Neue Wertschätzung für Christoph Köler

Kalina Mróz-Jabłecka erarbeitet die deutschsprachigen Gedichte des schlesischen Barockdichters, Literaturprofessors, Bibliothekars und Lyrikanregers

Von Jörn MünknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörn Münkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie viele haben je von Christoph Köler (1602–1658) gehört? Nicht viele, darf vermutet werden. Dabei hat kein Geringerer als Hoffmann von Fallersleben im Weimarischen Jahrbuch für deutsche Sprache, Literatur und Kunst Kölers Wiederentdeckung kundgetan – allerdings vor einer halben Ewigkeit (1856). Verwirrend sind schon die Namensvarianten des Mannes, der als Cöler, Coler, Köler, Koler, Köhler oder Christopherus Colerus firmiert. Wer also kennt den Autor, hat Gedichte oder andere Schriften aus seiner Feder gelesen?

Dem Rezensenten war der gebürtige Bunzlauer bislang unbekannt, obwohl er seit 1902 für die Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts, speziell des schlesischen Raumes, solide verbürgt ist: durch Max Hippe (1864–1945), den Direktor der Breslauer Stadtbibliothek, der seinerzeit mehrere Dutzend der deutschen Gedichte Kölers als Anhang zu seiner Monographie Christoph Köler, ein schlesischer Dichter des siebzehnten Jahrhunderts veröffentlichte. Er holte den fast Vergessenen einmal mehr aus der Versenkung, nur haben seine lyrische Minimalausgabe und zweifellos verdienstvolle Lebensdarstellung Kölers dessen Repräsentativität offenbar nicht genügend Glanz verschafft, denn weder in Anthologien noch in Überblicksdarstellungen ist Köler vergleichbar präsent wie zeitgenössische Dichter- und Gelehrtenkollegen. Ganz zu schweigen von den anderen schreibenden Söhnen der offenbar von den Musen geküssten Stadt Bunzlau (heute Bolesławiec), aus der auch der hochberühmte Martin Opitz (1597–1639) und Kapazitäten wie der Lyriker Andreas Tscherning (1611–1659), der spätmystische Dichter Andreas Scultetus (um 1622/23–1647) und der philologisch angetriebene Jurist Andreas Senftleben (1602–1643) stammen.

Es gilt, Köler zu entdecken beziehungsweise wiederzuentdecken und wertzuschätzen: als Autor und Verfasser eines literarischen Werks, das neben deutsch- und lateinischsprachiger Lyrik auch Übersetzungen, Prosa-Schriften, Festvorträge (Schulactus) und eine breite Briefkorrespondenz umfasst. Der vorliegende Band lädt ein, Kölers „teutsche Poemata“ (gedruckt und in handschriftlicher Überlieferung) zu lesen, ja, er macht die Lektüre aus pragmatischer Sicht erst möglich. Die gebündelte Darbietung (600 Seiten Edition, 160 Seiten Apparat, Nachwort, bibliografische Angaben) ist das Ergebnis einer Großanstrengung an bibliothekarischer Recherche, Dechiffrierung der Kurrent-Handschrift Kölers, bibliografischer Autopsie und kritischem Vergleich. Wer sich das lyrische Korpus Kölerscher Autorschaft selbständig erschließen wollte, käme schnell an seine Grenzen. Die Breslauer Frühneuzeitgermanistin Kalina Mróz-Jabłecka hat sich dieser Aufgabe angenommen und das in zahlreichen Bibliotheken (Polen, Deutschland, Frankreich) verstreute und in übergreifenden Katalogen zu identifizierende, auch unikale Material ermittelt, transkribiert, emendiert und zusammengestellt.

Am Anfang stehen drei lateinischsprachige „Echos“ (inklusive synoptischer Übersetzungen ins Deutsche) von Zeitgenossen auf Köler. Es geht um ihn als jungen Dichter, der zwischen 1624 und 1629 für fünf Jahre nach Straßburg zum Studium der Rechte und der philologisch-historischen Fächer zieht. Ferner um ihn als Vertreter der schlesischen Stadtkultur, insbesondere Breslaus, wo sich Köler nach kargen Jahren dank der Übernahme einer Professur für Poesie und Philologie am Elisabeth-Gymnasium ab 1634 etablieren konnte und wo er später auch die Leitung der berühmten Bibliothek in der Maria-Magdalena-Kirche übernahm.

