Tiefe Einblicke in die literarisch-politischen Diskurse der Nachkriegszeit

Nico Schmidtner präsentiert Alfred Döblin und seine Zeitschrift „Das Goldene Tor“ im Spannungsfeld zwischen Autorinszenierung und Werkästhetik.

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alfred Döblins Zeitschrift Das Goldene Tor markiert im historischen Abschnitt zwischen dem Kriegsende 1945 und dem Jahr 1951 die Rolle eines exemplarischen Vertreters einer literarischen und kulturpolitischen deutschen Nachkriegszeitschrift. Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus waren tradierte Ordnungsmodelle und Wertsysteme diskreditiert, ein kulturpolitisches Vakuum musste gefüllt werden und in der verkümmerten Zeitschriftenlandschaft der letzten Kriegsjahre bildeten Neugründungen von Zeitungen und Zeitschriften einen wichtigen Pfeiler einer entstehenden demokratischen Gesellschaft.

Alfred Döblin sah sich als Kulturoffizier der französischen Besatzungsbehörde in dieser Situation herausgefordert, einen eigenen literarischen und kulturpolitischen Schwerpunkt zu setzen: „Zeitschriften scheinen in Deutschland ein Naturereignis zu sein, sie stürzen vom Himmel, oder steigen aus der Hölle. Jedenfalls muss man ihnen heroisch begegnen.“ (Das Goldene Tor, Vorwort der ersten Nummer 1946). Er trat gegen sich etablierende Konkurrenten an, die zu den wirkmächtigsten Presseorganen der neuen Zeitschriftenlandschaft aufstiegen: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation (ab 1946 herausgegeben von Alfred Andersch, Hans Werner Richter und Erich Kuby), die Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik (ab 1946 herausgegeben von Eugen Kogon und Walter Dirks) oder den Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken (ab 1947/48 herausgegeben von Hans Paeschke). Döblin musste sich von diesen Publikationen durch die inhaltliche Konzeption, die Ausrichtung und Zusammenstellung der Beiträge unterscheiden, um eine ebenso prominente Position einnehmen zu können. Schmidtner betont den „explizit literarischen Schwerpunkt und Duktus“ von Döblins Neugründung, die auf „eigenem Feld als singulär und besonders“ auftrat und die in der bisherigen Forschung nur „in wenigen Arbeiten angeschnitten und mitverhandelt“ worden sei. Schmidtners Blick auf Döblins Zeitschrift offenbart ganz nebenbei, wie der Autor sich weiterentwickelt und werkkonstante Linien und Strukturen modifiziert hat. Gegenstand der Untersuchung ist die Bedeutung und besondere Rolle des „Autors“ Döblin im Rahmen einer „aktiven Werkpolitik“ oder sogar „Selbstinszenierung“, neben seiner Funktion als Herausgeber des Mediums. Diese Sonderrolle ist auf dem Hintergrund seines kulturpolitischen Engagements während seiner Exilzeit in den 40er Jahren, besonders aber in Verbindung mit seiner Rückkehr nach Deutschland zu sehen.

Schmidtner setzt sich grundlegend mit der Idee und Grundkonzeption der Zeitschrift Das Goldene Tor auseinander und befasst sich ausführlich mit deren besonderen Publikations- und Veröffentlichungsbedingungen (wie der anfänglichen Abhängigkeit von den Subventionen der französischen Besatzungsbehörde und der sich schwierig gestaltenden Verlagssuche), aber auch mit der inhaltlichen Programmatik und Themensetzung im Verhältnis zu der Autorpersönlichkeit Döblins und seines Spätwerks. In vorbereitenden Kapiteln wendet sich Schmidtner der Werkpolitik Döblins zu, so wie sie in der Ausrichtung des Goldenen Tors zum Ausdruck kommt, angelehnt an Döblins Konzeption einer ‚Emigrantenliteratur’ in Auseinandersetzung mit dem Phänomen der ‚Inneren Emigration’. Die Zeitschrift wurde zu einer Plattform eines Schriftstellers, „der in der direkten Nachkriegszeit aktiv in die eigene Inszenierung eingreift […] und gleichzeitig Teil der Kommunikationsebene“ war. Laut Schmidtner erweist sich Doblin damit als ein Grenzgänger, als Schriftsteller und den „damit verbundenen Bereiche[n] des literarischen Feldes wie Publikation, Neuerscheinungen etc.“ Mit dieser Doppelexistenz – und dem letztendlichen Scheitern seines Zeitschriftenprojekts – war allerdings, so Schmidtner, eine zunehmende Resignation und auch Desillusionierung verbunden. Döblins Rolle als Herausgeber und als „Zensor“ im Rahmen seiner Tätigkeit für die französischen Besatzungsbehörden bildet laut Schmidtner noch immer einen „blinden Fleck“ in der Döblin-Forschung.

