Ästhetische Abschiede

Karl-Heinz Göttert präsentiert „Letzte Werke“ bedeutender Künstler für ein breites Publikum

Von Thomas MerklingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Merklinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem künstlerischen Debüt haftet Notwendigkeit an. Ohne den ersten Auftritt auf der Bühne der Öffentlichkeit kann sich die kulturelle Größe eines bedeutsamen (Gesamt-)Werks schließlich nicht einstellen. Das erste veröffentlichte Werk entspringt einer bewussten Entscheidung und wird auch bei seinem Erscheinen als Debüt wahrgenommen. Anders verhält es sich mit dem letzten Werk. Der Endlichkeit des menschlichen Lebens ist zwar eingeschrieben, dass es dort zwangsläufig auch eine letzte künstlerische Arbeit geben muss, wo es eine erste gab, doch wie sie aussieht und welche das ist, hängt stark vom Zufall ab. Das letzte Werk lässt sich nur postum als solches erkennen und bestimmen, wodurch sich eine intrinsische Bedeutsamkeit als Abschluss eines Lebenswerks in den meisten Fällen nicht einstellt. Als Summe des Schaffens und künstlerische Bilanz lassen sich letzte Werke selten heranziehen und sind daher, im Gegensatz zu Debüts, häufig auch nicht als solche abgespeichert.

Somit ist oftmals nicht bekannt, was die großen Namen der Kulturgeschichte direkt vor ihrem Abtreten geschaffen haben, und auch die Geschichten und Anekdoten, die das Werk flankieren, sind nicht unbedingt geläufig. Einige dieser Geschichten hat der emeritierte Germanistikprofessor Karl-Heinz Göttert nun in Letzte Werke. Womit sich unsere Dichter, Musiker, Künstler von der Welt verabschiedeten zusammengetragen. Göttert hat 45 Künstler (48, wenn man die Beatles als Einzelpersonen zählt) ausgewählt, um von ihren künstlerischen Abschieden zu erzählen. Die chronologisch geordnete Reihe reicht von Leonardo da Vinci bis Günter Grass und weist dabei Schriftstellern, Musikern und bildenden Künstlern der europäischen Kulturgeschichte ganz paritätisch je 15 Kapitel zu.

Um es gleich vorwegzunehmen: Bei allen derartigen Zusammenstellungen lässt sich immer ein Name finden, der gefühlt fehlt. Dabei sind die wichtigsten kulturellen Größen, die man sofort assoziieren würde, aber berücksichtigt: Goethe, Schiller, Thomas Mann. Mozart, Bach und Wagner. Michelangelo, Rembrandt, Monet und Picasso. Hinzu kommen ein paar wild cards aus der zweiten Reihe, die man der persönlichen Präferenz Götterts zugestehen darf, vielleicht hat auch die zugehörige Geschichte den Ausschlag gegeben. Aber auch hier stößt man auf bekannte Namen. Die größte Überraschung ist viel eher die Tatsache, dass beim Untertitel „unsere Dichter, Musiker, Künstler“ kein Gebrauch des generischen Maskulinums vorliegt, denn es werden tatsächlich ohne Ausnahme Männer vorgestellt. In dieser Hinsicht wäre ein weniger einseitiges Bild wünschenswert gewesen.

Göttert richtet sich mit seinen kurzen, jeweils fünf Druckseiten umfassenden Kapiteln an „kulturell Interessierte“, um sie mit seinen Geschichten über letzte Werke zu unterhalten und zu überraschen. Die hohe Bekanntheit der vorgestellten Künstler begründet er letztlich auch damit, dass man dadurch spekulieren könne, welches Projekt am Ende eines künstlerischen Lebens das letzte gewesen sein mag. Das sind manchmal durchaus bekannte Titel, wovon hier nur einige wenige genannt seien, die Göttert auch in seinem Vorwort anführt: also etwa Nathan der Weise, Der eingebildete Kranke oder Dichtung und Wahrheit. Da die Kapitel allerdings mit dem jeweiligen Namen zugleich das entsprechende letzte Werk schon direkt nennen, gestaltet sich das Projekt des Mitratens bei der stillen Lektüre recht schwierig. Womöglich ist es so gedacht, sich die Informationen und Anekdoten anzulesen, um dann in Gesellschaft damit zu reüssieren.

Die Kapitel sind anschaulich und unterhaltsam geschrieben und erzählen die Geschichten um die letzten Werke in einem weiteren Kontext. Göttert erinnert etwa an zentrale Momente der Lebensgeschichte, veranschaulicht die kulturelle Bedeutung der Kunstwerke und fasst inhaltliche und historische Hintergründe zusammen. Dadurch ergibt sich ein abgerundetes Bild, das durchaus Lust macht, in manche Texte noch einmal hineinzulesen oder in Kompositionen hineinzuhören. Die visuellen Werke, also die letzten Bilder, Installationen (Joseph Beuys) oder Bauwerke (im Falle Balthasar Neumanns, dem einzigen Architekten) sind den jeweiligen Kapiteln als farbige Abbildungen vorgeschaltet.

