Die Welt in Bewegung

Alex Capus‘ Roman „Susanna“ erzählt entlang der Biografie der Malerin und Bürgerrechtlerin Caroline Weldon vom Leben im 19. Jahrhundert

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie hieß ursprünglich Susanna Caroline Faesch, stammte aus einer wohlhabenden Familie in Basel und wanderte mit ihrer Mutter 1852 nach Amerika aus. Nach deren Tod erscheint ihr, inzwischen selbst Mutter, ihr geregeltes Leben als Porträtmalerin in New York zu öde, sodass sie dank ihrer Erbschaft aussteigt, um ihren langgehegten Wunsch zu verwirklichen: Sie besucht das indigene Volk der Lakota-Sioux und freundet sich mit dessen Anführer Sitting Bull an. Die Lebensgeschichte der späteren Bürgerrechtlerin fasziniert nach Hollywood („Woman walks ahead“, USA 2017) nun auch den Schweizer Autor Alex Capus. Er nutzt sie und die Menschen um sie herum dazu, über eine Zeitenwende zu erzählen, die Europa und die übrige Welt nachhaltig verändern wird. Was dabei für all seine Figuren typisch ist: Es ist ihnen dort, wo sie herkommen oder sich länger aufhalten, zu langweilig.

Schon Susannas Vater, Lukas Faesch, so erzählt Capus, floh vor einem vorbestimmten Leben und erlebte an der Seite des Dortmunder Arztes Karl Valentiny Abenteuer in der Fremdenlegion, alsbald aber auch die Langeweile der nordafrikanischen Wüste zu Zeiten des algerischen Freiheitskämpfers Emir Abd-el-Kader. Zurück in der Heimat erwartete ihn im sittenstrengen Basel ein öffentliches Amt als „ein lebendig mumifizierter Bürger“. In den ihm verbleibenden 25 Lebensjahren wird die Ereignislosigkeit seines Alltags nur noch durch die Geburt der Tochter, den Weggang seiner Frau Maria, die ihn und seine drei Söhne mit Susanna in Richtung Amerika verlässt, und den Tumor, der ihn schließlich tötet, unterbrochen.

Lukas‘ Kamerad Karl strandet zunächst in der elterlichen Heimat, dem damaligen „Kartoffeldorf“ Dortmund. Weil ihm die Welt offensteht, empfindet er eine gesicherte Hausarztexistenz in Westfalen als drohende „Hölle auf Erden“. Als Mitte des 19. Jahrhunderts verbotene Zeitungen und ein schwarz-rot-goldener Dreifarb unruhige Zeiten ankündigen, gerät Karls Leben in Bewegung: „Jeder hatte das Herz voller heißer Gefühle und den Kopf voller undeutlicher Gedanken.“ Sein Name gerät durch ein Versehen auf die Liste der polizeilich gesuchten Revolutionäre, weshalb er bei seinem alten Freund in Basel untertaucht, um sich alsbald ins sichere New York abzusetzen. Lukas‘ Ehefrau Maria, die sich zunächst in ihre „Seelenfestung Musik“ zurückzieht, wenn um sie herum zu viel Ruhe oder zu viel Lärm herrscht, empfindet eine freundschaftliche Zuneigung zum jungen Arzt. Es vergehen zwei Jahre bis sie ihm nach New York, „wo nichts unmöglich, alles belanglos und nichts von Dauer war“, folgt, ohne sich der Gegenseitigkeit der Sympathie sicher zu sein. Die Scheidung von Lukas erfolgt per Brief, Maria und Karl Valentiny heiraten, kaufen ein Haus in Brooklyn und leben ein zufriedenes, bescheidenes Leben. Auch wenn Capus‘ Figuren den Stillstand verteufeln, so ereilt er sie alle immer wieder.

Susanna bildet da keine Ausnahme: Schon als Kind strebt sie stets vorwärts. Sie steht aus Neugier bei einem Kleinbasler Volksfest am Rheinufer in der ersten Reihe der Schaulustigen und als sie hinfällt und vom „Wilden Mann“, einer der drei Hauptfiguren des 700-Jahre alten Spektakels, der zur Festeröffnung auf dem Rhein gefahren kommt, hochgehoben wird, sticht sie ihm aus purer Angst das linke Auge aus. Die Fünfjährige wird zeitweilig zum Gesprächsstoff der Stadt. Der traumatisierte Kutschenknecht und Darsteller des Wilden Mannes, Anton Morgenthaler, der von ihrem Vater Schmerzensgeld erhält, misstraut ihren darauffolgenden Annäherungsversuchen. Denn das Mädchen steht eines Tages vor seiner Kutsche und hindert ihn an der Weiterfahrt, bis der Einäugige seine Peinigerin mitnimmt und zwischen den beiden eine stille, ihr Umfeld irritierende Übereinkunft entsteht. Dass sie mit Menschen auf ihre Weise umzugehen weiß, ist offensichtlich.      

