Noah als Traumdeuter
Stefan Andres fabuliert in „Noah und seine Kinder“ fantasievoll über biblische Stoffe
Von Thorsten Paprotny
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDem heutigen Lesepublikum ist das facettenreiche Werk des deutschen Erzählers Stefan Andres, der von 1906 bis 1970 lebte, auf gewisse Weise entzogen, denn die einst vielfach gelesenen Novellen El Greco malt den Großinquisitor aus dem Jahr 1936 und Wir sind Utopia von 1942 sind seit langer Zeit nicht mehr neu aufgelegt worden. Wer erinnert sich heute also noch an Stefan Andres, einen Autor, der zu den wichtigsten Stimmen der Literatur der inneren Emigration im Dritten Reich gehörte?
Publiziert wurde, versehen mit umfangreichen editorischen Hinweisen und Kommentaren, vor einiger Zeit die Legendensammlung Noah und seine Kinder. Mit sprachlicher Musikalität, gekennzeichnet auch durch den hohen künstlerischen Eigensinn des Verfassers, werden in diesen nahezu rätselhaft anmutenden Variationen und Geschichten über den Text und die Gestalt des Noah aus dem Buch Genesis ein literarischer Schatz den Leserinnen und Lesern heute neu zugänglich gemacht. In einer stilistisch etwas feierlich und erhaben gehaltenen, dem Schriftsteller erkennbar zugewandten Hinführung stellt Armin Erlinghagen die Edition vor und macht berechtigterweise darauf aufmerksam, dass kein literarisches Werk „zeitlos“ sei:
Einer Dichtung von Rang ist ihre Zeit zutiefst eingeschrieben, doch in dem Sinne, dass sie nicht nur durch ihr Zeitalter geprägt wird, sondern auch für dieses selbst prägend ist, sei es auch ‚nur’ im Bewusstsein seiner Leserinnen und Leser, als eine Komponente ihrer Haltung gegenüber Mensch und Welt.
Den Weg und die Entwicklung Noahs und seiner Familie ruft Stefan Andres ins Gedächtnis, dichtet sehr viel hinzu und beschreibt ein mythisch koloriertes Panorama im Nahen Osten, reich an traumhaften Wendungen und Wandlungen und tatsächlich auch Träumen. Andres‘ Noah ist also ein Traumdeuter, der über den besonderen Blick – das „dritte Auge“ – für die Weisheit und Wahrheit der Träume verfügt. Dem Fürsten Semoth entgegnet er:
Ob ich das dritte Auge habe, weiß ich noch nicht, doch soviel weiß ich: der die Träume schickt, schickt nicht zugleich die Deutung. Die Träume sollen wie Samenkörner sein und in uns wachsen. Die Wahrheit darin ist bis zum Tag des Erwachsens verschlossen.
Vergleichbar diesen „Samenkörnern“ sind auch die Legenden selbst, in denen mächtige und machthungrige Gestalten auftreten, Geschichten, die heute eher wie fantastische Erzählungen anmuten, als dass erkennbar wäre, wie sich hier eine innere Wahrheit dem heutigen Lesepublikum zeigen könnte. Stefan Andres berichtet buchstäblich aus einer anderen Welt, die fern jeder historischer Greifbarkeit angesiedelt ist, eine Welt, in der Personen auftreten, die über ein biblisches Alter verfügen – an Hundertjährigen also mangelt es nicht in diesen Legenden.
Noah belehrt den ungeduldigen, machtbewussten Fürsten Semoth, dass er nicht der Herr seines eigenen Traumes und auch nicht der „Herr seiner Deutung“ sei – er verfüge weltliche Macht, so wie die Herrschenden zu Andres‘ Zeiten:
Das Gesetz ist um aller willen da und nicht um des Fürsten willen. Und wenn dein Traum dich drückt, mußt du die Last tragen; es wird dir nicht gelingen, dich vor ihm mit willkürlichen Gesetzen zu sichern.
