Menschenfleisch als zeitgemäßes Nahrungsmittel

Die japanische Autorin Sayaka Murata entwirft im Sammelband „Zeremonie des Lebens“ zwölf irritierende Szenarien

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie andere zeitgenössische Autorinnen und Autoren in Japan hat Sayaka Murata kein allzu großes Mitleid mit den Menschen. Ihre Arbeiten vereinen auf überzeugende Art und Weise subtile psychologische Analyse mit aktuellen biopolitischen Weichenstellungen, posthumanistische Strömungen mit buddhistischen Nihilismen, vitalistische Anklänge mit einer für die japanische Ästhetik typischen Blickbegrenzung auf außergewöhnliche Details. Murata setzt beim Dialog der Figuren an, deren Einlassungen, Persönlichkeit oder Verhalten man unmittelbar als seltsam einstuft. Auf einer zweiten Ebene offenbart sich dann oft eine Gesellschaft, die merkwürdige Sitten entwickelt hat – häufig in der nahen Zukunft.

Die zwölf übersetzten Texte aus dem Band „Zeremonie des Lebens“ bieten eine reiche Auswahl dieser Einblicke ins Absonderliche. Murata gelingt es in den meisten Fällen, den Sog ihrer sich zwischen Science Fiction und Horror bewegenden Anderswelten voll zu entfalten. Sie kann sich dabei einer literarischen Strategie bedienen oder ihrem poetischen Instinkt folgen, beides führt zum Erfolg. Noch wiederholen sich die Motive der Autorin nicht auffällig, ihr Vorrat an unglaublich bizarren Phantasien scheint nach wie vor reichhaltig zu sein.

Mensch, gut zubereitet, und der Hochzeitsschleier aus Vaters Haut

Schon die erste Erzählung der Anthologie, „Ein herrliches Material“, wäre auf einer Schockmoment-Skala im obersten Bereich anzusiedeln, auf einer Messlatte für gruseliges Ekelpotential ebenfalls an der Spitze. In Muratas Zukunftsgesellschaft ist es möglich, aus den Körpern Gestorbener Dinge anzufertigen und damit die Hinterlassenschaften des Homo sapiens nützlicher Weiterverwertung zuzuführen. Diese fortschrittliche Handhabung bricht ein in vielen Gemeinschaften bestehendes Tabu, das durch starke ethische Vorbehalte, Hygienebestimmungen und den rechtlichen Rahmen lange verbindliche Gültigkeit besaß. Die Haltungen hinsichtlich des Menschenrecyclings sind denn auch im Text durchaus unterschiedlich. Nana, eine junge Frau, ist stolz auf ihren teuren Pullover aus „reinem Menschenhaar“. Die Freundinnen Yumi und Aya haben ihn sofort bemerkt. Aya kommentiert das Kleidungstück mit folgenden Worten:

Im Winter geht doch nichts über 100 Prozent Echthaar, oder? Es ist warm, langlebig, sieht edel aus. Mein Pulli hat auch einen Menschenhaaranteil, aber weil es so teuer ist, blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit einem Wollgemisch zu begnügen. Aber reines Menschenhaar fühlt sich doch ganz anders an.

Nana muss allerdings zugeben, dass ihr Verlobter Naoki Kleidung aus Menschenhaar und Einrichtungsgegenstände aus menschlichen Materialien nicht schätzt, was in der Runde Erstaunen hervorruft. Naoki ekelt sich vor Humanmaterial und findet es pietätlos, Leichen Haare und Fingernägel abzuschneiden, um „Kleidung und Möbel daraus zu machen“. Mit der Aussage „[w]ir sind Menschen und zugleich Material. Das ist doch wunderbar“ stimmt er keineswegs überein. Letztlich ängstigt ihn die Erkenntnis, dass Menschen Materie sind. Seine Einstellung ändert sich erst, als Nana anlässlich eines Besuchs bei Naokis Familie von ihrer zukünftigen Schwiegermutter ein Präsent überreicht bekommt. Es handelt sich um einen voluminösen „zarten transparenten Schleier“, gefertigt aus der Haut des vor fünf Jahren an Krebs gestorbenen Vaters. Bei der Anprobe denkt Nana: „Die weiche Haut meines Schwiegervaters bedeckte meine Ohren, Wangen und Schultern und fiel mir bis über den Rücken“.

