Literatur um des Lebens willen

Ein Kommentar zum Literaturnobelpreis an Annie Ernaux

Von Vanessa FrankeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Vanessa Franke

Noch nie zuvor haben sich so viele Menschen in meinem Umfeld über eine Nobelpreisvergabe gefreut. Schon letztes Jahr war die französische Schriftstellerin als Favoritin im Gespräch, dieses Jahr bekommt sie ihn, für Fans und Kritiker:innen gleichermaßen überraschend, tatsächlich: Annie Ernaux erhielt am 6. Oktober den Literaturnobelpreis „für ihren Mut und klinischen Scharfblick, mit denen sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Zwänge der persönlichen Erinnerung aufdeckt“, so die Begründung der Schwedischen Akademie.

Die Autorin trat während der Preisverleihung wie gewohnt bescheiden auf: Der Ständige Sekretär der Akademie Mats Malm verkündete, man habe Ernaux leider bisher nicht telefonisch erreichen können. Diese erklärt später, sie habe sich über das hartnäckige Klingeln des Telefons gewundert, war aber beschäftigt und habe nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet das Nobelpreiskomitee dahintersteckt. Schließlich hörte sie die Neuigkeiten über das Küchenradio. „Je suis très surprise, vous êtes sûr que je l’ai bien reçu ?“ („Ich bin sehr überrascht, sind Sie sicher, dass ich ihn bekommen habe?“), soll sie am Telefon nachgefragt haben. 

Betrachtet man den Lebensweg der 82-jährigen Schriftstellerin, ist ihre Verblüfftheit angesichts des renommiertesten internationalen Preises für Literatur, auch nach vielen Jahren des erfolgreichen Schaffens, nachvollziehbar. Geboren am 1. September 1940 in Lillebonne, wächst Annie Duchesne im Arbeitermilieu der grauen, erzkatholischen Kleinstadt Yvetot in der Normandie auf, wo ihre Eltern einen kleinen Lebensmittelladen mit Café führen. Vater und Mutter haben mit Zwölf die Schule verlassen, um in der Fabrik zu arbeiten. Ihre Abkehr von diesem Milieu durch das Literaturstudium in Rouen und Bordeaux wird zum treibenden Element ihrer autobiographischen Prosa. Nahezu alle ihre Bücher kreisen um das Thema der sozialen Herkunft und der damit verbundenen Scham, dem Schweigen, der Gewalt, der rohen Sprache, mit alledem sie aufwuchs: ob ihr Debütroman Les Armoires vides oder La Place von 1983 (dt. Der Platz) über ihren Vater, Une femme (Eine Frau) von 1987 über ihre Mutter, La Honte von 1997 über das titelgebende Gefühl der Scham bis hin zu ihrem chef-d‘œuvre Les Années (Die Jahre) von 2008, das sie international bekannt machte, oder dem vielbesprochenen Mémoire de fille (Erinnerung eines Mädchens) von 2017. Der dieses Jahr erschienene Film Les Années Super 8 (derzeit in der Arte-Mediathek), zusammen mit ihrem Sohn David Ernaux-Briot anhand alter Familienaufnahmen entwickelt, führt in audiovisueller Form fort, was Ernauxs Schaffen ausmacht: Eine ständige Betrachtung der persönlichen und kollektiven Vergangenheit, die wiederholte Bearbeitung spezifischer Schlüsselereignisse, um sie zu verstehen, aber auch um in ihr Spuren der Gegenwart zu finden. 

