Die neue Einsamkeit und ihre Form

Maud Meyzaud beleuchtet in ihrer Habilitationsschrift „Formen des Gesprächs – Gespräch der Formen“ die Entstehung des modernen Romans

Von Werner JungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Werner Jung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel dieser an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main entstandenen Habilitationsschrift im Fachbereich Neuere Philologien benennt präzise, worum es geht: die Entstehung des modernen Romans im 18. Jahrhundert als Ausdruck einer (geschichtsphilosophischen wie historischen) Krise und zugleich die Selbstreflexivität dieser neuen, hybriden literarischen (Prosa-)Form nachzuweisen. Denn ihr – dieser, wie es bei den Frühromantikern bezeichnend heißt, unordentlichen Form – implizit ist das Gesprächshafte, man könnte auch sagen: sind ‚kommunikative Akte‘, mittels derer die Form sich selbst verständigt. Der neue Roman – jeder eminent neue Roman – nämlich ist zugleich (s)eine eigene Romanpoetik.

Die Verfasserin dieser sich durch eine stupende Gelehrsamkeit ausweisenden Monographie zeigt dies in drei großen Kapiteln, die in Diderot und dessen Jacques le fataliste die Gründungsakte, den ‚foundation text‘, sieht, um danach bei den Frühromantikern der Athenäum-Jahre und in Schlegels Lucinde den ersten Höhepunkt zu erkennen, der dann zuletzt noch einmal von Musils Mann ohne Eigenschaften unter veränderten, dabei jedoch das Krisenszenario der Frühromantiker fortschreibenden historischen Bedingungen kulminiert.

Der ‚neue‘ Roman, den man früher gewiss mit dem Sigel des ‚Bürgerlichen‘ versehen hätte, ist, wie Meyzaud in ihrer Diderot-Lektüre verdeutlicht, ein ‚work in progress‘. Es ist also dasjenige, was die Frühromantiker dann auch – etwa im berühmt-berüchtigten Athenäum-Fragment 116 – als unabgeschlossen, fragmentarisch, offen bezeichnen. Unter Rückgriff auf Theoretiker aus dem frühen 20. Jahrhundert – Lukács und Benjamin vor allem – weist Meyzaud nach, dass und wie die Einsamkeit um 1800 (wobei sich Meyzaud hier auf eine Formulierung von Susanne Schmid bezieht) „eine Grundvoraussetzung der Konstitution von Wahrheit in einer Welt [ist], die durchweg durch Abwesenheit (durch den Rückzug Gottes, d. h. durch den unüberbrückbaren Abstand zum Signifikat) bestimmt ist.“

Hinzufügen sollte man an dieser Stelle noch, dass eben das auch der Ausgangspunkt von Lukács‘ Großessay Die Theorie des Romans gewesen ist, der bekanntlich (schon in den ersten Sätzen) von der transzendentalen Heimat- beziehungsweise Obdachlosigkeit des modernen Menschen gesprochen hat – unter expliziten Verweisen auf Fichte und die Frühromantiker. Wenn dies aber so ist, dann sollte man mit Benjamins Erzähleraufsatz weiter folgern, dass, wenn die „Geburtsstunde des Romans […] das Individuum in seiner Einsamkeit [ist]“, einen Roman zu schreiben heiße, „in der Darstellung des menschlichen Lebens das Inkommensurable auf die Spitze [zu] treiben.“ Meyzauds Schlussfolgerung lautet – und sie blickt dabei auf Novalis –, dass in der säkularisierten Moderne gerade die „Unerzählbarkeit zu einem zentralen Problem von Literatur geworden ist.“ Eine Unerzählbarkeit qua Subjektivität per se – hier ließen sich nun problemlos die unterschiedlichsten Erklärungsmuster aus den verschiedensten Theoriearsenalen herbeizitieren: Entfremdung, Kontingenzschock und so weiter.

Im Blick auf die Form kann das bedeuten, dass – im Unterschied etwa zu Lukács‘ Annahme einer Totalität – Schlegels Lucinde wie auch Musils Mann ohne Eigenschaften in die Reihe der modernen literarischen Werke gehören, „deren Abbruch offenkundig nicht rein kontingent, sondern durch die Forderung, die der literarische Text sich stellt, bedingt ist.“ Für Musil heißt das explizit weiterhin, dass „das Auseinandernehmen von Semantiken und tradierten Vorstellungen einer Epoche des Bürgertums, deren Zerfall erst im Rückblick lesbar wird […], stets mit einer immanenten Reflexion über die Form verbunden [ist].“

Meyzauds großangelegte Studie, die ebenso theorieaffin ist wie überaus kleinschrittig minuziös in ihren Romanlektüren, ist eine Arbeit, die eine These der von ihr besonders geschätzten Theoretiker Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy verfolgt. Diese versteht sie mit großer Insistenz überzeugend weiterzuentwickeln, dass nämlich: „ni ‚de la littérature‘ […], ni meme, tout simplement, une ‚théorie de la littérature‘ (ancienne et moderne), mais la théorie elle-meme comme littérature ou, cela revient au meme, la littérature se produisant en produisant sa propre théorie.“ Es geht ihr darum, genau „diese romantische Hinterlassenschaft und ihre Implikationen genauer darzulegen.“ Und das ist Meyzaud durchaus gelungen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Maud Meyzaud: Formen des Gesprächs – Gespräch der Formen. Diderot, Schlegel, Musil und die Theorie des Romans.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2022.
479 Seiten, 139 EUR.
ISBN-13: 9783770567034

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