Diese Fähigkeit kommt der jungen Susanna auch in Amerika zugute. Als die Fotografie zum Massenvergnügen wird, etabliert sie sich paradoxerweise als Porträtmalerin. Sie malt ihre Kund*innen, die die vermisste „Strahlkraft und Lebendigkeit“ ihrer Fotos stört, in Öl auf Leinwand und korrigiert so die Fehler der Kamera. Bald kann sich die erst Vierzehnjährige vor Aufträgen nicht retten und baut sich eine kleine, aber sichere Existenz auf. Wissbegierig und zielstrebig, wie sie ist, belegt sie Kurse an der Kunstakademie, verachtet rollentypische Lebenswege und hat Spaß mit ihren Dandy-Freunden. Sie heiratet, geht fremd, bekommt einen Sohn und bezahlt plötzlich Leute, um sie malen zu dürfen.

Capus entwirft in seinem Roman ein Bild des 19. Jahrhunderts, bei dem er insbesondere die Errungenschaften der Zeit in den Mittelpunkt stellt. Der Bau und die Fertigstellung der Brooklyn Bridge, die hellerleuchtet mit den neu erfundenen Glühbirnen volksfestartig eingeweiht wird, wobei der vermeintliche Erfinder des Hotdogs, Charles Feltmann, dazu beiträgt, die Massen zu verköstigen, stehen als Sinnbild für die industrielle Revolution in den Vereinigten Staaten. Durch den Zustrom von Einwanderer*innen und die Sucht nach Fortschritt entstehen Metropolen wie New York auch als Symbol wirtschaftlicher Macht. Die Nacht wird zum Tage. Mit den zahllosen Maschinen gewinnt man noch mehr Lebenszeit und optimiert die Kommunikation wie auch die Mobilität der Menschen Stück für Stück. Rentabilität und Wirtschaftswachstum steigen rasant, gleichzeitig wird der Mensch zur (Arbeits-)Maschine.

Susanna kann diesem schnelleren, rücksichtslosen Leben nichts abgewinnen, weil sie es als Stillstand empfindet. Als Christie, ihr Sohn, sich für „Buffalo Bills Wild West Show“ – eine Völkerschau, die die Klischees des Wilden Westens bediente und bei der auch Anführer der Ureinwohner Amerikas vorgeführt wurden –, begeistert und damit die Sympathie seiner Mutter für die indigene Bevölkerung herausfordert, kommt es zum Aufbruch aus Brooklyn.

Eine lange Zugfahrt, „über das Ende der Welt hinaus“, durch die Prärie von New York ins Nichts bringt sie nach Fort Yates. Von dort führt sie eine holprige Planwagenfahrt an ihr Ziel, das Blockhaus von Sitting Bull, wo sie fortan campieren. Die Zukunft der Ureinwohner Amerikas, das hat Susanna längst erkannt, ist in großer Gefahr. Es gilt, Sitting Bull und sein Volk davor zu warnen.

Alex Capus nimmt seine Leser*innenschaft mit in unbekannte Zeiten, er schmückt einzelne Situationen und Momente unnachahmlich lebendig und charmant aus, haucht den Figuren Leben ein und gibt ihnen Charakter. Er spannt Spannungsbögen, löst Beziehungen in knappen Dialogen auf oder vollzieht Abschiede über wenige Zeilen. Mit Vergleichen, Aufzählungen und Anekdoten zeichnet er das damalige Nordafrika, Westfalen oder Nordamerika schwungvoll, stellenweise durchaus auch klischeehaft, nach, ohne allerdings diese aufregende Fabulierkunst über den ganzen Roman aufrechterhalten zu können. Das letzte Drittel erfährt mit dem Warten vor dem Blockhaus des Lakota-Sioux-Anführers einen Bruch: Nicht nur die Hauptfigur unternimmt überraschender Weise seitenlang nichts, sondern auch die sonst so forsche Geschichte stagniert plötzlich und endet abrupt. Die Zeit Caroline Weldons als amerikanische Bürgerrechtlerin, Advokatin und Privatsekretärin Sitting Bulls bleibt im Roman ausgespart, auch auf Kosten eines schlüssigen Endes, das den sonst absolut lesenswerten Roman hätte krönen können.

Titelbild

Alex Capus: Susanna. Roman.
Hanser Berlin, Berlin 2022.
288 Seiten, 24 EUR.
ISBN-13: 9783446273962

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