Zum 90. Geburtstag der Dichterin Sylvia Plath
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Von Simone Frieling
Literaturkritik.de (Ltk): Frau Frieling, Ihr kürzlich erschienenes Buch mit dem Titel „Sylvia Plath. Jeder sollte zwei Leben haben“ (auch mit Grafiken von Ihnen) über die amerikanische Dichterin, die am 27. Oktober 1932 in Boston geboren wurde und sich am 11. Februar 1963 in London das Leben genommen hat, beginnt mit der minuziösen Rekonstruktion dieses Suizids. Warum haben Sie mit dem Ende ihres Lebens begonnen?
SF: Bei einem langen erfüllten Leben, wie es zum Beispiel Goethe zuteilwurde, wäre es mir nicht in den Sinn gekommen, mit seinem Tod zu beginnen. Da würde man vielleicht mit der Flucht aus den engen Verhältnissen der Weimarer Gesellschaft nach Rom beginnen, die etwas Wesentliches von Goethes Charakter zeigt.
Das Leben von Sylvia Plath aber war kurz und dramatisch, sie war erst dreißig Jahre, als sie es beendete. Diesem Schlusspunkt kommt also eine besondere Bedeutung zu. Außerdem erregt er große Emotionen: vom Mitleid hin bis zur Abscheu. Die Familie ihres Mannes Ted Hughes hat Sylvia Plath wegen dieser Tat gehasst. Umgekehrt wurde der Ehemann von der weiblichen Leserschaft gehasst, weil sie ihn als Verursacher ihres frühen Todes ansah.
Nun wollte ich mit der sachlichen Rekonstruktion ein Zeichen für den weiteren Verlauf des Buches setzen, dass ich erst einmal ganz neutral vorgehe wie ein Kriminalist oder Arzt, der nur beschreibt, was er vorgefunden hat, ohne seine Gefühle mitsprechen zu lassen. Um von dieser Schnittstelle des Todes das Vorher und das Nachher zu ergründen, bei dem es natürlich manchmal zu Wertungen kommt.
Ltk: Ist denn das Leben von Sylvia Plath so verlaufen, dass sich alles auf den Tod hin konzentriert hat? Ist ihr Leben nur von dem Endpunkt, dem Freitod, her erklärbar?
SF: Im ersten Moment ist man verführt, das zu glauben, weil Plath dem Tod in ihrem Werk einen großen Platz, einen zentralen, einräumt. Aber spätestens wenn man die Gedichte Birthday Letters von Ted Hughes liest, der sechs Jahre mit Sylvia Plath verheiratet war, und in seinen 88 Gedichten über die gemeinsame Zeit alles vom Tod her aufrollt und erklärt, nimmt man Abstand. Es ist ein ‚Besserwissen‘ des Überlebenden, das es sich einfach macht.
Sylvias Leben war sehr widersprüchlich, sie war konträren Gefühlen unterworfen, die sie immer wieder fast zerrissen, in tiefste Krisen gestürzt haben. Sie hat unglaublich gekämpft für einen hellen, normalen Alltag. Und bei diesem Kampf, den sie auch manchmal gelassen ruhen lassen und ohne den sie dann ihr Glück genießen konnte, wollte ich sie sehen und begreifen. Mein Buch sollte möglichst viele Facetten ihrer Persönlichkeit beschreiben – auch die vitalen.
Ltk: Haben sich denn Ihre Gefühle während der Beschäftigung mit dieser Dichterin verändert oder geklärt?
Grundsätzlich möchte ich der Person, der ich mich lesend und schreibend fast ein Jahr widme, Gerechtigkeit und Sympathie entgegenbringen, auch wenn, wie in diesem Fall, mir ihr Suizid im Hinblick auf ihre beiden kleinen Kinder, die im Stockwerk über ihr schliefen während der Tat, als unverzeihlich erscheint. Aber ich bin mehr der Autorin verpflichtet als ihren Kindern.
Und ja, ich war erst sehr bedrückt bei der Arbeit und wusste eine Zeit lang nicht, ob ich sie zu Ende führen sollte. Dann aber, als ich die Distanz gefunden hatte, wurde das Kennen- und Verstehenlernen dieser Person etwas Kostbares. Und als ich dann noch begriffen habe, wie gut, wie meisterlich einige ihrer Gedichte sind, war ich auch – neben kritischen Gedanken – verzaubert.
Ltk: An das Ende jedes der elf Kapitel haben Sie ein oder zwei Zitate gestellt und als „Stimmen“ deklariert.