In der titelgebenden Geschichte des Bandes, die als siebter Beitrag im Buch erscheint, wird der Gedanke der optimierten Ressourcennutzung im Hinblick auf menschliche Überreste weitergesponnen: Vielleicht nur wenige Dekaden in der Zukunft – etwa um das Jahr 2050 – ist es üblich, so Muratas Entwurf, Gestorbene im Rahmen einer„Lebenszeremonie“ genannten Abschiedsfeier, zu der Freunde, Bekannte oder Mitmenschen aus dem beruflichen Umfeld geladen werden, zu verspeisen. Die Erzählung aus der Perspektive der weiblichen Ich-Figur Iketani geht in medias res mit dem Zitat des schönen Satzes einer Arbeitskollegin: „Herr Nakao ist bestimmt recht schmackhaft.“ Aus dem kurzen Wortwechsel der Kolleginnen beim Mittagsessen ist zu entnehmen, dass es in ihrer Welt gewürdigt wird, bei einem Todesfall das Fleisch des Betroffenen zum gemeinsamen Verzehr zuzubereiten, um sich in einer anschließenden Befruchtungsorgie mit einem beliebigen Gegenüber zu paaren. Erwähnt wird zudem, wie der Staat zum Wandel der Normen beiträgt, indem er die „wesentlich kostengünstigere Lebenszeremonie“ fördert und auch die saturnalischen Exzesse, welche zur Erhaltung der in dieser Zukunftsversion gefährdeten menschlichen Spezies beitragen sollen, im Kontext der Kopulation duldet. Die während einer Zeremonie gezeugten Kinder würden, wie die Protagonistin berichtet, häufig an staatliche Zentren abgegeben, was eine allmähliche Auflösung der Institution Familie und längerfristig einen umfassenden Strukturwandel der Gesellschaft zur Folge haben könnte.

Herrn Nakao bietet man auf seiner Feier wie gewöhnlich als Miso-Eintopf gegart (das Motiv stammt aus Das Seidenraupenzimmer) mit Chinakohl und Pilzen an. Iketani und ihr Bekannter Yamamoto empfinden Abneigung gegen Menschenfleisch, begründen auf der Party ihre Verweigerung jedoch mit Ausflüchten. Erst als Yamamoto durch einen Unfall stirbt, lässt sich die Protagonistin in die Zeremonie involvieren – sie bietet Mutter und Schwester des geschätzten Kollegen an, bei der Vorbereitung der Gerichte zu helfen. Der Dahingegangene hatte – was in der persönlichen Rezeptmappe unter „Mein Fleisch“ vermerkt wurde – sehr genaue Vorstellungen von seiner Zubereitung: Fleischklößchen mit geriebenem Rettich, geschmorte Fleischwürfel und Pfannengerührtes mit Cashewnüssen. Ein üblicher Kochservice würde nur den Miso-Eintopf anbieten, was Yamamoto in seinem letzten Willen ablehnt. Nachdem Spezialisten die fachgerechte Zerlegung des Körpers vorgenommen haben, müssen die drei Frauen nun rasch alles weitere erledigen: „Während ich mit dem Küchenbeil daraufloshackte, sah ich die kräftigen haarigen Arme vor mir, mit denen er stets sein Bierglas erhoben hatte, um mit mir anzustoßen.“ Iketani isst an diesem Abend die Yamamoto-Fleischbällchen mit großem Appetit und vollzieht später sogar noch mit der Samenspende eines freundlichen homosexuellen Passanten auf ungewöhnliche Art und Weise die „Befruchtung“ – um das Leben zu ehren.

Soylent Green reloaded?

Muratas in etliche Sprachen übersetzte Entwürfe sind in der aktuellen Literaturszene sicher einzigartig, wobei Anthropophagie kein neues Thema der Kunst darstellt. Man denke an den „Menschenfresserroman“ Ich frass die weisse Chinesin von Duca di Centigloria (eigentlich Johann Graf Coudenhove-Kalergi; 1893-1965), der einen elitär-erotischen Kannibalismus im schwülen fin de siècle-Stil zelebriert – also der Tradition einer Ästhetik verpflichtet ist, die der Kunsthistoriker und Literaturwissenschaftler Mario Praz (1896-1982) im frühen Standardwerk zur Schwarzen Romantik, Liebe, Tod und Teufel (1930), erörtert. Als Referenz auf die jüngere deutsche Kriminalgeschichte thematisierte die Band Rammstein im Song „Mein Teil“ (2004) mehr oder weniger deutlich die spektakulären Ereignisse um den nordhessischen „Kannibalen von Rotenburg“. Für die japanische Literatur wäre im Zusammenhang mit dem Thema sicher Issei Sagawas (*1949) Darstellung seiner einschlägigen Tat im Jahr 1981 in Paris zu erwähnen.

