Wortkaskaden eines vom Schicksal Gebeutelten

In Jan Faktors Roman „Trottel“ halten sich Übermut und Trauer die Waage

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seinem großartigen Roman Trottel bestätigt Jan Faktor die Behauptung des seligen Thomas Bernhard, dass alle Kunst Übertreibungskunst sei. Gerade die Übertreibungen sind es, die das Wesen der Dinge jenseits der Erscheinungen erkennbar machen. Alles, was Faktors Ich-Erzähler, der sich selbst einen Trottel nennt, schildert, ufert aus, wächst sich aus, mäandriert in ungeahnte Richtungen, wird noch überboten in Fußnoten (insgesamt sind es 262) und Selbstkommentaren, bricht nicht selten ab und wird oft an ganz anderer Stelle wieder aufgenommen. Auch die Inkonsequenz des Erzählvorgangs, die über die ganzen 400 Seiten durchgehalten wird und insofern eine höhere Form der Konsequenz darstellt, ist ein Element der Übertreibung.

Der konsequent inkonsequente Ich-Erzähler blickt zurück auf sein Leben im ‚real existierenden Sozialismus‘, den er einmal als „realexistierende Dederonie“ bezeichnet. Dederon ist der Markenname für eine Polyamid-Faser, die in der DDR vornehmlich für Kittelschürzen, Hemden und Einkaufstaschen verwendet wurde. Der Erzähler wächst in Prag auf, erlebt den Prager Frühling und dessen gewaltsame Unterdrückung durch Truppen des Warschauer Pakts, die trübe Zeit der Restauration unter Gustáv Husák und verlegt dann nach einer Zeit des Pendelns zwischen Prag und Ostberlin seinen Lebensmittelpunkt in die Hauptstadt der DDR. Dort hält er sich vorwiegend am Prenzlauer Berg auf, registriert chaotische Wohn- und anarchische Lebensverhältnisse, die seiner Einstellung und seinem Charakter offenbar entsprechen, heiratet und wird Vater eines Sohnes.

Äußerlich motiviert wird der Umzug nach Ostberlin durch eine Begegnung des Erzählers mit einer Reisegruppe aus der DDR auf dem Prager Wenzelsplatz. Die leichte Bekleidung der Damen und die Düfte, die sie ausströmen, überwältigen ihn dermaßen, dass er in Ohnmacht fällt. Als die Frauen ihm dann sehr nahe kommen, um ihn wieder aufzurichten, wirken sie auf ihn wie Abgesandte aus einem Paradies, das zufällig auch erreichbar ist, weil es sich um ein sozialistisches Bruderland handelt. Im darauf folgenden Kapitel wird die DDR allerdings aus tschechischer Sicht in ein eher fragwürdiges Licht gerückt. Es wird eingeleitet mit dem Satz: „Die DDR galt in meinem versunkenen Land als ein Gehege von ideologisch morphinisierten Quadratschädeln, die von den Staats-, Einheitspartei- und Medienorganen ununterbrochen verblödet wurden.“ Die dann sich anschließende Charakterisierung der DDR-Deutschen und ihrer Lebenswelt ist so gestaltet, dass sie den tapferen Prager Jüngling von einer Übersiedelung in dieses Land eher hätte abschrecken müssen.

Aber der beugt möglichen Einwänden und kritischen Fragen vor mit der Feststellung: „Der Trottel muss zum Glück nicht alles bis ins letzte Detail begründen.“ An anderer Stelle sagt er: „[D]er Trottel lebt aber nun mal von wogenden bis brausenden Widersprüchen und lebt in ihnen sogar oft auf!“ Schließlich, in Kapitel 16, formuliert er eine poetologische Reflexion, mit der er sein Werk nicht nur inhaltlich charakterisiert, sondern in eine literaturgeschichtliche Tradition stellt, die mindestens bis ins Zeitalter des Barock zurückreicht:

Der zwar nicht allwissende, oft aber erstaunlich begriffsunstutzige Leser ahnt es: Ich, der Verfasser dieses Textes bediene mich bei meiner Arbeit etlicher lauterer, unlauterer bis übler handwerklicher Tricks. Behaupte da und dort Dinge, die so nicht stimmen können und sich viel passender in einem sinnschwachen Machwerk, kurz gesagt wesentlich besser in einer ganz anderen Literatursparte ausnehmen würde.

Dem Trottel muss man also nicht alles glauben, nachdem er sich als unzuverlässiger Erzähler zu erkennen gegeben hat, ähnlich wie Günter Grassʼ Oskar Matzerath, der schon im ersten Satz der Blechtrommel von sich sagt: „Zugegeben: Ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt.“ Naiv ist, wer nicht gerade einem solchen Erzähler die größten Raffinessen zutraut, u.a. die, dass er sogar sein eigenes Trotteltum im nächsten Satz schon wieder in Frage stellt. Sicherlich verwandt ist der Trottel mit dem Schelm, der in der deutschen Literatur seit Grimmelshausens Simplicissimus und Christian Reuters Schelmuffsky sowie Eichendorffs Taugenichts geschätzt und geliebt wird. Vorläufer gibt es natürlich auch in der tschechischen Literatur, darunter der brave Soldat Schwejk oder der Jazztrompeter Danny Smiřický, die Lieblingsfigur Josef Škvoreckýs.

