Die Lust der ‚Jugošvabos‘ auf Deutschland

Im Roman „Jahre mit Martha“ fordert Martin Kordić Eingewanderte auf, unsichtbar zu werden

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Žejlko Draženko Kovačević, alias „Jimmy“, ist fünfzehn Jahre alt, als er bewusst anfängt, sich aus Zeitungen, die er aus dem Altpapiercontainer herausfischt, einen adäquaten Wortschatz zurechtzulegen, um irgendwann in der deutschen Gesellschaft anzukommen. Denn seine Eltern, kroatische Gastarbeiter:innen aus Bosnien-Herzegowina, hatten dies, trotz jahrelanger Schufterei, nie geschafft. Als Bauarbeiter und Hausmeister sowie Putzfrau im industriell geprägten Ludwigshafen sichern sie ihre Existenz mehr schlecht als recht. Damit es ihre drei Kinder mal besser haben, bemühen sie sich nirgends anzuecken, lassen sich in mehreren Jobs ausbeuten und vertrauen auf das Wohlwollen der Aufnahmegesellschaft: „Meine Mutter wollte“, fasst Jimmy die Beweggründe seiner Eltern für ihren stets vorauseilenden Gehorsam zusammen, „dass Frau Gruber aus Heidelberg dachte, wir seien gute Ausländer.“

Die titelgebende Martha, eigentlich Frau Professor Gruber, für die die Mutter in Heidelberg putzt, ist zum vierzigsten Geburtstag der Mutter eingeladen. Statt sie mit dem selbstgemachten Kuchen zu begeistern, kauft man für den deutschen Gast, um die Kenntnis der örtlichen Gepflogenheiten zu demonstrieren, eine (tiefgekühlte) Schwarzwälder Kirschtorte. Diese Freundschaftsgeste findet, laut Einschätzung von Jimmy, darin seine klischeehafte Entsprechung, dass die Professorin durch das Tragen eines Schlabberpullis beim Besuch ihrer Putzfrau ihr Entgegenkommen signalisiert. 

Martha Gruber dominiert fortan als roter Faden die Geschichte, da sie entscheidenden Einfluss auf das Leben des Ich-Erzählers nimmt. Während Jimmys Beziehung zu ihr sich in seiner Schulzeit noch weitestgehend in zugegebenermaßen erotisch aufgeladenen Spielchen erschöpft, werden die Begegnungen mit der wohlsituierten und selbstbewussten Frau in seiner Studienzeit trotz zumeist fehlender geografischer Nähe zunehmend intimer. Eine ungleiche Romanze, deren Beschreibung die Leser:innenschaft über die Intention der beiden lange im Ungefähren lässt. Ist die belesene Mäzenin mit der faszinierenden Bibliothek als Sinnbild des Klassenunterschieds der Schlüssel für den gewünschten Auf- und Einstieg in die Mittelschicht? Ist der junge „Ausländer“ mit den begrenzten Mitteln, aber Talent und Aufstiegswillen die sinnvolle Aufgabe in einem festgefahrenen Akademikerinnenalltag? Oder sind es zwei einsame und verzweifelte Menschen, wie der wiederholte intertextuelle Verweis auf Hertha Kräftner suggeriert? 

Neben dem Fremdwörterduden ist es nämlich der posthum veröffentlichte Nachlass der österreichischen Dichterin, die durch Selbsttötung mit dreiundzwanzig Jahren starb, der den jungen Studenten auf seinem durch Zeit, Gesellschaft und familiäre Umstände beschwerlichen Lebensweg begleitet. Zwar erreicht er den formalen Nachweis seiner Tauglichkeit für die Leistungsgesellschaft und wird zudem zum ersten Kovačević mit Hochschulabschluss, steht aber menschlich und beruflich dem eigenen Gefühl nach mit leeren Händen da. Entgegen der Empfehlung des Berufsberaters der Bundesagentur für Arbeit, der in ihm vor Jahren höchstens einen Gärtner sah und seinen Weg nur dementsprechend ebnen wollte, hat er studiert, doch sein Erfolg berührt ihn nicht. Mehr noch: Er findet sich in die ihm durch den Akademikerstatus gegebene gesellschaftliche Rolle nicht ein, hält seine gutbezahlte Arbeit in einer Unternehmensberatung für einen Bullshit-Job und resigniert. Der Begriff Traurigkeit beherrscht die zweite Hälfte des Romans und bildet den Auftakt zu einer dunklen Zeit. Von der (Selbst-)Sabotage ist es dann nicht mehr weit zum (versuchten) Abfackeln der Firma, das ihm seine Kündigung einbringt.