Fürst Semoth, der alles kontrollieren und beherrschen möchte, mag solche Gedanken nicht ertragen. Er erwartet, ja er fordert die Deutung des Traumes, die ihm aber verwehrt bleibt. Stefan Andres zeigt hier am Beispiel des weisen Noah die Grenzen säkularer Macht. Auch jene, die über alles herrschen wollen, sind nicht allmächtig. Semoth, der so gern alles und über alle bestimmen würde, wird die so sehr begehrte Traumdeutung nicht erzwingen können.
In einer anderen Legende wird vom Bau der Arche berichtet, im Alter von „hundertfünfzig Jahren“. Schön zu lesen ist, wie Stefan Andres schildert, dass Noah, der „beliebt bei den Himmlischen“ ist, mit den Tieren auf eine gewisse Freundschaft schließt. Er zähmt sie und macht sich mit ihnen vertraut:
Jeden Tag ging er zu den Tieren und sprach mit ihnen, bis sie ihn kannten, sich kraulen ließen und ihm aus der Hand fraßen. Nach einem Jahr war er ihnen so vertraut und bekannt, daß er sie, wenn sie gut gesättigt waren, aus den Käfigen ließ und allein unter ihnen umherging.
Die Sintflut wird den Bewohnern angekündigt, aber fast alle glauben, Noah baue ein Kriegsschiff zur Verteidigung des Landes Ur. Doch Noah vertraut seinem Traum, seiner inneren Anschauung, die er als „Boten des Freundlichen“ begreift: „Und Noah schwieg zum Himmel hinauf und haderte nicht mehr. Er versuchte den Willen des Freundlichen nicht zu ergründen, sondern zu erfüllen.“ Nahezu paradiesisch begeben sich die Tiere später auf die Arche:
Die Kamele blickten gleichmutsvoll geradeaus und sie trugen die Last ihrer Höcker wie einen Vorrat an unerschöpflichem Leben. Die gezähmten und abgerichteten Schakale liefen an der Herde, aus allerlei Schafen und Ziegen und Rindern gebildet, hin und her, kläfften und zwickten säumige Tiere in die Beine. Zebras trappelten leichten Schrittes heran, Antilopen und Gazellen drängt[en?] sich dicht aneinander durch die Blicke der Menschen.
Die Tiere folgen Noah auf die Arche, aber die Menschen verhöhnen ihn und seine Familie „giftig“. Doch die Sintflut kommt, und das Reich des Fürsten Semoth wird nicht von Dauer sein. Noah, der dem Traum traute, hatte die Arche gebaut.
Wie im üppigen Kommentarteil dargelegt, versteht sich Semoth als „von Gott ermächtigter Herr über Gut und Böse, über Leben und Tod“ – und Leserinnen und Leser mögen darin auch weltliche Herrscher aus Andres‘ Zeit wiedererkennen –, doch Noahs Glaube ist einem solchen Gottes- und Menschenbild entgegengesetzt. Gott werde nicht als „rächend und strafend“ vorgestellt, nicht als jemand, „dessen Name auszusprechen dem Herrscher vorbehalten zu sein scheint“, denn das sind menschliche Vorstellungsweisen, mit denen Machtverhältnisse und säkularer Machtmissbrauch legitimiert werden können. Armin Erlinghagen deutet an, dass Stefan Andres aufzeigte, dass für Noah „alle menschlichen Vorstellungen von dem, was dem Willen seines Freundlichen Herrn über den Wolken“ entsprechen könnte, keine konstitutive Bedeutung haben. Es seien nur Mutmaßungen. Andres‘ Noah, so Erlinghagen, orientiere sich an der „Goldenen Regel“, und dies wirke auch wie ein „Nachklang“ zu „Lessings Neuem Evangelium“ von 1780, „dem zufolge der Mensch das Gute tut, nicht, weil er sich künftige Belohnung erhofft oder Bestrafung (sei es im Diesseits, sei es im Jenseits) fürchtet, sondern weil es das Gute ist“. Ob aber diese menschenfreundliche, philosophische Interpretation dem katholisch aufgewachsenen, religiös inspirierten Stefan Andres gerecht wird? Die Legenden um Noah, die er erzählt, verfügen über zahlreiche verschlungene Pfade. Leserinnen und Leser heute haben die Gelegenheit, diesen sehr besonderen Kosmos von Andres‘ Noah-Legenden für sich zu erkunden.
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