Widerwille gegen die Idee der Herkunft

Lukas Bärfuss denkt in seinem Essay „Vaters Kiste“ über das Erben in persönlicher und gesellschaftlicher Hinsicht nach

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter einem Erbe verstehen wir in erster Linie eine materielle Hinterlassenschaft. Die Kinder übernehmen die Güter, die ihre Eltern angehäuft und besessen haben, wobei diese Verteilung oft mit Konflikten behaftet ist. Nicht selten aber bleibt gar nichts zu verteilen, wie im Fall von Lukas Bärfuss. Weil sein Vater bloß Schulden hinterließ, schlug er vor 25 Jahren sein Erbe aus. Geblieben ist ihm eine Kartonkiste, Vaters letzte Hinterlassenschaft. Verschlossen blieb sie Teil seines Hausrats.

Der eigenen Geschichte entkommt niemand, das weiß auch Lukas Bärfuss. Irgendeinmal müssen wir uns alle darum kümmern. Indem er nach vielen Jahren die Kiste öffnet, wird er nicht nur mit der Geschichte eines Mannes konfrontiert, „von dem es hieß, er sei mein Vater gewesen“. Sie katapultiert ihn in der Erinnerung auch in die späten 1990er-Jahre zurück, als er selbst, wie sein Vater, „in Schulden, Armut und Kriminalität unterzugehen“ drohte. Einzig die Bücher, die er las und besaß, und die Idee, Schriftsteller zu werden, hätten ihn gerettet, ist er überzeugt. Bücher hatte sein Vater tatsächlich keine. Dafür konnte er erzählen, schwindeln, seine Gesprächspartner um den Daumen wickeln, um ein Darlehen zu erhalten, das er nie zurückzahlen würde.

Die väterliche Kartonkiste ist für Bärfuss der Anlass, um sich an den weitgehend abwesenden Vater, der ein „notorischer Lügner“ war, an die tüchtige, aber schwierige Mutter, die sich selbst „eine Rabenmutter“ nannte, und an den deprimierenden Zerfall der Familie zu erinnern. Noch nie hat er bisher so persönlich von seinem prekären Leben in jenen jungen Jahren erzählt. Für die Geschichte seiner Familie „schämte ich mich nicht, aber ich behielt sie meistens für mich“. Er würde sie später in einer großen Erzählung behandeln, glaubte er damals, doch heute gibt es dafür „keine Notwendigkeit mehr“. Die persönliche Erinnerung ist für ihn vielmehr der Drehpunkt für eine essayistische Denkbewegung, in der er engagiert und pointiert das Persönliche mit dem Gesellschaftlichen verbindet.

Bärfuss‘ Blick richtet sich dabei auf seine Bibliothek. Im Regal findet er beispielsweise Darwins Über die Entstehung der Arten, in dem das genealogische Erbe der belebten Welt in eine Ordnung gebracht wird. Dass ein ausgewiesener Nazi das Vorwort zu seiner Reclam-Ausgabe geschrieben hat, weckt seine Skepsis. Später stößt er bei Claude Lévy-Strauss auf eine für ihn grundlegende Sollbruchstelle. Die Menschheit gründe darauf, heißt es da, dass Frauen Kinder gebären und dafür „männlichen Schutz“ erhalten. Es ist dieses Wort „männlich“, das für Bärfuss all das Verdrehte signalisiert, an dem Geschichte, Herkunft und Erbschaft kranken. So ist seit römischer Zeit die Familie als soziale und ökonomische Einheit mit dem „Pater Familias“ verknüpft und diesem unterstellt.

Die Männlichkeit, oder wie es einmal heißt, die „säuerliche Form der Virilität“, ist eines seiner literarischen Kernthemen. Seit seiner Debütnovelle Die toten Männer erzählt Lukas Bärfuss von Männern, die aus ihrem Lebensalltag ausbrechen und ins Unkontrollierbare hinaustreiben. „Da fehlt doch etwas“, bemerkt einer von ihnen im Erzählband Malinois. Was aber ist es? In Vaters Kiste deutet Bärfuss eine Antwort an. Das traditionelle Männerbild erodiert, indem die Mängel und Ungerechtigkeiten des patriarchalen Familienmodells sichtbar werden. 

Die väterliche Kiste wird zum Symptom für eine Gesellschaft, die sich über die Herkunft und über das Privateigentum definiert. Bärfuss befällt ein Widerwille gegen „diese Obsession, sich über seine Vorfahren zu definieren“. Begriffe wie Herkunft, Familie, Erbe konkurrenzieren Eigenschaften wie Initiative oder Tatkraft. Erstere sind stärker, mutmaßt er, wenn es darum geht, „ein wirtschaftliches Subjekt zu werden“, damit man “Eigentümer sein“ könne. Das Eigentum wiederum wird angehäuft, beschützt und vererbt. Bärfuss hält dem entgegen, dass dieses Eigentum, so privat es auch sei, immer „im Verhältnis zur Vorleistung durch die Gesellschaft steht“ – genauer: stehen müsste, getreu dem Grundsatz: „Jedes Ereignis ist der Nachkomme nicht von einem, sondern von allen anderen Ereignissen, die vorher oder gleichzeitig stattfanden“. Gerade beim Erben wird dies nicht eingelöst, vielmehr verengt sich – nach landläufiger Praxis – die breit gefächerte gesellschaftliche Vorleistung auf einen familiären Strang. Das Erbrecht leistet dabei gute Dienste.

Die Problematik dieser Verkettung und Verengung veranschaulicht Bärfuss überraschend mit einem Gegenbegriff: dem Privatmüll. Hier wird die Ungerechtigkeit und Verantwortungslosigkeit evident, allein schon deshalb, weil Müll immer vergesellschaftet, der Allgemeinheit, beispielsweise der öffentlichen Müllabfuhr überantwortet wird. Dies gilt erst recht mit jener Erbschaft, die „herrenloses“ ökologisches Gut ist: Kohlendioxid, Methan. Dementsprechend plädiert Bärfuss auch beim Eigentum für die Stärkung einer alten Idee, der Allmende. Sie hat im Zeitalter des Privateigentums und des Wettbewerbs an Bedeutung, nicht aber an Tragkraft verloren.

Auf stilistisch konzentrierte Weise weitet Lukas Bärfuss sein Thema aus dem Persönlichen ins Gesellschaftliche. Er erweist sich dabei nicht als der brillante, elegante Essayist, sein Text behält immer auch etwas Stacheliges, Aufmüpfiges. Entsprechend gelingt ihm nicht jeder Übergang, jede Verknüpfung reibungslos. Bärfuss sieht sich viel eher als engagierten Anreger von Diskussionen, der nicht davor zurückschreckt, Position zu beziehen und sein Publikum damit zu konfrontieren. Deshalb erstaunt es nicht, dass Vaters Kiste aus einer Rede über die „Rechte der Nachgeborenen“ entstanden ist und seinen leidenschaftlich appellativen Gestus auch in der Buchform bewahrt hat. Wer immer ans Erben denkt, so Bärfuss, sollte auch ans Vererben an künftige Generationen denken.

Titelbild

Lukas Bärfuss: Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022.
96 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783498003418

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