Elfriede Jelinek, Milan Hrabal und Kurt Marti zum Kennenlernen

Drei neue Titel in der dienstältesten Lyrikreihe

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Lyrikreihe Poesiealbum wurde 1967 von dem Lyriker und Erzähler Bernd Jentzsch gegründet. Sie erschien monatlich im Verlag Neues Leben Berlin und stellte jeweils auf 32 Seiten internationale Dichter*innen der Vergangenheit und Gegenwart sowie junge Poeten der DDR vor. Vorbild war Bertolt Brechts Hauspostille, Gedichte für die Jackentasche zu publizieren. Daher erfolgte der Auftakt der Lyrikreihe auch mit Bertolt Brecht, gefolgt von Wladimir Majakowski und Heinrich Heine. Das Spektrum reichte dabei von Theodor Storm (Heft 17), Kurt Tucholsky (34), Pablo Neruda (53), Ovid (120), Eugenio Montale (125) bis zu Paul Celan (137), Karl Krolow (241) oder Paula Dehmel (263). Die runden Jubiläumsausgaben waren Johann Wolfgang Goethe (100), Friedrich Schiller (150), William Shakespeare (200) und Else Lasker-Schüler (250) gewidmet.

Ergänzt wurde jedes einzelne Heft durch eine doppelseitige Grafik; darunter von namhaften Künstler*innen wie Ernst Barlach, Willi Sitte, Einar Schleef, Wolfgang Mattheuer oder Heidrun Hegewald. Und das zu einem Preis von 90 Pfennigen, der sich bis zur Wende nicht änderte. Die schmalen Heftchen wurden in der DDR zum begehrten Sammlerobjekt von literaturbegeisterten Lesern. So war man jeden Monat in froher Erwartung. Wegen der Papierknappheit kam es jedoch immer wieder zu Engpässen, und so wurden Hefte zu Allen Ginsberg (127), Bob Dylan (189) oder Charles Bukowski (225) nur unter dem Ladentisch verkauft.

Von 1977 bis 1979 wurde die einzigartige Lyrikreihe von dem Lyriker und Lektor des Verlages Richard Pietraß und anschließend von der Germanistin Dorothea Oehme weitergeführt. Bis 1990 erschienen 275 Hefte, dazu fünfzehn Sonderhefte; wobei das letzte Heft August Graf von Platen nicht mehr ausgeliefert wurde. Einige Exemplare konnten von einer Leipziger Mülldeponie gerettet werden.

In den 1990er Jahren gab es dann einige Versuche, die Reihe wieder ins Leben zu rufen oder ähnliche Reihen nach dem Konzept des Poesiealbums zu verlegen – z.B. Poet´s Corner (Hg. Dorothea und Matthias Oehme) oder Zeitzeichen (Hg. Paul Alfred Kleinert), die aber beide nach knapp dreißig Heften eingestellt wurden. Nach siebzehn Jahren Pause kam es dann 2007 zu einer doppelten Wiederbelebung des Poesiealbums. Die Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V. gab auf Anregung des Lyrikers und ehrenamtlichen GZL-Vorsitzenden Ralph Grüneberger die Lyrikzeitschrift Poesiealbum neu heraus. Die regulären halbjährigen Hefte waren allerdings nicht einem einzelnen Lyriker gewidmet, in ihnen wurden Gedichte und Texte mehrerer Autorinnen und Autoren zu einem bestimmten Thema vorgestellt. Nach fünfzehn Jahren und fast fünfzig Ausgaben kam jedoch im Herbst 2021 das vorläufige Aus für die Anthologiereihe; ab 2023 ist immerhin eine Fortsetzung als Poesiealbum 3.0 geplant.

Gleichzeitig wurde im Herbst 2007 die ursprüngliche Lyrikreihe Poesiealbum durch den Märkischen Verlag Wilhelmshorst wieder ins Leben gerufen, zusammen mit dem Reihenbegründer Bernd Jentzsch, der auch die ersten Ausgaben betreute. Zum Neustart (Heft 277) brachte der neue Verleger Klaus-Peter Anders eine Gedichtauswahl von Peter Huchel heraus, der mit seiner Familie von 1953 bis 1971 in Wilhelmshorst gewohnt hatte und den Anders noch persönlich kannte. Seitdem erscheint die Lyrikreihe nun wieder im zweimonatigen Rhythmus, auch mit der längst liebgewonnenen Grafik. Neben Neuentdeckungen werden auch Lücken im Spektrum der Lyriker aufgearbeitet, die zu DDR-Zeiten aus politischen Gründen nicht aufgenommen werden konnten. Bekannte Namen bereichern die Reihe aber weiterhin; so waren z.B. Heft 300 Gottfried Benn und Heft 350 Ingeborg Bachmann vorbehalten.