SF: Mein Buch ist dialogisch angelegt: Ich lasse nicht nur Sylvia Plath ‚zu Wort kommen‘, sondern auch ihre Mutter Aurelia Plath-Schober, ihren Ehemann Ted Hughes, den Freund Alfred Alvarez und andere. Aber das sind alles Menschen, die aus dem einen oder anderen Grund wenig Abstand zu Sylvia Plath gehabt haben. Wichtig war mir bei den „Stimmen“ auch, Autoren zu hören, die das ganze Phänomen von außen betrachten, manche wie Susan Sontag oder Cesare Pavese, ohne Plath zu kennen. Ich wollte ein vielstimmiges Urteilen ohne Verurteilung.
Ltk: Als Sylvia Plath am 11. Februar 1963 starb, war sie da eine anerkannte Autorin?
SF: Nein, zu Lebzeiten war sie weder bekannt noch anerkannt. Damals musste die amerikanische Schriftstellerin, die 1955 mit einem Auslandsstipendium nach England kam, darum kämpfen, sich durch verschiedene Tätigkeiten ihren Lebensunterhalt zu sichern. Ihr einziger Roman Die Glasglocke, den sie unter Pseudonym herausbrachte, bekam zwar einige wohlwollende Rezensionen, fand aber erst einmal kein großes Publikum. Auch die Genialität ihrer Gedichte wurde nur von wenigen erfasst; zu ihnen gehörten an erster Stelle ihr Ehemann Ted Hughes und der Literaturkritiker Alfred Alvarez, der einzelne ausgewählte Gedichte im Observer abgedruckt hatte. Erst nach ihrem Tod wurde ihr Werk entdeckt und Sylvia Plath avancierte zu einer großen Repräsentantin der Frauenliteratur des späten zwanzigsten Jahrhunderts.
Ltk: Wurde sie denn nach ihrem Tod mit einem Schlag berühmt?
SF: Nein, denn von ihrem Tod erfuhr erst einmal niemand. Dem Ehemann, der vor Sorgen um die beiden kleinen gemeinsamen Kinder zunächst nicht ein noch aus wusste, lag nichts ferner, als den Tod seiner Frau für publizistische Zwecke zu benutzen. Das tat er viel später, als er begriff, wie groß das Interesse der Öffentlichkeit an ihrem Werk war.
Es ist der Literaturkritiker Alfred Alvarez gewesen, der sich für ihren Nachruhm einsetzte. Im Observer schrieb er eine Woche nach ihrem Tod, Sylvia Plath sei „ein völlig neuer Durchbruch in der modernen Lyrik“ gelungen; er pries sie an als „die begabteste Dichterin unserer Zeit“. Und trauernd fügte er hinzu: „Der Verlust für die Literatur ist unermesslich“.
Vier ihrer letzten Gedichte präsentierte er auf derselben Seite neben seinem Nachruf; sie waren es, die eine Flut von Leserbriefen hervorriefen. Alvarez war der erste Literaturkritiker, der in den Medien einen Zusammenhang herstellte zwischen den veröffentlichten Gedichten und der Protagonistin Esther Greenwood aus dem Roman Die Glasglocke, der kurz zuvor erschienen war. Damit machte Alvarez die Öffentlichkeit darauf aufmerksam, dass hier eine Autorin nicht nur in ihren Gedichten einen ganz neuen Ton angeschlagen hatte, sondern auch Verfasserin eines eigenwilligen Romans war.
Ltk: Wie wurde denn dieser doch auch deprimierende Roman, der sich mit dem Schrecken der Psychiatrie beschäftigt, von der Öffentlichkeit aufgenommen?
SF: Von Anfang an wurde das Werk von Sylvia Plath als Bekenntnisliteratur gelesen und ein starker autobiographischer Bezug vermutet. Zu diesem Verständnis hat Alvarez beigetragen, obwohl er am 17. Februar 1963 die Umstände, die zu ihrem Tod geführt hatten, nicht preisgab. Die Leserinnen und Leser aber, bekannt gemacht mit ihrem Werk, vertrauten ihrem eigenen Kompass. Sie waren überwältigt von der Intensität ihrer Sprache und besonders ihrer Metaphern. Erwartungsvoll, wie auch die Presse, hofften sie auf weitere posthume Veröffentlichungen.
Ltk: Hat man auch die Gedichte der „Ariel“-Sammlung in diesem Kontext gelesen?
SF: Als zwei Jahre nach Der Glasglocke die Gedichtsammlung Ariel herauskam, erregten die Gedichte so viel Aufmerksamkeit, weil sie im engsten Zusammenhang mit Sylvias Freitod gelesen wurden, der nun bekannt war. Die Leser glaubten, durch die Gedichte etwas zu erfahren über den Tod selbst, als hätte Sylvia Plath sie schon aus der anderen Welt geschrieben, zu der die Leser als Lebende keinen Zugang hatten. Die Frage, welche Erfahrungen Sterbende machen und wohin sie im Tod gehen, ist ein Menschheitsthema. Da Sylvia sich ganz bewusst in das Grenzland zwischen Leben und Tod begeben hatte, vermuteten die Leser, über dieses ‚Zwischenreich‘ von ihr Wichtiges zu erfahren. Zu allen Zeiten haben Menschen der Kunst viel zugetraut: dass nur sie über existenzielle Fragen Aufschluss gibt, die sonst unbeantwortet bleiben.