Muratas Schilderungen der Menschenverwertung beinhalten zunächst eine mit Kannibalismus generell verbundene sexuelle Dimension. Angesichts der Widerwillen hervorrufenden Praktiken denkt man aber auch an die heute wieder rezipierte filmische Dystopie Soylent Green (1973; dt. … Jahr 2022 … die überleben wollen), die als erster „Öko-Thriller der Filmgeschichte“ gilt und ein makabres Szenario beinhaltet: Im überbevölkerten New York der Zukunft, in der die „Grenzen des Wachstums“ erreicht sind, leiden die Menschen unter Umweltverschmutzung, Klimawandel und Ressourcenknappheit. Die Umwelt ist toxisch in dem Maße, dass einige den Suizid in öffentlichen Tötungsanstalten vollziehen. Zugriff auf sauberes Wasser und entsprechend kostspielige natürliche Lebensmittel haben nur Politiker und die Reichen. Da entdeckt der Polizist Thorn das Geheimnis des Nahrungsproduzenten Soylent: Der Konzern stellt seine in Riegeln vertriebene Massenspeise nicht, wie behauptet, aus Plankton her, sondern aus toten Menschen.

Die japanische Autorin geht mit ihrem Text etliche Schritte weiter als der amerikanische Film aus den 1970ern. Sie erwägt mittels der Pro- und-Kontra-Rede ihrer Protagonisten, welche Argumente es geben könnte, die eine Akzeptanz von Menschenfleischkonsum unterstützten. Man sollte an diesem Punkt beachten, dass Muratas Zukunftsvisionen eventuell nicht nur mit der Experimentierfreudigkeit und geistigen Beweglichkeit japanischer Autorinnen zu begründen wären. Als sie ihre Texte im Original schrieb, waren die Beiträge des Verhaltensforschers Magnus Söderlund (*1963) von der Stockholm School of Economics wohl schon bekannt. Die Schriftstellerin könnte darauf anspielen, zumal die japanische Kulturszene neue Debatten meist umgehend zur Kenntnis nimmt. Söderlund sprach sich um das Jahr 2019 für den Verzehr von Menschen als Mittel zur Klimarettung aus und argumentiert, in der westlichen Welt gebe es leider zu viele Tabus, die den Einstieg in eine „menschliche Fleischindustrie“ behinderten.

Muratas Philosophie des Temporären und der Inkorporation

Als Literatin setzt sich Murata weder für die Thesen des schwedischen Forschers ein, der denkt, die Menschen seien leicht zu beeinflussen und ließen die einschlägigen Tabus bald hinter sich, noch vertritt sie eindeutig eine ethische Agenda bezüglich der Integrität eines Individuums und seines Anrechts auf eine würdige Bestattung. Sie pflichtet ebenso wenig auf der Basis des Klimaprimats dem Essen von Artgenossen zur Vermeidung der Emission von Kohlenmonoxid aus Krematorien bei. In diesem Zusammenhang sei noch erwähnt, dass die gesetzliche Implementierung einer „natürlichen organischen Reduktion“ (NOR) anstelle von Einäscherung oder Begräbnis in den USA/Kalifornien mit der Assembly Bill 351 zumindest schon auf dem Weg ist (Ziel 2027) – ein Schritt zur Erneuerung der Bestattungsethik und letztlich zum möglichen Nutzbarmachen von Toten als Dünger und konsequenterweise dann als Nahrungsquelle.

Muratas Absicht liegt nun zum einen womöglich darin, die Brüchigkeit des Begriffs des Normalen aufzuzeigen, zum anderen Modelle moderner menschlicher Identitätskonzepte literarisch zu durchdenken bzw. ihrer Zeitgebundenheit und Widersprüchlichkeit Ausdruck zu verleihen. Dazu äußert sich Protagonist Yamamoto aus der Zeremonie des Lebens. Wenn im Text eine Weltanschauung ausgemacht werden kann, fiele sie in den Bereich einer vitalistisch-epikuräischen Philosophie im Modus der vergänglichen, flüchtigen Welt, bekannt unter dem Begriff ukiyo, die für das Leben im Hier und Jetzt plädiert. Dieser sind Konzepte wie die Befruchtung des Lebens durch den Tod zuzuordnen, eine zugleich archaische wie modern-szientistische Vorstellung, die im Übrigen auch in Frida Kahlos Portrait (1931) von Luther Burbanks (1849-1926) zu Tage tritt, einem Pflanzenzüchter, dessen botanisches Optimierungsbestreben zu einem Gesetz über die Patentierbarkeit von Pflanzensorten im Jahre 1930 führte – was Kahlos Bild zu einem künstlerischen Kommentar zum Thema Biopolitik macht.

Jenseits von biopolitischen oder transhumanistischen Denkfiguren, die seit geraumer Zeit den Menschen und seine biologische Identität für obsolet erklären, beschäftigt die Autorin die Distanz von Mensch zu Mensch und die Versuche einzelner, oft psychopathologisch auffälliger Individuen, das Moment des Abgetrenntseins zu überwinden. Dies kann durch rituelle Einverleibung von Fleisch geschehen, aber auch, wie in der Erzählung „Puzzle“, durch Inkorporations- und Verschmelzungsphantasien. Ihnen gibt sich die Hauptfigur Sanae hin, die den eigenen Körper als anorganisch wie den Beton eines Gebäudes empfindet und sich freut, wenn sie möglichst nah am organischen Leben ihrer Arbeitskolleginnen teilnehmen kann: Sie hofft dadurch, ihren Metabolismus dem der anderen Frauen anzupassen und ihre Erlebnisfähigkeit steigern zu können. Zu diesem Zweck begleitet sie Yuka, die sich übergeben muss, zur Toilette:

Erstaunt näherte sich Sanae der Schüssel. Wie kraftvoll die Eingeweide eines Organismus sein mussten, um eine derartige Menge Nahrung in weniger als einer Stunde zersetzen zu können! Sie rieb Yuka den Rücken, denn sie wollte, dass diese noch mehr von der nach Innereien riechenden Flüssigkeit ausspie, und wie auf Kommando schoss ein weiterer Schwall aus ihrem Mund.

Wahnhaft deuten Protagonisten wie Sanae die Welt und transzendieren das sogenannte Normale durch Extremität. Nicht alle zwölf Erzählungen erreichen die Dichte der drei erläuterten Kompositionen. „Fiffi“ ist eine kurze sado-masochistische Rachephantasie im maliziösen Schulmädchenformat à la Suehiro Maruo, „Liebende im Wind“ beschreibt die Empfindungen eines Mädchens, das eine obsessive Beziehung zu ihrem Zimmervorhang mit Namen „Futa“ hat. Auch die „Zeit des großen Sterns“ handelt von jugendlicher Sexualität und neuer Körpererfahrung. In „Essbare Stadt“ durchstreift eine Frau urbanes Gelände auf der Suche nach den Resten von Natur, aus denen sie authentische Nahrung gewinnt. Die letzte Geschichte „Ausgebrütet” beschäftigt sich mit den diversen sozialen Rollen, die eine junge Frau einnimmt. Im Bestreben ihren Verlobten nicht zu überfordern, erfindet sie am Ende erneut eine Identität, was eine ungeahnte Auswirkung auf das Verhältnis der beiden Partner hat.

Themen der Erzählungen sind Ehe, Familie, Kinder, Identität, Tod und Essen. Als Leitmotive wären das Verdikt einer ständigen Gefährdung im psychischen Bereich und der Tatbestand eines anhaltenden physischen Materiewandels auszumachen, der die Menschen mit ihrer Unvollkommenheit, Isolation und Endlichkeit konfrontiert. Wer es wie der Protagonist Yamamoto gelassen nimmt, ist klar im Vorteil.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Sayaka Murata: Zeremonie des Lebens. Storys.
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe.
Aufbau Verlag, Berlin 2022.
288 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783351039318

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