Die drei Neuerscheinungen des letzten Halbjahres beweisen ebenfalls die gleichbleibende Vielfalt und Bandbreite des Poesiealbums. So ist Heft 370 der österreichischen Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek (*1946) gewidmet, die eher für ihre Prosatexte und Theaterstücke bekannt ist. Die Ausgabe bringt eine Auswahl aus ihrem lyrischen Frühwerk, das stark von der Avantgarde des Expressionismus, Dadaismus und Surrealismus beeinflusst war. Die Auswahl stellte Susanne Rettenwander, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, aus den Gedichtbänden ende / Gedichte von 1966-1968 (2000), Linas Schatten (1967) und o.T. (1967) zusammen, denen häufig Linolschnitte beigefügt waren, die die radikalen Texte konterkarierten. Jelineks Poesie zeichnet sich durch aggressives Pathos und einen radikalen Umgang mit der Sprache aus, die für sie „ein Werkstück ist, und jeder kann auf sie draufhauen“ (Interview 2006). Ihre Lyrik, in der es häufig um zwischenmenschliche Beziehungen, um Sexualität und Gewalt geht, ist manchmal obszön und vulgär, dann jugendlich-trotzig und aggressiv – wie in verachtung aus dem Gedichtband ende:

ich breche euch alle in die knie
eure schmutzigen mäuler werden
aus den gesichtern schnattern.
und ich gehe immer noch hinauf
strecke meine dünnen arme
an schwulen wänden blutig.

In späteren Jahren hat Jelinek nur noch selten Lyrik verfasst; in einem Essay von 2007 hat sie ihre lyrischen Anfänge selbst als „völlig epigonal“ abgetan. Da ihr lyrisches Frühwerk bislang wenig Beachtung findet, ist das neue Poesiealbum eine willkommene Gelegenheit, sich damit auseinanderzusetzen.

In Heft 371 wird der tschechische Schriftsteller Milan Hrabal (*1954) vorgestellt, der in der tschechischen Grenzstadt Varnsdorf lebt. Neben seiner Prosa hat er bereits elf Lyrikbände veröffentlicht; darüber hinaus ist er durch seine Nachdichtungen (vor allem aus dem Sorbischen) bekannt. Seine Gedichte sind ein eindringlicher Rückblick in die Welt seiner Kindheit und Jugend und in die wechselvolle Geschichte im Dreiländereck Deutschland-Tschechien-Polen.

Die Stadt

Hier marschierten die Ordnergruppen
die Wehrmacht
die Rote Armee
unsere Bruderarmeen

es sangen ihnen
die Hitlerjugend
und Sokol-Turner
die Pfadfinder
und Pioniere
[…]

Auch Themen wie Natur und die bewusste Wahrnehmung der Umwelt finden in Hrabals Gedichten ihren Niederschlag, der Braunkohleraubbau in der Lausitz und der damit verbundene Heimatverlust. Die Auswahl der Gedichte, die sich durch anschauliche Sprachbilder und philosophische Betrachtungen auszeichnen, hat die sorbische Lyrikerin Róža Domašcyna vorgenommen, die vor zwei Jahren ebenfalls in einem Poesiealbum (Heft 354) vertreten war.

Heft 372 macht schließlich mit Schriftsteller Kurt Marti (1921-2017) bekannt, der neben und nach Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch zu den Großen der Schweizer Literatur gehört. Von 1961 bis 1983 war er als Pfarrer in Bern tätig. Er engagierte sich im Kampf gegen Atomwaffen oder die US-Intervention in Vietnam. Erst spät, Ende der 1950er Jahre, begann Marti Gedichte zu schreiben und debütierte 1958 mit dem Gedichtband Boulevard Bikini. Es sollten noch rund zwanzig weitere Lyrikbände folgen, in denen er sich einer experimentellen und aufrüttelnden Sprache bediente. Mit dem Band Republikanische Gedichte (1959) wurde er zum Begründer der modernen Lyrik in der deutschen Schweiz. Marti war stets ein unbequemer Querdenker, der in seinen präzisen Gedichten vorrangig gesellschaftliche Themen aufgriff und die jeweiligen politischen Machtverhältnisse hinterfragte.

im verkrebsten körper
des kapitalismus
schreibe ich unbeleckt
von kosten-nutzen-berechnungen
meine gedichte

bisweilen wird mir ermunternd
auf die schulter geklopft:
kultur ist immer noch gut
und ein hobby muß man ja haben
[…]

In vielen anderen Gedichten ist Martis christliche Grundhaltung verankert, doch als engagierter Theologe und freier Geist beleuchtete er auch kritisch die Institution Kirche und verfasste sogar Gedichte über Karl Marx, Rosa Luxemburg oder Leo Trotzki.

Das Poesiealbum-Heft bringt eine Auswahl aus seinen beiden Gedichtbänden Nancy Neujahr & Co. (1976) und leichenreden (Luchterhand, 1969), die der Autor und Publizist Helmut Braun zusammengestellt hat. In seinem ehemaligen literarischen Verlag (Leverkusen) hatte er einst Martis Lyrikband Nancy Neujahr & Co. herausgebracht.

Titelbild

Elfriede Jelinek: Poesiealbum 370. Auswahl von Susanne Rettenwander. Grafik von Xenia Hausner.
GTIN: 9783943708707.
Märkischer Verlag, Wilhelmshorst 2022.
32 Seiten, 5,00 EUR.

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Milan Hrabal: Poesiealbum 371. Auswahl von Róža Domašcyna. Nachdichtungen von Peter Gehrisch, Peter Huckauf und Róža Domašcyna.
Grafik von Mata H. GTIN: 9783943708714.
Märkischer Verlag, Wilhelmshorst 2022.
32 Seiten, 5,00 EUR.

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Kurt Marti: Poesiealbum 372. Auswahl von Helmut Braun. Grafik von Martin Goppelsröder.
GTIN: 9783943708721.
Märkischer Verlag, Wilhelmshorst 2022.
32 Seiten, 5,00 EUR.

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