Das erstaunliche Meisterwerk eines jungen schwedischen Kriminalautors

Christopher Carlsson erzählt in „Was ans Licht kommt“ auf außergewöhnliche Weise von den Mordermittlungen eines Polizisten zwischen Verpflichtung und Besessenheit

Von Jochen VogtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Vogt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Christoffer Carlsson, geboren 1986 im südschwedischen Halmstad, hat an der Universität Stockholm Kriminologie studiert; inzwischen forscht und lehrt er dort als Professor. Bereits für seine Doktorarbeit Continuities and Changes in Criminal Careers hatte er höchstes internationales Lob geerntet. Wer jedoch keine Lust auf englischsprachige Wissenschaftsprosa hat, findet ganz bestimmt Gefallen an Carlssons neuestem Kriminalroman Was ans Licht kommt. Denn dieser junge Forscher ist zugleich ein außergewöhnlich begabter Schriftsteller, der sich spätestens mit diesem Buch in die allererste Reihe der europäischen Kriminalliteratur geschrieben haben dürfte. Dieser Erfolg ist ihm eben nicht nur wegen seiner wissenschaftlichen Kompetenz gelungen, sondern auch – beziehungsweise vor allem – wegen seiner literarischen Raffinesse, sagen wir ruhig: seiner Erzählkunst.

Den sogenannten Schwedenkrimi, der ein halbes Jahrhundert nach dem Gründerpaar Maj Sjöwall und Per Wahlöö und zwanzig Jahre nach der Renovierung durch Autoren wie Henning Mankell oder den eigenwilligen Håkan Nesser in seinem eigenen Schema erstarrt (oder besser: ziemlich ausgeleiert) wirkt, hat er damit auf höchstem Niveau revitalisiert. Diese „Wiederbelebung“ verdankt der Schwedenkrimi nicht etwa der Sprengung des Schemas. Vielmehr vertieft es Carlsson auf eine psychologische Weise, die wir vorher allenfalls von seiner (heute schon fast wieder vergessenen) norwegischen Kollegin Karin Fossum kannten. Carlssons wissenschaftliche Spezialisierung auf das Thema Kindheit, Lebensgeschichte und Kriminalität leistet nun doch ihren Beitrag, noch mehr aber sein erstaunliches erzählerisches Repertoire. Seine Handlung platziert er, soweit sich das beurteilen lässt, in seiner heimatlich-ländlichen Alltagswelt rund um das Dorf Marbäck und versieht sie mit vielen Details aus seiner eigenen Erfahrung und Lebensgeschichte. So gewinnt die Geschichte eine „realistisch“ vertiefte Anschaulichkeit, die aber niemals banal wirkt.

Als Hauptfigur des Buches erscheint zunächst der nach vielen Dienstjahren höchst erfahrene und allseits beliebte Landpolizist Sven Jörgensson, der sich kurz vor dem Ruhestand mit einem Serienmord an einheimischen Frauen konfrontiert sieht. Nachdem er das erste Opfer noch zu retten versucht hat, wird ihm fälschlicherweise Fahrlässigkeit mit Todesfolge vorgeworfen, woran er selbst über kurz oder lang zerbricht. Weder sein Sohn Vidar, noch seine vertraute Kollegin Evy können ihn davor bewahren, sie werden vielmehr selbst in seine irregeleitete und wahnhafte Selbstjustiz hineingezogen. Für Vidar ist dies der letzte Anlass, den Polizeidienst zu verlassen.