Beide Aspekte allein stellen aber keinesfalls eine „Blaupause“ für die Analyse seiner Zeitschrift dar; vielmehr müsse Döblins Wirken im Goldenen Tor gesondert untersucht werden. Schmidtner widmet sich deshalb im Hauptteil seiner Untersuchung ausführlich Döblins „Werkpolitik“: jahrgangs- und heftweise stellt er den Autor als Beiträger von programmatischen und literarischen Texten vor. „Golden strahlt das Tor, durch das die Dichtung, die Kunst, der freie Gedanke schreiten“ – so Döblin in seinem Geleitwort zu Heft 1 des ersten Jahrgangs 1946. Leitmotivisch steht hier das „Tor“ für die Öffnung der großen Themen der Zeit und deutet an, das die Zeitschrift sich als „Medium der Überzeitlichkeit“ versteht. Ein Auszug aus seinem Werk Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende, der als letzter Text der ersten Nummer platziert wird, rahmt Döblins programmatische Absicht. Ein Appell an die Leser:innenschaft und „Werksichtbarmachung“ und gleichzeitig eine Illustration der gescheiterten Bemühungen des Autors, seinen Roman in Westdeutschland publizieren zu können (der Roman erschien erst 1956 in Ost-Berlin bei Rütten & Loening), obwohl der Roman ein „neuer und letzter Höhepunkt“ von Döblins Schaffen war. Schmidtner interpretiert diese Selbstinszenierung zutreffend als Teil einer exemplarischen kompositorischen Zusammenstellung.

Anschaulich stellt Schmidtner dar, wie Döblin seine Zeitschrift als „Korrekturinstrument“ nutzte, um aus seiner Sicht entstandene Fehlentwicklungen innerhalb des literarischen Sektors zu markieren. Beginnend mit dem zweiten Jahrgang 1947 erschien ein umfangreiches Doppelheft, das sich der „Revision literarischer Urteile“ (so der Titel einer neuen Rubrik) widmete. Schmidtner zeigt auf, wie sich Döblin selbst als „Regulator“ und gleichzeitig seine Zeitschrift als „Medium und Steuerungsgröße von Literaturgeschichte“ verstand. Döblin verschränkte innerhalb der Zeitschrift seine subjektiven Erinnerungen an Autoren wie Arno Holz mit seiner Literaturprogrammatik und „entwarf damit ein historisches Geltungsdispositiv“. Deutlich wurde dies besonders in der Auseinandersetzung mit Thomas Mann, den Döblin als Antipoden und als Vertreter „abgelebter deutscher Bildungsideale“ verstand. Unter der Überschrift „Neue deutsche Romantik“ erfolgte aber ebenso eine explizite Aufnahme der jungen Generation ins Goldene Tor, einer Generation, „die nach dem Krieg zu erwachen beginnt, die grünen Spitzen junger Grashalme. Sie sind alle besorgt um eine neue menschliche Anständigkeit und haben die Sehnsucht nach einem tragenden Boden“ (II. Jg., S. 265). Döblin nannte stellvertretend die Namen Kreuder, Erné, Helwig und Hasler, Autoren, denen er eine große Relevanz bescheinigte. Schmidtner hebt hervor, dass sich Döblin dabei als „Lehrer beziehungsweise Vorgänger“ verstand, der „die literarisch Wertigkeit beurteilen“ könne, sieht aber auch, dass Döblin damit eine „Verengung und Homogenität“ suggerierte, „die so in der literarischen Landschaft nicht allgemeingültig“ war. Ab Heft 5 änderte Döblin den Zuschnitt seiner Zeitschrift, und zwar auf die Leser:innengruppe der Frauen und versuchte so, verstärkt auch ein weibliches Publikum anzusprechen: „Die Beiträge dieses Heftes stammen von Frauen, betreffen Frauen“ (ebd., S. 371). Schmidtner zeigt, wie Döblins „scheinbar rein strukturierende und einleitendes“ Herausgebervorwort mit einer weiteren Selbstinszenierung des Autors verbunden war: Mit Rosa, Erzählung präsentiert er zwei Szenen aus seinem erzählerischen Werk nach bekanntem Muster einer Textprobe. Ab der zweiten Hälfte des zweiten Jahrgangs präsentierte Döblin unter dem Motto „November 1918“ in jedem folgenden Heft bis zur Doppelnummer 11/12 je einen Auszug aus seinem Romanzyklus. Döblin setzte dabei auf die „thematisch-inhaltlichen Verbindungen“ und verknüpfte sein eigenes literarisches Werk mit dem Thema des jeweiligen Heftes, als „Funktionalisierung und Verbindung mit eigener Autorschaft“. In den anderen Beiträgen kritisierte er Autoren wie Gerhart Hauptmann und Thomas Mann, die er als Gegenspieler und „Gegenentwurf“ inszenierte.

