Ichsüchtige Mutter, herzschwacher Vater, übermäßig geliebter Sohn

Liz Nugent aus Irland lässt in einem beeindruckenden Psychokrimi tödliche Geheimnisse „Auf der Lauer liegen“

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Mein Mann hatte eigentlich nicht vor Annie Doyle umzubringen, aber diese verlogene Schlampe hat es nicht anders verdient.“ Dieser erste Satz des Buchs verrät, dass es nicht um Täterermittlung, sondern um Gründe und Konsequenzen eines Mordes gehen wird. Die irische Autorin Liz Nugent entwickelt in 28 knappen Kapiteln aus drei unterschiedlichen Erzählperspektiven eine spannende und schmerzliche Geschichte, die am 14. November 1980 mit dem vorweggenommenen Mord beginnt und bis in das Jahr 2016 hineinreicht.

Schon bald wird klar, dass der erste Satz nicht die ganze Wahrheit ist – wie fast alles, was Lydia Fitzsimons, Ehefrau eines angesehenen irischen Richters, von sich gibt. Sie selbst war es, die der von ihrem Mann gewürgten 22-jährigen Annie mit der Lenkradkralle den Schädel eingeschlagen hat. Nicht nur bekommt sie im Roman das erste und das letzte Wort; sie ist auch dessen Hauptperson. Die Autorin legt immer wieder andere Schichten dieser kranken und ichsüchtigen, aber auch liebenden und leidenden Frau frei, so dass es schwerfällt, zu einem endgültigen Urteil zu kommen. Ihr Mann hat alles Geld einem Betrüger anvertraut und überlebt mit seinem schwachen Herzen die Gewissensqualen wegen Annies Tod nicht. Lydia will trotz der finanziellen Misere unbedingt im herrschaftlichen Haus „Avalon“ in Dublin bleiben, der Stätte ihrer Kindheit und eines weiteren Verbrechens.

Laurence Fitzsimons, Sohn der beiden, ist der zweite Erzähler. Er wittert Unrat, als ihn seine Eltern wegen ihres Alibis für die Mordnacht belügen, will aber nach dem bald darauf eintretenden Herztod des Vaters seine Mutter nicht in Gefahr bringen. Sie verschweigt ihm, dass sie den Mord vollbracht hat, und auch ihr Motiv: Annie, die als bezahlte „Leihmutter“ ein Kind von Richter Fitzsimons austragen sollte, hat das Ehepaar erpresst. Laurence begräbt Annie im Garten unter dem Küchenfenster. Nach wenig ersprießlichen Beziehungen mit einer vulgären Mitschülerin und einer heiratswilligen Arbeitsamtkollegin lernt er Karen Doyle kennen. Da hat der wegen seines Leibesumfangs gemobbte junge Mann dank der von der Mutter heimlich verabreichten Appetitszügler ordentlich abgespeckt.

Karen Doyle besetzt die dritte Erzählperspektive. Beruflich ist ihr der Aufstieg als Fotomodell gelungen, sie verdient gut und macht auch im Ausland Karriere. Als liebende Schwester von Annie setzt sie alles daran, das Schicksal der Verschwundenen aufzuklären. Dann treffen zwei Briefe ein, in denen Annie mitteilt, es gehe ihr gut, jedoch wolle sie noch eine Weile im Verborgenen bleiben. 

Der klugen Karen entgeht nicht, dass Laurence ausgerechnet am Tag des Poststempels des zweiten Briefs „von Annie“ an dessen Aufgabeort war. Hat er etwa beide Briefe gefälscht? Laurence gibt das sofort zu. Ende der Beziehung? Im Gegenteil! Karen sagt: „Ich glaube, ich liebe dich auch.“ Sie will eine Zukunft mit ihm und nicht mit ihrem schlagkräftigen Ehemann Dessie. Da kommt Hoffnung auf, alles werde noch gut. Das wird es natürlich nicht.

Der für Laurence wie für die daran schuldige Lydia tragische Ausgang sei hier nicht gespoilert. Es genüge der Hinweis, dass ein Trilby-Hut und ein alter Jaguar, einst mehrfach in der Nähe von Annie Doyles Wohnung gesehen, als Beweismittel gegen Laurence dienen.

Beim knappen Abgesang im Jahre 2016 gibt es nur noch zwei Erzählstimmen. Karen ist zu Dessie zurückgekehrt und hat zwei Kinder mit ihm, jedoch nicht ihr Glück gefunden, weil er sie psychologisch tyrannisiert. Und Lydia? Sie bekam wie immer ihren Willen, doch um welchen Preis? Verwirrt und einsam wohnt sie in „Avalon“, meint aber, dass ihre Eltern und ihr Mann noch am Leben sind. Am Ende hat man mit der im Wahnsinn versinkenden Frau kein Mitleid – ihr mörderischer Egoismus hatte weit dramatischere Folgen als ihre übertriebene Mutterliebe.

Gerade weil Liz Nugent überzeugende psychologische Porträts erschafft, bedauert man, dass Detective Sergeant Declan O‘Toole zur Karikatur wird, ein Widerling durch und durch, eine Schande für die irische Polizei, die sich ohnehin nur halbherzig bemüht, das Verschwinden der vermeintlich leichtlebigen Annie aufzuklären, die zur Unterschicht gehörte. Klassenunterschiede werden auch deutlich durch Lydias immer wieder durchbrechende Arroganz und durch die Befangenheit einfacher Leute den „Vornehmen“ gegenüber.

Die Übersetzung aus dem Englischen von Kathrin Razum ist gelungen; das sprachliche Gefälle zwischen Oberschicht und Unterschicht war vermutlich auch im Original nicht ausgeprägt, wenn man von der vulgären Helen absieht. Beim Buchtitel ist anzunehmen, dass sich das englische „Lying In Wait“ auch auf den im Garten vergrabenen Leichnam der Annie Doyle bezieht – sterbliche Überreste liegen wohl kaum „auf der Lauer“.

So schrecklich die Geschehnisse sind, ergeht sich Liz Nugent nicht in blutigen Szenen, sondern veranschaulicht die kalte Macht der Lüge und des Egoismus bis zur letzten Konsequenz. Das Schicksal von Laurence, der „geschäftsunfähig“ wird, und von Karen, die glauben muss, den Mörder ihrer Schwester geliebt zu haben, ist herzzerreißend.

Titelbild

Liz Nugent: Auf der Lauer liegen.
Aus dem Englischen von Kathrin Razum.
Steidl Verlag, Göttingen 2022.
345 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783969991084

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