Ltk: Was ist denn das Einzigartige an Sylvia Plath? Können Sie dazu eine paar Worte sagen?
SF: Die Klarheit und Schärfe ihres Blicks, den sie ebenso auf die Nachtseite wie die Schönheit des Lebens richtete. Wenn sie auch als Frau vielen Konventionen verhaftet blieb, die sie unfrei machten, so gab es doch einen Bereich, in dem sie unbestechlich war, in dem ihre eigenen Schwächen keine Rolle mehr spielten: das macht die meisten ihrer Gedichte aus. Todesmutig ging sie an die Themen, die andere Menschen kaum ‚denken‘ können. Das Gedicht „Rand“ zum Beispiel, das sie eine Woche vor ihrem Suizid schrieb, handelt von der Vervollkommnung des Lebens durch den selbstgewählten Tod. Das Gedicht, ohne einen Anklang von Selbstmitleid, Zorn oder Anklage, ist eines ihrer perfektesten. Die ersten drei Zeilen lauten: „Die Frau ist vollendet. / Ihr toter / Körper trägt das Lächeln des Erreichten.“ Dieses Kunstwerk hat eine Kraft, wie wir sie in einem antiken Mythos spüren.
Ltk: Gibt es auch ein Beispiel für ein Gedicht, das die ‚helle‘ Seite des Lebens zum Thema hat?
SF: Ja, und zwar ein Dinggedicht, das sie am selben Tag geschrieben hat wie „Rand“. In „Ballons“ beobachtet die Dichterin in stillem Vergnügen das Eigenleben von drei Luftballons, die mit Gas gefüllt sind und seit Weihnachten bei ihr und den Kindern in der Wohnung „leben“. Die ovalen „Seelentiere“ bewegen sich und machen Geräusche: Sie „quieken und schnalzen“. Die „sonderbaren Monde“, „die Kugeln aus leichter Luft“, erfreuen „das Herz wie Wünsche oder freie Pfauen“. In den beiden letzten Strophen schildert Plath ihrer Tochter, wie „dein kleiner Bruder“ seinen Ballon jaulen lässt ähnlich einer Katze; wie er durch den Ballon durchsieht auf die andere Seite einer „rosa Welt, die er essen könnte“. Und der Bruder beißt auch wirklich zu. „Dann setzt er sich/ Zurück, ein bauchiger Krug, / Der eine Welt betrachtet, klar wie Wasser,/ In seiner kleinen Faust/ Einen roten Fetzen.“
Das Gedicht ist schalkhaft, voller Alltagsfreude und genauer Beobachtung. Es gaukelt uns vor, dass der Gegenstand eine Beziehung zum Menschen eingeht. Die Ballons sind heiter, verspielt, „rollen zur Ruhe“, wenn man sie stört. „Ballons“ ist eines der schönsten Dinggedichte der neueren Weltliteratur.
Ltk: Es ist erstaunlich, dass Sylvia Plath an ein und demselben Tag zwei so gänzlich verschiedene Gedichte geschrieben hat, ein dem Tode zugewandtes und eines, das die unspektakulären Freuden des Lebens besingt. Können Sie sich das erklären?
SF: Sylvia Plath war mit den zwei Seiten der menschlichen Existenz tief vertraut: mit der Leichtigkeit und der Schwere, mit der Freude und dem Leid, mit der Maskerade der Menschen und ihrer Entlarvung. Sie liebte das Leben, sie ertrug düstere Zeiten der Depression. Mit ungeheurer Energie suchte sie ihre inneren Feinde auf, wollte sie begreifen und Frieden mit ihnen schließen, sie aber waren die mächtigeren.
Ltk: Noch eine letzte Frage: Welche Bedeutung hat der Titel Ihres Buches „Jeder sollte zwei Leben haben“?
SF: Sylvia Plath hat das Ende ihres Romans Die Glasglocke so angelegt wie einen Neubeginn, wie den Schritt hinaus in ein zweites Leben. Nach ihrer Lesart steuert der ganze Roman auf „eine Wiedergeburt“ zu. Diese lebensbejahende Botschaft ist Sylvia Plath wichtig, aus autobiographischen Gründen: lebenswichtig. „Jeder sollte zwei Leben haben“, ruft die Protagonistin Esther Greenwood dem Leser zu und die Verfasserin selbst möchte daran glauben.
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