Wie die Protagonisten der klassischen Schelmenromane durchläuft Jan Faktors namenloser Ich-Erzähler verschiedene Stationen und macht dabei einschlägige Erfahrungen, die nun sein Schreiben bereichern: Er studiert Informatik, wird mit geringer Motivation Hilfsstatistiker, dann wird er in Prag Brötchenausfahrer, bricht ein Studium der Theaterwissenschaft bald ab, verdingt sich in Ostberlin in einer privaten kleinen Reparaturwerkstatt, einer Station, auf der er lange bleibt und von der er viel technisches Detailwissen mitnimmt, und wird schließlich zur Wendezeit Redakteur bei der Zeitschrift des Neuen Forums.

All das wird ausschweifend, äußerst witzig und meist satirisch übertreibend erzählt. Nur bei einem wiederholt auftauchenden Thema kippt das Komische immer wieder ins Tragische um. Ein Landsmann Faktors, Jaroslav Rudiš, formulierte kürzlich bildlich zutreffend: „Doch Leben und Tod sitzen bei allen großen Schriftstellern […] im gleichen Zugabteil dicht nebeneinander, so wie der Humor und die Ernsthaftigkeit, das Absurde und das Existentielle.“

Wer sich auf Jan Faktors Roman einlässt, muss einen Sinn für das Absurde, ja Wahnwitzige und eine sich verselbständigende Sprache mitbringen, für hintersinnige Anspielungen (etwa auf die Gendersprache: „BürgerIstinnen“), Wortneuschöpfungen („Odasten, Idasten, Adasten und die eckförmigen Irokasten beziehungsweise alle Adaptine der vergessenen Zoroaster“ usw.) bis hin zu höherem Blödsinn, der sich beispielsweise aus Namen entwickeln kann („Mein lieber Tschernyschewski, mein Tschernobylin, Sernomarow, Pudimalbelij, Beloputkin und von mir aus auch mein fleißiger Kleinmachnibenko“). „Es handeln die Sprachelemente“, hieß es einmal bei Franz Mon, der im Roman an einer Stelle erwähnt wird. Auch Ernst Jandls Dichtungen könnten Vorbilder für viele Passagen gewesen sein.

Das ernste, existentiell berührende Thema, das immer wieder aufgegriffen wird, ist die schließlich in einem Suizid mit 33 Jahren endende, unglückliche Geschichte des Sohnes des Ich-Erzählers und seiner Frau. Dieser Sohn wird als sehr hübsch, überdurchschnittlich intelligent und phantasievoll, aber auch schon früh extrem konfliktbereit und unangepasst dargestellt. Wie der Vater ist der Sohn ein Aussteiger, aber er verfügt nicht über die nötigen Überlebensstrategien, um sich am Rand der Gesellschaft einigermaßen stabil zu behaupten. So leistet er zuweilen künstlerisch Großes, verfällt aber auch wochenlang in Lethargie, nimmt Drogen, fängt eine Lehre an, die er ziemlich lang durchhält, aber kurz vor dem Abschluss abbricht, taucht schließlich ab, wird schizophren und läuft kurz vor seinem Ende brüllend durch die verschachtelten Gebäude an der Karl-Marx-Allee, gefolgt von seiner unglücklichen Mutter.

Nach seinem Tod durch einen Sprung vom Dach sind seine Eltern der Verzweiflung nahe und bekämpfen Depressionen und Schlaflosigkeit mit diversen Psychopharmaka, denen der Erzähler etliche Seiten widmet. Nur mit Mühe kann er an diesen Stellen einen ironischen Ton aufrechterhalten. Sogar die Fußnoten und selbstkommentierenden Einschübe in Kapitälchen werden hier weniger. Es ist schon eine Form von Realsatire oder auch bitterer Ironie, wenn an einer Stelle ausführlich die möglichen Nebenwirkungen eines der Medikamente aus dem Beipackzettel zitiert werden. Am Ende findet der Erzähler seine Ruhe dadurch wieder, dass er anfängt, auf dem Balkon und im Keller Chicorée zu züchten.

Dieser Roman, heißt es in einem der vielen autoreflexiven Abschnitte, sei kein Wenderoman, sondern ein „Systemimplosionsroman“. Die stärksten Passagen sind die auf akribischen Beobachtungen beruhenden Schilderungen der Lebensverhältnisse in der DDR, speziell in dem wie ein abgegrenztes Biotop anmutenden Viertel am Prenzlauer Berg. Insbesondere für das deutsche Lesepublikum aufschlussreich ist auch die Darstellung von Mentalitätsunterschieden zwischen Tschechen und Ostdeutschen vor der Wende.

Überhaupt ist, bei allem sprachspielerischen Wahnwitz, der Realitätsgehalt des Romans erstaunlich groß. Das gilt auch für den Reichtum an Anspielungen, etwa auf die von Faktor offenbar besonders geschätzte Brachialrockband Rammstein, auf Adornos Ästhetische Theorie, auf die Fibonacci-Zahlen, auf den Lyriker Bert Papenfuß und den Dichter und Essayisten sowie Stasi-IM Rainer Schedlinski, den Literaturwissenschaftler Klaus Ramm (vielleicht wegen der Namensverwandtschaft mit Rammstein) sowie, recht abfällig, auf „den allwissenden Brecht“ und viele mehr, wobei zahlreiche der in Fußnoten untergebrachten Anspielungen und Verweise auch erfunden sind. Wer es genau wissen will, muss in jedem einzelnen Fall recherchieren.

Diese Lebensbeichte eines weisen Narren ist ein vielschichtiges satirisches Meisterwerk, das zum zügigen Durchlesen anregt und oft zu lautem Lachen animiert, wobei der Humor, wie Heinrich Böll einmal anmerkte, immer auch ein feuchtes Auge hervorbringt.

Titelbild

Jan Faktor: Trottel.
Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022.
400 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783462000856

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