Nun aber greift – da zeigt sich die konstruktive Brillanz des Romans – der zunächst namenlose Erzähler ein, der dem Leser bereits in den Anfangskapiteln begegnet ist. Man kann ihm, einem halbwegs etablierten Schriftsteller, der in seiner Heimat eine Schaffenskrise aussitzen will, wohl eine biographische Nähe zum Autor Carlsson unterstellen, erfährt aber lediglich seinen Spitznamen: „Wurm“ für Bücherwurm. Der rätselhafte Serienmord in seiner Nachbarschaft, an dem auch sein Schulfreund Vidar verzweifelt ist, zieht ihn in seinen Bann – als literarisches Projekt wie als kriminalistisches und vor allem menschliches Problem. Und als er es tatsächlich zu lösen vermag, zeigt sich ganz nebenbei, dass auch Carlsson eine Grundregel der Agatha-Christie-Schule nicht vergessen hat: Schuldig ist immer der (oder die) Unauffälligste. Nur beendet diese Lösung hier kein Ratespiel, sondern begleitet und bewirkt viel menschliches Leid und Elend. 

Unter Verzicht auf jedes weitere Lob sei nur erwähnt, dass es schon 2021 einen ersten Roman mit dem jungen Polizisten Vidar gab: Unter dem Sturm, der zumindest bei uns fast unbeachtet blieb; in der deutschen Krimikritik haben zunächst nur Sylvia Staude in der Frankfurter Rundschau und Tobias Gohlis bei Deutschlandradio Kultur lobend auf ihn hingewiesen. Chronologisch liegt die Handlung von Unter dem Sturm vor Was ans Licht kommt. Durch den Schauplatz Marbäck und durch die Figur von Vidar mitsamt seinen biographischen Brüchen sind beide Romane miteinander verzahnt, und zwar sehr viel anspruchsvoller oder tiefgründiger als nach dem üblichen Fortsetzungs- oder Serienmodell. Zunächst erscheint Unter dem Sturm als eine Art „Kinderroman“ – allerdings weit jenseits von Bullerbü. Er erzählt von der Liebe des kleinen Isak zu seinem jungen Onkel Edvard, einem sympathischen Tunichtgut. Der Kleine stürzt in immer tiefere Verzweiflung, als sein großer Freund unter Mordverdacht gerät, verurteilt wird und sich schließlich im Gefängnis das Leben nimmt. Gegenläufig dazu wachsen beim jungen Polizisten Vidar die Zweifel an Edvards Schuld und an der Rechtmäßigkeit der Strafe. Nachdem er ohne Amt und Auftrag den Fall gelöst hat, verlässt er den Polizeidienst.

Zu erwähnen bleibt, dass Carlsson seinen Blick auf die alltäglichen Details des sozialen Lebens wie auch die der Natur in einen größeren Rahmen stellt. In Was ans Licht kommt ist dies das Datum des 28. Februar 1985, also der Abend, an dem im fernen Oslo der Ministerpräsident Olof Palme auf offener Straße erschossen wird – ein lange ungeklärtes Attentat, das mit dem Mord in Marbäck in keiner Weise zusammenhängt. Die Gleichzeitigkeit des Geschehens signalisiert jedoch symbolisch eine erste allgemeine Verunsicherung im allzu selbstsicheren Sozialstaat Schweden. Auch in Unter dem Sturm gibt es solch einen Bezugspunkt in der zeitgeschichtlichen Realität. Und hier ist der Titel sehr wörtlich zu nehmen: „Ganz unten“, in einem Erdloch im Wald, überlebt der junge Isak mit knapper Not den Orkan Gudrun, der in der Nacht vom 8. zum 9. Januar 2005 vor allem die ausgedehnten Waldgebiete Südschwedens weithin verwüstet hat.

Es empfiehlt sich also sehr, beide Romane in einem Zug zu lesen, am besten sogar – anders als dieser Kritiker – in der „richtigen Reihenfolge“. Da Unter dem Sturm nach dem Erfolg des Folgebandes nun als preiswertes Taschenbuch erneut auf den deutschen Markt gekommen ist, ist auch diese Lektüre eine mehr als lohnende Investition – als Ergänzung zu Christoffer Carlssons großartigem Kriminalroman Was ans Licht kommt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Christoffer Carlsson: Was ans Licht kommt. Kriminalroman.
Aus dem Schwedischen von Ulla Ackermann.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022.
496 Seiten, 23 EUR.
ISBN-13: 9783498001728

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