es um den Tod geht. Auch an Phantasie mangelt es ihr nicht, die die Puppen lebendig werden lässt und zum Sprechen bringt.

Pilar Quintana liefert dazu den üblichen Familienalltag mit ebenso üblichen Szenen einer Ehe, die einen eher drögen Alltag ergeben. Der Vater ist Geschäftsführer in einem Supermarkt, geht in seinem Beruf auf und macht nie Urlaub. Seine Frau ist 21 Jahre jünger und ist immer zu Hause. Als die Schwägerin einen jungen Mann namens Gonzalo heiratet, wird dieser ziemlich schnell zum Geliebten von Claudia. Sie werden entdeckt, die Ehekrise ist da. Irgendwann hat man sich wieder arrangiert und das Leben geht weiter. Dazwischen versinkt die Mutter in Phasen der totalen Apathie, fängt an zu trinken und flüchtet sich in die Krankheit. Hierbei ist ihr ein Heuschnupfen recht dienlich und sie verbringt Tag für Tag ihr Leben im Bett, liest Magazine und konfrontiert sich mit lauter mysteriösen toten Frauen: Nathalie Wood, Grace Kelly, Karen Carpenter und ihre Freundin Gloria Inés.

„Ich dachte an die toten Frauen. In einen Abgrund zu blicken, bedeutete, ihnen in die Augen zu sehen“, meldet sich die kleine Philosophin an einer Stelle zu Wort, um ihre Mutter zu fragen: „Mama, willst du leben?“ / „Stell nicht so dumme Fragen.“ Die Spannungen zwischen beiden bleiben, verwandeln sich mal in Angst, mal in Wut, mal in Anhänglichkeit und Neugierde. Am Ende gibt es einen kurzen Dialog mit einer Schulfreundin: „Meine Mama sagt, von allen Müttern in der Klasse ist deine die hübscheste und eleganteste.“ / „Wirklich?“ / „Eine perfekte Frau.“ Und als Claudia zu Hause ankommt, vertraut sie sich wutschnaubend der Haushälterin an und bekennt, sie hasse ihre Mutter. „Ich schubse sie die Treppe runter.“ / „Dann sage ich ihr die Wahrheit: Dass sie die schlechteste Mama der Welt ist.“

Doch dann gibt es wieder den Urwald: „Der Nachmittagswind wehte durch die offenen Fenster herein, der Urwald erwachte aus seiner Stille, und trotz meiner Mama feierte unsere Wohnung ein Fest.“

Zu loben bleibt eine ebenso flüssige, im Ton auffällig lakonische wie auch atmosphärisch dichte Übersetzung, die uns diesen seltsamen Haushalt mit einer kapriziös gleichgültigen Mutter, einem desinteressierten Vater, in dem die Tochter gelegentlich ein Monster entdeckt, und einem Kind, das sich mitunter in seinen Horror-Phantasien verfängt und philosophische Einsichten liefert.

Titelbild

Pilar Quintana: Abgrund.
Aus dem Spanischen von Mayela Gerhardt.
Aufbau Verlag, Berlin 2022.
256 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783351039684

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