Im ersten Echo von 1627 beschwört der Philologe und Heidelberger Bibliotheksleiter Jan Gruter (1560–1627) das „Schlesierpaar“ Opitz und Köler als sich der kriegerischen Unbill durch ihre Literaturarbeit widersetzende Kulturbewahrer. Im zweiten Stück, ebenfalls auf 1627 datiert, würdigt Martin Opitz die neuartigen deutschen Gedichte des Landsmannes und bittet mahnend den „vortrefflichen jungen Mann“, in dieser schweren Zeit mit dem Gedichteschreiben fortzufahren, „auf daß das Vaterland glanzvoller erscheine kraft deines Ruhmes“ (Übersetzung von Rudolf Drux). 1658 schließlich verfasst Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616–1679) für den gerade verstorbenen Köler, seinen ehemaligen Lehrer am Elisabeth-Gymnasium, ein versiertes Epicedium mit dem Titel „Monumentum“ (Übersetzung von Anne Wagniart). Vom „berühmten Köler“ werde nicht nur in den engen Mauern eines Gymnasiums gesprochen – hier dürfte das von Köler viele Jahre geleitete Breslauer Elisabethanum gemeint sein. So, wie ihn die Stadt Bunzlau ihren Sohn nenne, wie Straßburg ihn mit feiner Literatur vertraut machte, so habe Breslau Köler als Redner, Professor und Bibliothekar adoptiert. Nicht zuletzt habe die Ratsversammlung den Gelehrten stets zu ihresgleichen gezählt.

Weitere Lobpreisungen und Oden von Akademikern und Dichtern auf Köler ließen sich anführen, Fakt ist, dass Köler im schlesischen intellektuellen und literarischen Biotop in enger Nachbarschaft zu Opitz verortet und dem deutschen Musenvater sogar als „alter Opitius“ (also „zweiter Opitz“)[1] an die Seite gestellt wurde.

Das Inhaltsverzeichnis listet insgesamt 309 Gedichte, es werden laut Nachwort aber nur 308 Stücke ediert (110 gedruckte, 198 handschriftlich fixierte). Diese Differenz ist einem Erratum geschuldet, das der Weidler Verlag bedauernd bestätigt. Zur Nachfrage beim Verlag kam es, weil im Nachwort noch mehrere Unstimmigkeiten auftraten. Nach einem Vergleich mit Band 2,1 der Köler-Gesamtausgabe, der die lateinischen Poemata wiedergibt und bereits 2018 erschienen ist,[2] wurde klar, dass die editorische Anlage der Lyrik-Bände gleich ist und dass es im vorliegenden Band offenbar zu Fehlern in den Erläuterungen im Nachwort gekommen sein muss. Denn die Textwiedergabe der Gedichte und die kritischen Emendationen sind genau und stimmig. Dem Verlag liegt bereits eine Errata-Liste vor, der Hintergrund ist folgender: Aufgrund der Mitberücksichtigung von neuen Funden, die in das Inhaltsverzeichnis noch kurz vor der Druckabgabe integriert worden waren, wurden durch ein Versehen nicht aktualisierte Angaben in der ursprünglichen Version des Nachworts belassen. Mit der neuen Bindequote des Buches, die gerade gefertigt wird, werden jedoch erfreulicherweise alle fehlerhaften Angaben berichtigt.

Das Korpus setzt sich in der Tat aus 309 Gedichten zusammen, die entweder als Drucke ohne handschriftliche Fassung oder als Handschriften ohne Drucklegung überliefert sind. Es gibt wenige Ausnahmen, etwa das Turmgedicht Nr. 309 (In fatales Turris et Templi Elisabetani caus.), das sowohl in einer deutschen als auch lateinischen Version existiert. Zudem liegt es einerseits in handschriftlicher Form vor (die deutsche Version), anderseits ist es Teil eines lateinischen, gedruckten Prosatextes. Die Herausgeberin qualifiziert Nr. 309 als deutschsprachiges, handschriftlich fixiertes Gedicht (das heißt, es ist als singulärer Text überliefert), während es aufgrund seiner Zugehörigkeit zu der gedruckten lateinischen Prosa-Quelle auch in Band 2,1 (Lateinische Gedichte Kölers) aufgenommen wurde. Beide Bände verweisen in ihrem Apparat wechselseitig aufeinander.

Die Gedichte sind entsprechend der erwähnten Überlieferungssituation (also Drucke ohne handschriftliche Fassung oder Handschriften ohne Drucklegung) in vier Kapitel gruppiert. Das erste Kapitel erfasst die „Gedruckte[n datierten] Gedichte“, 108 chronologisch geordnete Nummern an der Zahl; die „Gedruckte[n] undatierte[n] Gedichte“ enthalten lediglich zwei Stücke; die „Gedruckte[n] Gedichte, übernommen von Max Hippe“ nur drei. Das vierte Kapitel verzeichnet die „Gedichte aus den Handschriften“, und zwar aus der Handschrift M 1568, aus der die große Mehrheit mit 186 Nummern ohne Datierung stammt; zum anderen aus Handschrift M 1569, in der sich 8 Stücke befinden, während Handschrift M 1572 mit Nummer 309 das versprengte Schlussstück birgt. Was die Provenienzen der Drucke und Stücke aus den Handschriften anbetrifft, befinden sich M 1568 und M 1572 in den Beständen der Universitätsbibliothek Breslau (früher Stadtbibliothek Breslau). Handschrift M 1569 existiert wahrscheinlich nicht mehr (möglicher Kriegsverlust). Max Hippe indessen hatte bei der selektiven Zusammenstellung der Gedichte für den Anhang an seine Köler-Biographie im Jahr 1902 noch Zugriff darauf. Wahrscheinlich enthielt M 1569 mindestens 90 weitere Stücke, im Band konnte aber logischerweise nur Hippes Auswahl wiedergegeben werden.

Die Edition bietet keine genaue historische Kontextualisierung, inhaltliche oder interpretatorische Einschätzung des Materials, sondern stellt es entsprechend präziser Herkunftsbestimmung, chronologischer Festlegung und als Variantenabgleich bereit. Die Herausgeberin dokumentiert etwa im Falle der gedruckten Gedichte sämtliche Druckfehler unter genauer Angabe der entsprechenden Stelle/Verszeile in den Vorlagen, die handschriftlich fixierten Gedichte sind sämtlich transkribiert und alle Schreib-Operationen Kölers darin minutiös markiert: seine Durchstreichungen, Korrekturen und sprachlichen Alternativen, die er als Varianten interlinear über auszutauschende Wörter einfügt. Zudem sind alle Stellen, die nicht einwandfrei oder aufgrund von absoluter Unleserlichkeit gar nicht entziffert werden konnten, als solche identifiziert. Handschriftliche Gedichte, die Hippe und andere wie der Neubegründer der Breslauer Barockforschung Marian Szyrocki (in Zusammenarbeit mit Doris Weyen) schon früher abgedruckt haben, werden ebenfalls mit der handschriftlichen Vorlage kritisch verglichen und wo nötig emendiert. Immer ist die Version entscheidend, die für Kölers Produktionsursprung als authentisch gelten kann. Das bedeutet, dass die Autoren-Schreibweise maßgeblich ist.

Die Idiosynkrasie der barocken Dichtung, also ihre historische Alterität, erklärt, warum für heutige Leserinnen und Leser nicht alle Stücke wie Gedichte anmuten dürften. Unter den in den Handschriften überlieferten Nummern finden sich zweifellos ‚normale‘ Poeme, wenn damit gemeint sei, dass die Sonette und konventionellen Achtzeiler (mit und ohne Titel), Epigramme, Carmina, Liebes- und Freundschaftsgedichte, panegyrischen Hymnen, Begräbnisverse, Ehrengedächtnisse, anakreontischen Reime, Inschriften, Lobpreisungen und Sehnsuchtsevokationen eine klassische lyrische Form besitzen und eine konventionelle Anzahl an Strophen, Versen und Zeilen nicht überschreiten. Es handelt sich mehrheitlich um lyrische Casualia, zumeist im jambischen Alexandriner und zum festlichen Anlass verfasst. Anders ausgefallene idiosynkratische Barockstücke, wie sie mehrfach unter den „Gedruckten Gedichten“ begegnen. Auch bei ihnen handelt es sich hauptsächlich um Gelegenheitsdichtungen mit vertrauten Anlässen wie Hochzeit, Tod oder Namenstag. Aber es erstaunen und vergnügen doch Stücke wie Poem 65 Zur Hochzeit von Carl Friedrich Hertzog zu Münsterberg und Sophia Magdalena Hertzogin zu Liegnitz und Brieg (datiert auf 1642), bei dem eine polyphone Antikenrevue auf zehn Seiten, in 408 Verszeilen und römisch nummerierten Abschnitten die im Titel annoncierte Trauung begleitet. Oder die köstliche Nummer 108, ebenfalls ein Hochzeitsgedicht, das sich über 21 Seiten erstreckt, prima vista einer Büttenrede ähnelt und erst allmählich, gleichsam wie nach der ‚Aufwärmung‘ eine konventionelle(re) lyrische Form annimmt.