Über die Einzeldarstellungen hinausgehend lassen sich aber auch grundsätzliche Unterschiede und Probleme hinsichtlich letzter Werke erkennen. Göttert liefert hierfür in der Einleitung eine knappe Typologie. So wird das bedeutende Œuvre eben nicht immer von einem weiteren Meisterwerk gekrönt, sondern es sind oftmals eher kleinere Arbeiten, die der Welt zuletzt hinterlassen werden: Orgelwerke (Johannes Brahms), Lieder (Richard Strauss) oder Gute-Nacht-Geschichten für den Sohn (Erich Kästner). Werden künstlerische Arbeiten noch kurz vor dem Ableben veröffentlicht oder fertiggestellt, ist meist recht klar, was als letztes Werk zu gelten hätte. Schwieriger wird es da bei Unvollendetem: Ist das Unfertige bereits ein Werk oder nur eine Vorstufe? Auf Georg Büchners Woyzeck-Fragment und Mozarts nicht fertiggestelltes Requiem will man nicht verzichten. Anderen unfertigen Arbeiten hingegen, an denen womöglich noch direkt vor dem Tode herumgewerkelt wurde, ist weniger Aufmerksamkeit zuteilgeworden und und es lässt sich darüber streiten, ob man schon von einem Werk sprechen kann.

So stellt sich denn überhaupt die Frage, was mit ‚Werk‘ gemeint ist. Für Goethe etwa stimmt, dass er zwar alle ihm wichtigen Pläne hat zu Ende führen können, darunter auch den letzten Teil seiner autobiographischen Schrift Dichtung und Wahrheit, die Göttert in seinem Buch vorstellt. Ob dies aber wirklich sein letztes Werk ist, bleibt Auslegungssache, denn noch danach hat er Texte verfasst und sogar zu Lebzeiten veröffentlicht, auch wenn diese eher als marginal gelten dürfen. Es ist dann für das vorliegende Buch vielleicht auch nicht so ganz wichtig, was in einem strengen Sinne als letzte Arbeit gelten darf, geht es doch eher um die unterhaltsame Darstellung denn um biographische Präzision. Da ist es auch möglich, als letztes Bild Pierre-Auguste Renoirs das Aktgemälde Ruhe nach dem Bad von 1919 anzuführen, weil es repräsentativ ist und die bessere Geschichte bietet, nur um dann doch nachzuschieben, dass das „allerletzte“ Gemälde frisch gepflückte Anemonen aus dem Garten zeigt.

Bei aller Mühe lässt sich schließlich häufig zudem gar nicht mehr bestimmen, was das letzte Werk ist, weil das Ableben zu lange zurückliegt, oder – wie im Falle Vincent van Goghs – zu viele Bilder als letzte Werke in Frage kommen. In diesem Fall rund 80 Gemälde und etwa die gleiche Anzahl an Zeichnungen. Im Gegensatz zum Debüt ist es eher selten, dass der Künstler selbst bestimmt, was sein letztes Werk sein soll. Will man die Entscheidung nicht dem Zufall des Todeszeitpunkts überlassen, bleibt nur, ihn selbst zu wählen, wie Stefan Zweig, der sich nach dem Absenden der Schachnovelle suizidiert hat, oder man stellt die künstlerische Tätigkeit ein. Das haben allerdings die wenigsten geschafft. Selbst die Beatles, die sich mit Abbey Road künstlerisch verabschiedeten, haben als individuelle Künstler weitergearbeitet.

Neben wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu seinen Forschungsinteressen im Bereich der Mediävistik, Rhetorik sowie der Sprach- und Kulturgeschichte hat Karl-Heinz Göttert nicht nur Kriminalromane und Bücher über Orgeln geschrieben, sondern schon vor seiner Emeritierung auch fachliches Wissen in massenkompatiblen Büchern geteilt. Bei Reclam sind unter anderem Bücher zum alltäglichen Aberglauben, zu Sprichwörtern, Festen, Astrologie und zur deutschen Sprache erschienen, und er hat sich zuletzt mit Der Rhein. Eine literarische Reise als Tourguide betätigt, der auf einer virtuellen Flussfahrt rheinabwärts an den passenden Stationen von Literarischem zu berichten weiß. Mit Letzte Werke bleibt er dieser Form der unterhaltsamen Wissensvermittlung treu, indem er große Künstler und ihr Werk vom Ende her perspektiviert. Dass dabei große Leidenschaft für die Kunst mitschwingt, überträgt sich auch beim Lesen und bietet eine nette Lektüre für stille Momente.

Titelbild

Karl-Heinz Göttert: Letzte Werke. Womit sich unsere Dichter, Musiker, Künstler von der Welt verabschiedeten.
Schwabe Verlag, Basel 2022.
291 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783796546129

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch