Flucht als Chance

Weibliches Empowerment steht im Mittelpunkt von Paula McGraths Roman „Dann rennen wir“. Doch der erfordert viel Durchhaltevermögen, bis am Ende die unterschiedlichen Erzählstränge zusammengeführt werden.

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Irland,1982: Die 16-jährige Jasmine macht sich auf nach London, denn sie will weg von der alkoholkranken Mutter und dem engen Dorfleben. Doch statt in der Metropole als Tänzerin durchzustarten, gerät sie nicht nur finanziell in große Nöte, sodass sie nach kurzer Zeit in ihr Heimatland zurückkehrt. In Dublin hält sie sich mit einem Job in einem Wettbüro über Wasser. Durch die Begegnung mit George, einem kenianischen Medizinstudenten, bekommt ihr Leben ein neues Ziel. Sie möchte Boxerin werden, obwohl das im Irland der 1980er für Mädchen verboten ist – und ihren Schulabschluss nachholen, um Medizin zu studieren.

Ebenfalls Irland, 2021: Eine namenlose Ich-Erzählerin arbeitet als Gynäkologin in einer Klinik und überlegt, ob sie der repressiven Abtreibungspolitik des Landes entfliehen soll, die sie und ihre KollegInnen massiv in ihren Hilfeleistungen für Frauen in Not einschränkt. Dazu ermuntert sie ausdrücklich ihr in London lebender Freund, der auch bereits Vorstellungsgespräche für sie arrangiert. Doch sie ist unschlüssig, ob sie ihre demente Mutter in einem Dubliner Pflegeheim allein lassen kann, auch wenn diese kaum noch mitbekommt, dass sie sich fürsorglich um sie kümmert.

Maryland (USA) 2021: Hier steht die Teenagerin Ali plötzlich als Waise da. Mit ihrer Mutter hatte sie zeitlebens ein inniges Verhältnis, sie lebten frei und unkonventionell auf einem Boot. Doch nun soll sie bei den alten Eltern ihres verstorbenen Vaters ein höchst bürgerliches Leben führen. Die lieblose Enge dort treibt sie auf und davon. Mit einer dubiosen Motorradgang bricht sie gen Westen auf. Wohin sie will, und was sie dort anfangen möchte, weiß sie selbst nicht genau…      

Paula McGrath präsentiert uns in ihrem Roman Dann rennen wir drei Schicksale von Frauen, die unterschiedliche Dinge erleben, aber die eines gemeinsam haben: Sie alle laufen vor etwas davon und hoffen auf ein besseres, selbstbestimmtes Leben. Dabei sind die Ursachen für ihre Flucht – allen gesellschaftlichen und zeitlichen Unterschieden zum Trotz –sehr ähnlich. Sie alle versuchen, beklemmenden Familienverhältnissen, gesellschaftlichen Einschränkungen gegenüber Frauen sowie Gewalterfahrungen zu entkommen. Ihnen allen ist dabei auch gemeinsam, dass ihre Flucht ein Akt der Befreiung darstellt, der es ihnen ermöglicht, sich weder zu beugen noch zu verstecken, sondern ihr Leben fortan in selbstbestimmte Bahnen zu lenken.

Doch die Freude angesichts von gleich drei Geschichten über weibliches Empowerment ist leider nicht ungetrübt. Das ist sehr stark der Erzählweise geschuldet, die Paula Mc Grath gewählt hat. Über weite Strecken des Romans hinweg lässt die Autorin die Lesenden im Unklaren, was die Frauenschicksale miteinander verbindet. In kurzen Episoden erfahren wir aus den persönlichen Blickwinkeln der drei Figuren etappenweise deren Geschichte. Dies erzeugt aber nicht die erhoffte Spannung, sondern gestaltet die Lektüre über weite Strecken hinweg zäh und mühsam. Das trifft umso mehr zu, als Jasmine allein etwas größeren Raum im Roman eingeräumt bekommt und somit als einzige der Figuren die Chance hat, emotionale Vielschichtigkeit und Tiefe zu zeigen. So bleibt sie auch die Einzige, deren Reife- und Entwicklungsprozess wirklich nachvollziehbar ist.

Die anderen beiden wirken neben ihr schablonenhaft und blass – und das ermüdet beim steten Wechsel der zum Teil sehr kurzen Episoden. Das ändert sich glücklicherweise im Laufe des Romans, allerdings erst zum Ende hin, als eine weitere weibliche Erzählstimme dazu stößt und die Ahnung dessen, was alle Schicksale miteinander verbindet, langsam zur Gewissheit wird. In dem Part mit der zusätzlichen Erzählerin führt uns die Autorin noch weiter in die Vergangenheit. Drastisch und mit großer Empathie lässt sie die fürchterlichen Lebensumstände irischer Frauen der 1950er und 1960er Jahre lebendig werden, die als ledige Mütter keine Wahl hatten, als ihre ungewollten Kinder der Kirche für Adoptionen zu überlassen.

Hier zeigt sich die wahre Erzählkunst von Paula McGrath, denn am Ende des Romans legt sie – ebenso wie in den Kapiteln aus Jasmines Sicht – eine kraftvolle, nuancenreiche Sprache an den Tag. Mit präzisem Blick für strukturelle weibliche Unterdrückung vermittelt sie so nicht nur die Sorgen und Nöte der Frauen ebenso eindringlich wie realistisch, sondern zeigt auch individuelle Wege auf, sich (zumindest teilweise) aus diesen zu befreien. Leider erfordert es ein gutes Quantum an Durchhaltewillen und Neugier, um zu diesem durchaus bereichernden Leseerlebnis zu gelangen.

Titelbild

Paula McGrath: Dann rennen wir.
Aus dem Irischen von Karen Gerwig.
Jumbo Verlag, Hamburg 2022.
304 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783833744198

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch