Der Drahtseilakt von Einführen und Darstellen

Peter Welsens „Grundriss Schopenhauer“

Von Maximilian HuschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Huschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wissenschaftliche Einführungen sind niemals eine leichte Sache. Solche in die Philosophie, philosophische Diskussionen oder Werke haben darüber hinaus eine weitere Schwierigkeit: Sie können nicht allein als Darstellung erfolgen. Liegt es in anderen Fächern nahe, eine gemeinverständliche Skizze des thematischen Bereiches zu geben, löst das in der Philosophie gern Unbehagen aus. Schließlich ist das, worum es wesentlich geht, nämlich die argumentative Entwicklung grundlegender Gedanken, nicht unabhängig davon, wie es dargelegt wird. Berüchtigt Hegels Diktum über einführende oder summarische Darstellungen in Vorreden beispielweise: Sie scheinen „nicht nur überflüssig, sondern um der Natur der Sache willen sogar unpassend und zweckwidrig zu sein“ (G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Gesammelte Werke, Band 9, Hamburg 1980). Die Natur der Sache ist nun mal der argumentative Gedanke, der sich gegen eine schematische Darstellung sträubt.

Ähnliches gilt für philosophische Lexika. Hier ist die Bemerkung von Helmut Reinicke zu seinem Register der zwanzigbändigen Theorie-Werkausgabe Hegels sprechend: Sei eine „lexikalische Ausweitung des Unternehmens“ auch „erforderlich“, weil eine „Zahlenbelegrubrik […] die stets neu sich exponierenden Begriffe innerhalb des Systems aufs dürrste [sklerotisiert]“, „vergewaltigten“ selbst „Rubrizierung und Schlagwortgruppen – den Hegelschen Kontext noch in unzulässiger Weise“ (Helmut Reinicke: ›Vorwort‹, in G. W. F. Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Register, Frankfurt a. M. 1986). Zweifelsohne moralisch haarsträubend ließe sich somit von Lexikon und Einführung sagen: Wenn gegen Hegels Diktum doch etwas Gemeinverständlichkeit gewonnen werden soll, ist die Krux des Unternehmens, die Sache in „zulässiger Weise“ zu „vergewaltigen“. Das heftige Vokabular macht die paradox anmutende Stellung von solchen Vorhaben deutlich: Die Darstellung, ob einführend oder lexikalisch, setzt die Stillstellung von Gedanken voraus, um deren Bewegung es gerade geht.

Dieser allgemeinen Herausforderung trägt Peter Welsens im letzten Jahr veröffentlichtes Handbuch zu Schopenhauer in eigener Weise Rechnung. Unter dem Titel eines Grundrisses bietet der Band vier verschiedene Zugänge zum Werk Schopenhauers: Neben je einem Kapitel zu Leben und Rezeption findet sich darin ein systematischer Abriss, während der größte Teil des Bandes in Form von Lemmata die zentralen Begriffe von Schopenhauers Werk darlegt.

Die Abschnitte zu Leben, Rezeption und System sind durchaus informativ. Sie sind gut verständlich und bieten einen ersten Überblick zu Person und Werk. Das grundlegende Ziel des Handbuchs aber, „gebildete[n] Laien, Studenten und Wissenschaftler[n]“ „eine grundlegende und kompakte Orientierung zu vermitteln“, erreicht es insbesondere in seinem Lexikon-Teil, in dem es diskursiv in die Begrifflichkeit Schopenhauers einführt. In gewissem Sinn versucht Welsen so das Problem des Stillstellens von Lexika zu lösen, indem er sein Buch als eine Einführung aufzieht. Umgekehrt stellt er sich der Gefahr von Einführungen, der „Natur der Sache“ nicht gerecht zu werden, indem er argumentativ die zentrale Begrifflichkeit Schopenhauers entwickelt. Die Verbindung von Einführung und Lexikon erweist sich somit als äußerst produktiv und hilfreich für die eigene Lektüre.

Der lemmatische Teil weist sonst wenig Ähnlichkeiten mit anderen philosophischen Lexika auf. Verglichen beispielsweise mit dem Schopenhauer-Lexikon, das Daniel Schubbe und Jens Lemanski ebenfalls im letzten Jahr herausgegeben haben, sind die Artikel deutlich länger. Zudem fällt auf, dass es keine separaten Verweise auf ähnliche Stichworte oder zentrale Textstellen gibt. Das bedeutet nicht, dass Welsen auf derartige Verweise verzichtet. Vielmehr sind alle Ver- und Hinweise in den Text eingebunden. Daran wird auch der einführende Charakter der Texte sehr deutlich, und Welsen schafft es, die Orientierung zu bieten, um die es ihm geht.

Die ein- bis zehnseitigen Einträge des lexikalischen Teils versuchen stets zunächst den jeweiligen Begriff systematisch hinsichtlich seiner Stellung und Bedeutung im Werk Schopenhauers zu verorten, um daraufhin seinen Gehalt zu entwickeln. Der Fokus dieser argumentativen Arbeit liegt dabei auf den Hauptwerken, umreißt aber die begriffliche Entwicklung innerhalb des gesamten Schaffens Schopenhauers, wenn es angebracht ist.

Wiederholt wird deutlich, dass es Welsen nicht um eine Glättung der terminologischen und systematischen Probleme in den Texten Schopenhauers geht. Stattdessen macht er an essentiellen Begriffen immer deren problematischen Charakter deutlich, insofern er für das Verständnis der Texte relevant ist. Das bedeutet, dass es ihm nicht um die Einführung in weitreichende Forschungsdiskussionen geht, die es zu Recht hinsichtlich einiger systematischer Komplexe gibt. Es bedeutet vielmehr, dass Welsen seine Leserschaft nicht aus den Augen verliert. Das Traktieren von problematischen Zusammenhängen dient einerseits dazu, auf Ungereimtheiten hinzuweisen, die bereits ein erstes Verständnis erschweren können, um den Einstieg in die Lektüre des Textes zu erleichtern. Andererseits geht es durchaus darum, diese Problemzusammenhänge auszustellen, um den Interessierten gewissermaßen den Weg für die weitere Diskussion und Aneignung zu weisen. Dabei ist es sehr zu begrüßen, dass Welsen darauf bedacht ist, den Weg nicht in all seinen Windungen vorwegzunehmen. Stattdessen überlässt er dessen Erkundung den interessierten Lesern Schopenhauers.

Insgesamt bietet Peter Welsens Grundriss Schopenhauer also ein gelungen gestaltetes Hilfsmittel für all diejenigen, die damit beginnen, sich mit Schopenhauer zu beschäftigen. Wer darüber hinaus mehr über Aspekte der Wirkungsgeschichte Schopenhauers oder die Forschungsdiskussionen erfahren will, kann ergänzend zum 2014 von Daniel Schubbe und Matthias Koßler herausgegebenen Schopenhauer-Handbuch oder dem bereits erwähnten Lexikon greifen. Der Grundriss füllt damit eine häufig leerbleibende Lücke in der Literatur zu philosophischen Werken und Texten: Er bietet eine grundsätzliche Einführung in das Werk eines Autors, ohne zu voraussetzungsreich zu sein oder allzu schnell statt eine Einführung in Werk und Gedanken eine in deren Erforschung zu geben. Dem Band gelingt so der gefährliche Drahtseilakt: Er komprimiert in seinen einführenden Teilen, ohne „aufs Dürrste zu sklerotisieren“, und er lexikalisiert, ohne „in unzulässiger Weise zu vergewaltigen“. Dass Welsen so zumindest performativ schafft, was Hegel kategorisch ausschloss, hätte Schopenhauer sicher gefallen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Peter Welsen: Grundriss Schopenhauer. Ein Handbuch zu Leben und Werk.
Felix Meiner Verlag, Hamburg 2021.
424 Seiten, 68 EUR.
ISBN-13: 9783787338832

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