Es ist wohl auch ihrer Herkunft zuzuschreiben, dass Annie Ernaux – wie viele der Preisträger:innen vor ihr – eine politisch engagierte Schriftstellerin geworden ist. So unterstützte sie beispielsweise den Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon der linken Bewegung La France insoumise dieses Jahr beim Wahlkampf. Mélenchon verkündete dann wiederum auf Twitter, die Nachricht der Auszeichnung für Ernaux ließe ihn vor Freude weinen. Auch Emmanuel Macron gratulierte, was die Autorin aber eher kalt lassen dürfte, schrieb sie doch im März 2020 einen furiosen Brief an den Präsidenten, in dem sie vor allem den Abbau des Sozialsystems in Frankreich anprangerte und dabei deutliche Worte wählte: „Sachez, Monsieur le Président, que nous ne laisserons plus nous voler notre vie“ („Sie sollen wissen, Herr Präsident, dass wir uns unser Leben nicht mehr stehlen lassen werden“). Ernaux, von den Theorien Pierre Bourdieus und Roland Barthes inspiriert, stellt sich klar auf die Seite der Schwachen, der sozial Benachteiligten, der Ausgegrenzten. Ob sie deshalb unbedingt als „linksradikal“ zu bezeichnen ist, wie einige Kritiker:innen es auch im Zusammenhang mit Ernauxs Unterstützung der israelkritischen BDS-Bewegung taten, sei dahingestellt – sie verstünde dies aber vermutlich nicht als Abwertung.

Es sind darüber hinaus vor allem junge feministische Kreise, die ihre Auszeichnung zelebrieren, und für welche die von Simone de Beauvoir beeinflusste Schriftstellerin in Frankreich zur Ikone geworden ist, auch wenn sie sich selbst nicht als solche betrachtet. Das Thema Geschlecht ist bei Ernaux ebenso wichtig wie das der Klasse, beides geht sie stets sehr differenziert und reflektiert an, ob in der Öffentlichkeit oder in ihren Büchern, die niemals thesenhaft sind, sondern vielmehr einen phänomenologischen Ansatz verfolgen. Die Menschen, von denen Ernaux erzählt, sind von Geburt an in intersektionale Machtstrukturen eingebunden, was aber auch bedeutet, sich gegen diese Verhältnisse und damit verbundene Erwartungen auflehnen zu können. Texte wie L’Évènement (Das Ereignis) von 2000, der eine heimliche Abtreibung in den 1960er Jahren behandelt, oder zuletzt die Erzählung Le jeune homme (2022) über ihre Affäre mit einem 30 Jahre jüngeren Mann weisen den Weg für Geschlechtergerechtigkeit und Selbstbestimmung über den eigenen Körper, fern jeden Tabus, und sind ein starkes Zeichen in einer Welt, in der auch heute noch, egal in welche Himmelsrichtung man blickt, die Freiheit von Frauen eingeschränkt wird. Dass die Themen von Ernauxs Büchern weiterhin hochaktuell sind und auf großes Interesse stoßen, zeigt auch die gelungene und mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnete Verfilmung von L’Évènement der Regisseurin Audrey Diwan von 2021 sowie die leider weniger gelungene Adaption der Erzählung Passion simple durch Regisseurin Danielle Arbid ein Jahr vorher.

Die Literatur von Annie Ernaux ist ganz und gar nicht hermetisch, sondern setzt sich mit der Welt, mit dem Menschen in seiner Verletzlichkeit auseinander. Im Interview beim Radiosender France Inter sagte sie vor ein paar Tagen: „Pas écrire pour écrire“ – nicht schreiben, (nur) um zu schreiben. Literatur sei nie neutral, denn ihr wohne eine Handlungsmacht inne. Literatur habe die Kraft, Dinge zu verändern und gerade deshalb eine Verantwortung. Sie steht für eine Literatur um des Lebens willen, und zwar um ein freies, selbstbestimmtes und zugleich empathisches, engagiertes Leben, eines, das man sich nicht stehlen lässt. Daher auch die Reaktion der Autorin auf die Preisverleihung: Die Auszeichnung sei eine große Ehre, gehe aber auch mit einer großen Verantwortung einher. Ernaux ist trotz ihres eher zurückhaltenden Auftretens vor allem eine leidenschaftliche Person, die in Interviews schon immer klare Antworten gibt, sich nicht davor scheut, Stellung zu beziehen, dabei aber ihren (selbst-)kritischen Blick und feinen Humor nicht ablegt.

Neben dem Mut, den es braucht, um Bücher über soziale Scham, Abtreibung und weibliche Lust zu veröffentlichen, bezieht sich der vom Komitee gelobte Mut wohl vor allem auf die innovative Kraft ihres Schreibens. Ihre literaturgeschichtliche Relevanz gewinnen die Texte in Form von Erzählungen oder Tagebüchern auch aus der für Ernaux typischen, einzigartigen Erinnerungsarbeit anhand von Notizen, Fotos, Filmen und Liedern, „mit klinischem Scharfblick“ für den jeweiligen soziohistorischen Kontext, in der höchst intime, körperliche Erlebnisse zu kollektiven Erfahrungen werden. So lässt sie in Les Années, das als „erste kollektive Autobiographie“ bezeichnet wurde, nicht das ‚Ich‘ sprechen, sondern das indefinite ‚man‘ (im Französischen ‚on‘). Stilistisch könnte sie interessanterweise kaum weiter entfernt vom opulenten Werk Salman Rushdies sein, der dieses Jahr ebenfalls als Favorit der Jury gehandelt wurde. In ihrer „écriture plate“ beschreibt sie in ihren Büchern seit La Place höchstemotionale Ereignisse wie zum Beispiel den Tod ihres Vaters mit einer nüchternen, schmucklosen Sprache, und definierte dabei die Genregrenzen der Autobiographie neu. Die Bedingungen des Erinnerns und des Schreibens werden in den Texten stets mitreflektiert, die somit auch immer danach fragen, in welchem Verhältnis Literatur und Leben zueinanderstehen können.

„Auto-soziobiographisches Schreiben“ nennt sie ihre Technik, die sie zu einer „Ethnologin ihrer selbst“ werden lässt, mit dem Ziel, so nahe wie möglich die Erfahrung einer Realität zu berühren, gleichzeitig wissend, dass das niemals ganz gelingen kann. Eine Form, die nach dem stilistisch etwas anders gearteten Debütroman ihr Werk prägen sollte, die aber in Les Années, das eine historische Zeitspanne von 60 Jahren umfasst, ihren Höhepunkt erreicht. 

Durch das Einweben ihrer individuellen Erfahrung in größere gesellschaftliche Zusammenhänge gelingt es ihr bis heute, sich von narzisstischer Selbstbespiegelung abzugrenzen, die doch im Genre der Autobiographie öfter durchscheint. Einige haben im Zuge des Autobiographie-Booms der letzten Jahrzehnte versucht, es ihr gleich zu tun, doch die Präzision ihrer Arbeit bleibt meist unerreicht. Ihr schlichter Stil dringt ohne Umschweife zur Essenz des Erlebten vor, dessen wird man sich als Leser:in immer dann bewusst, wenn einer der kurzen, geschliffenen Sätze wieder bis ins Mark trifft: „L’écriture comme un couteau“ (Schreiben wie ein Messer), nennt Ernaux auch ihr Schreiben, das bis zum Körper reichen und diesen bewegen soll.

So deckt die Autorin seit nunmehr ca. 50 Jahren unermüdlich „die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Zwänge“ nicht nur der Vergangenheit, sondern auch unserer Gegenwart auf. In einem Interview von 2019 sagte sie: 

„Écrire c‘est une activité du présent d‘abord, qui essaie de sauver le passé, mais pas seulement, qui est aussi tournée vers l‘avenir. Écrire, c‘est en somme donner de l‘avenir au passé.“ („Schreiben ist zuallererst eine Aktivität der Gegenwart, mit der man versucht, die Vergangenheit zu bewahren, aber nicht nur, sie ist auch in die Zukunft gerichtet. Schreiben heißt, der Vergangenheit eine Zukunft zu geben.“)

Wie lebt die Vergangenheit in der Gegenwart fort, was möchte man zukünftig bewahren, was hinter sich lassen? Diese Fragen wirft die Auszeichnung von Ernaux auch in Bezug auf die europäische Literaturszene auf und trifft dabei gerade unter jungen Leser:innen einen Nerv. Inmitten von Schreckensmeldungen zu Krieg, Pandemie und Kopftuchzwang ist die Auszeichnung von Annie Ernaux also eine sehr gute Nachricht – und außerdem für die Institutionen der Literaturwelt ein Zeichen von erfreulicher Lebendigkeit.