Beginnend mit dem dritten Jahrgang 1948 widmete sich das Goldene Tor verstärkt der Frage der deutschen Schuld, und Döblin präsentierte sich in einer veränderten Herausgeberfunktion: er reduzierte seine eigenen literarischen und essayistischen Beiträge und trat als „steuernde Instanz“ hervor, was nach Schmidtner besonders in den Hefteinleitungen deutlich werde. Döblin habe durch seine ständigen Neuerungen und Korrekturen versucht, „die Akzeptanz und Annahme der Zeitschrift beim Publikum“ zu erhöhen. Dazu trugen auch die neuen Schwerpunktsetzungen bei, so gab es ein „England-Heft“ und auch ein „Italien-Heft“. Hier habe Döblin sogar eine Art „Fremdinszenierung“ betrieben und andere Autoren wie etwa Egon Vietta in den Vordergrund gerückt. Döblins eigene Inszenierung sei dabei – so Schmidtner – aber keinesfalls zu kurz gekommen: Mit Gilbert Keith Chesterton und anderen stellte er moderne christliche Autoren heraus und „verwies damit immer mehr auf seine eigene lange Auseinandersetzung (und Konvertierungsgeschichte) mit dem Christentum“. Diese Herausgeberlinie setzte er dann konsequent im nächsten Jahrgang 1949 mit dem Schwerpunkt Drei Dichter von heute (Hanns Henny Jahnn, Johannes R. Becher und Jakob Harringer) fort. 1950 gab es eine veränderte äußere Erscheinung der Zeitschrift, die aber „nicht zwangsläufig eine Modernisierung des Inhalts“ des Goldenen Tor dargestellt habe. Vor allem aber arbeitete Döblin anlässlich des Goethejahrs 1949 literarische Traditionen auf, und angesichts eines „übermächtig wirkenden“ Autors nahm er eine erneute Selbstpositionierung im literarischen Feld vor. Indem er Goethe „als Versöhner zwischen Frankreich und Deutschland inszenierte“, vermittelte er ein Bild, „das Döblin auch für sich selbst beansprucht“.  Schmidtner: „Döblin entfernt sich am Ende seiner Zeitschrift demnach von einer ‚Literaturgeschichte der Außenseiter’ und nähert sich den ‚Klassikern’ der traditionellen Literaturgeschichtsschreibung an ­– ein Umstand, der auch mit der Befürchtung der eigenen Bedeutungslosigkeit in der Tradierung verknüpft werden kann“. Der letzte Jahrgang der Zeitschrift, der 1951 lediglich zwei Heftnummern umfasste, war geprägt von der beabsichtigten Übergangsphase der Zeitschrift, die Eingliederung in die Klasse Literatur der Mainzer Akademie der Wissenschaften und einem deutlichen Zurücktreten Döblins als Beiträger: Er zog sich in die Rubriken Kritik, Chronik und Glossen zurück und präsentierte vor allem Buchbesprechungen.

Schmidtners Methode, die Beiträge Döblins gesondert und schwerpunktartig vorzustellen und zu analysieren, demonstriert deren poetologische Ausrichtung und die Doppeldeutigkeit von Autorfigur und Selbstinszenierung auf dem Hintergrund von Döblins Werkästhetik. Überzeugend stellt Schmidtner dar, wie es Döblin gelang, verschiedene Textsorten im Goldenen Tor „seiner zentralen Idee eines angepassten Literaturverständnisses“ anzupassen, aber genauso, wie Döblin im Zusammenspiel der einzelnen Rubriken ganz verschiedene Dimensionen abbildete: den Schriftsteller, Herausgeber und auch den Kulturpolitiker.

Das Goldene Tor ist für die meisten Leserinnen und Leser wohl nicht mehr direkt greifbar, die untersuchten Jahrgänge 1946–1951 sind nur als (teure) Reprints erhältlich. Schmidtners detaillierte inhaltliche Darstellungen und Textauszüge sind jedoch bestens geeignet, diesem Mangel abzuhelfen. Die ausführlichen Analysen der Beiträgerschaft Döblins widmen sich einer in der bisherigen Forschung vernachlässigten Kategorie und werfen gleichzeitig einen neuen Blick auf die Zeitschriftenlandschaft der direkten Nachkriegszeit. 

Titelbild

Nico Schmidtner: Alfred Döblin und seine Zeitschrift »Das Goldene Tor«. Zwischen Inszenierung und Werkästhetik.
Transcript Verlag, Bielefeld 2022.
344 Seiten , 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783837663945

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