Kölers Einsätze sind vielfältig: Außer als Dichter wirkte er pädagogisch, insbesondere als Professor für Geschichte und Beredsamkeit am Elisabeth-Gymnasium. Damit war er aktiv in die Ausbildung des Nachwuchses involviert, und mehrere hochkarätige Dichter der Epoche, allen voran der erwähnte Hoffmann von Hoffmannswaldau, aber auch Johannes Scheffler und Andreas Scultetus sind nachweislich von ihm literarisch beeinflusst worden. Zudem leitete Köler in stadtkulturtätiger Verantwortung die Kirchenbibliothek zu St. Maria-Magdalena. Mithin lässt sich der Mann sogar in doppelter Weise als poeta doctus (gelehrter Dichter) charakterisieren: Er entspricht der Forderung seines Vorbilds Martin Opitz, der mit diesem Kombinationstyp sein Dichterideal definiert, das derjenige erfüllt, der die verbindlichen Regeln der Dichtkunst beherrscht und zugleich lyrisch-musisch inspiriert ist, sprich das nötige Talent zum Dichten besitzt. Indessen war Köler auch im erweiterten Sinn gelehrt, sein Studium, die Professorentätigkeit und die Bibliothekarsarbeit zeugen von seiner doctrina und sapientia. Nicht zuletzt besticht Kölers (mindestens) exzellente Zweisprachigkeit, nämlich Deutsch und Latein, womöglich zusätzlich Französisch, vielleicht auch Polnisch. Mit besagter Bilingualität ist er natürlich kein Einzelfall, sondern agiert im Rahmen der dichterischen wie gelehrten Realität der Zeit. Es ist aber auch gerade das dezidierte Anliegen dieser Werkausgabe und insbesondere der beiden Gedichtbände (Deutsche Gedichte, Band 1,1 und Lateinische Gedichte, Band 2,1), die bilinguale ‚Normalität‘ der dichterischen Tätigkeit Kölers in der res publica litteraria seiner Zeit sichtbar zu machen.

In der Vorbemerkung zum Band, die der Köler-Gesamtwerkausgabe gilt, betonen das Initiatoren- und Hauptherausgeberduett Mirosława Czarnecka und Hans-Gert Roloff, dass Kölers „eigenständige dichterische Ausformung sowohl der antik-lateinischen Geschichte als auch des lutherischen Protestantismus“ noch der genauen Entschlüsselung bedürfe, um „die dahinter verborgenen allgemeinen Werte seiner Bildungsschicht definieren zu können“. Unabdingbar dazu sei der Zugang und die Sichtung aller Köler’schen Werkteile, sprich seine deutschen wie lateinischen Gedichte, Übersetzungen, Schul- und andere Prosaschriften, Reden, die Korrespondenz von und an ihn sowie sonstige Lebensdokumente – soweit greifbar. Erst dann könne man wissen, wer Christoph Köler eigentlich war. Das ist richtig, vielleicht lässt sich aber präzisieren, dass anstatt herauszubekommen, wer Köler eigentlich war, sich auf der Grundlage der Werkanteile vielleicht eher erhellt, was ihn alles auszeichnete, welche Kompetenzen er besaß und welche Leistungen er vollbracht hat.

Die vorliegende Ausgabe der deutschen Gedichte ist, wie die bereits publizierte Edition der lateinischsprachigen Lyrik, willkommen und notwendig: Endlich liegt die deutschsprachige lyrische Materialsubstanz des multitalentierten Autorsubjekts Köler vor. Wer mehr als die in den Gedichten enthaltene Selbstauskunft des Autors sucht, wird die Sekundärliteratur konsultieren. Die puristische Edition bietet sie nicht, sie steht vollkommen im Zeichen der erschließenden Bereitstellung des lyrischen Werks Kölers und füllt damit eine ganz wichtige Leerstelle.

[1] Hans-Gert Roloff: Wer war Christoph Colerus/Coler/Cöler/Koler/Köler/Köhler? In: Literaturgeschichte 17. Jahrhundert. Hg. v. Mirosława Czarnecka und Wolfgang Neuber (Germanistischer Brückenschlag im deutsch-polnischen Dialog, II. Kongress der Breslauer Germanistik 2). Breslau 2006. S. 9–16. S. 9.

[2] Anne Wagniart (Hg.): Christoph Köler. Werke. Bd. 2,1 Lateinische Gedichte (1626–1657). Berlin 2018.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

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Kalina Mróz-Jabłecka (Hg.): Christoph Köler: Deutsche Gedichte. Werke (Wissenschaftliche Ausgabe). Band 1,1.
Weidler Buchverlag, Berlin 2021.
784 Seiten, 190,00 EUR.
ISBN-13: 9783896937001

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