Die Verzweiflung führt Jimmy schließlich nach Hause, wo er zunächst illegal Autos in die Heimat der Eltern verschiebt und später doch den Gärtnerberuf erlernt, während sich seine Geschwister siegreich in der Mimikry der Eingewanderten üben. Sein Bruder hat eine Ausbildung zum Industriekaufmann bei der BASF abgeschlossen, durch Fernstudium einen Bachelor, danach einen Master in Wirtschaftswissenschaften gemacht und arbeitet an den Wochenenden an seiner Promotion. Durch Heirat wird aus dem „Ausländerkind“ Krunoslav Kovačević allmählich „Herr Dr. Fischer, deutscher Chef“. Das Scheitern ihres Kindes und Bruders wird von der Familie nicht thematisiert und der Strauchelnde vorbehaltlos aufgefangen.     

Jimmys Weg zu sich führt auch durch die Auseinandersetzung mit der kroatischen Community. Er engagiert sich als Jugendleiter im Fußballverein, bis der Zuzug der infolge des Bürgerkriegs geflüchteten Kroatinnen und Kroaten die Machtverhältnisse verändert. Die „anpassungsvernarrte“ Elterngeneration trifft auf eine unbedarfte und selbstbewusste Gruppe der Neuankömmlinge und die der Nationalistinnen und Nationalisten, die sich alle feindlich gegenüberstehen. Jimmys Aufruf „Werdet unsichtbar! Eine Leitkultur für den FC Croatia Vorderpfalz e.V.“ im Vereinsblatt, in dem er seinem Ärger über das Auftreten der Anderen ironisch freien Lauf lässt, führt zu seiner endgültigen Positionierung in Sachen Selbstbefragungen der Identität. „Die Deutschen“, die Kinder und Enkelkinder der Gastarbeiter:innen, irritiert die Selbstverständlichkeit, mit der (nicht nur) die Neuen in Deutschland ihre Herkunft vor sich hertragen und sich in ihren Meinungen radikaler gebärden als in ihrer Heimat. Er oszilliert zwischen einer aus seinem Deutschsein resultierenden „balkanesischen Verlorengegangenheit“ und einer Sehnsucht nach einem Zuhause, das es für ihn weder in Deutschland noch in Kroatien, wie für die anderen Diaspora-Kroatinnen und -Kroaten, gab. Oder wie er selbst satirisch-ironisch sagt: „[I]ch war für eine Zeit eine Jimmy-Kartoffel gewesen und für eine andere Zeit ein krimineller Jugo, ich hatte jedes Klischee bedient, von dem ich geglaubt hatte, es erfüllen zu müssen“.

Kordićs Ich-Erzähler verfolgt vor diesem Hintergrund ein doppeltes Ziel: Er möchte einerseits „dass wir uns mehr Geschichten erzählen […] über uns in diesem Land“, für die, „die wie ich Kinder sind von Eltern, die irgendwann einmal hierherkamen und sich an nichts festhielten als an ihren Körpern und an ihren Träumen“. Andererseits möchte er „die Irrwege [s]eines jungen Erwachsenenlebens in eine Dramaturgie sortieren […], die auf ein versöhnliches Ende zusteuern soll.“

Dieses Versprechen wird im Roman mit einer gewaltigen Themen-Fülle eingelöst, die sich von Kindheits- und Jugenderinnerungen, persönlichen Anekdötchen und zahlreichen Rekursen auf das Zeitgeschehen speist. Martin Kordić wirft dabei auch einen geschärften Blick auf die Vielschichtigkeit der deutschen Gesellschaft der letzten Jahrzehnte. Sein literarischer Umgang mit den postmigrantischen Umständen einschließlich schwieriger Gefühlslagen ist stark und humorvoll zugleich.

Titelbild

Martin Kordic: Jahre mit Martha.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2022.
288 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783103971637

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch