Gemeinsam für unseren Planeten.
In Ulla Hahns neuem Roman „Tage in Vitopia“ erzählt ein Eichhörnchen von einem harmonischen Kongress zur Rettung der Erde
Von Miriam Seidler
Der Zustand unseres Planeten bereitet vielen Menschen Sorgen. Nicht erst seitdem die Bewegung Fridays for Future lautstark in Demonstrationen ihren Ängsten Ausdruck verleiht, werden die Folgen von Erderwärmung und Klimawandel diskutiert. In der Literatur wird das Thema meist als Dystopie gestaltet. So zeigt beispielsweise Margaret Atwoods MaddAddam-Trilogie (2003–2013) eine Welt, in der das Ökosystem aus den Fugen geraten ist und unzählige neue Wesen durch Genmanipulation entstanden sind. Atwood mahnt – wie andere Autorinnen und Autoren, die sich mit dem Thema auseinandersetzen – in ihren von literarischen Einfällen reichen Romanen einen anderen Umgang mit den der Menschheit zur Verfügung stehenden Techniken und Ressourcen an. Doch kann man vom Klimawandel und seinen prognostizierten Folgen auch erzählen, ohne dabei die Folgen menschlichen Handelns in schwärzesten Farben auszumalen? Ist ein utopisches Erzählen möglich, dass eine zukünftige Gesellschaftsordnung entwickelt, die von Rücksicht auf Flora und Fauna geprägt ist? Diese Fragen treiben die Autorin Ulla Hahn um, die mit ihrem Roman Tage in Vitopia ein Gegenmodell zu dystopischen Klimawandelerzählungen entwickeln möchte.
Die Erzählanordnung könnte ungewöhnlicher nicht sein. Als Erzähler wählt Ulla Hahn das Eichhörnchen Wendelin Kretzschnuss – Thomas Mann lässt grüßen – , das ihr den Roman diktiert hat. Zu Beginn der Erzählung beobachtet das Eichhörnchen aus sicherem Abstand die Menschen in der Villa an der Alster, die in seinem Revier steht. Das Eichhörnchen, das sich selbst gerne mit der lateinischen Gattungsbezeichnung als Sciurus vulgaris bezeichnet, beschreibt seine eigene Spezies als neugierig und so wundert es nicht, dass Wendelin und seine Frau Coco von Hazelpusch, genannt Muzzli, die Gelegenheit nutzen und die Wohnung der Menschen inspizieren, wenn diese nicht zuhause sind. Besonders angetan hat es den beiden das Bücherregal, das ihnen die Welt des Wissens öffnet. Schnell entwickelt sich, begünstigt durch das nicht näher beschriebene Übersetzungsgerät „Agata Babalaba“, ein immer engeres Verhältnis zu den Bewohnern der Villa: Maria und Josef Schönregen. Auch hier ist die Namensgebung symbolisch zu verstehen, ist doch das Philosophen-Ehepaar durchaus in der Tradition der biblischen Namensvetter zu sehen.
Willi, der Sohn der beiden Eichhörnchen, wird als Streuner beschrieben. Nach der Rückkehr von einer langen Reise berichtet er von einer geplanten Demonstration von Menschen und Tieren – Hahn wählt durchgängig die Bezeichnung Humans und Animals – zur Rettung des Hambacher Forst. Die Schönregens sind sich mit den Eichhörnchen schnell einig: Daran müssen sie teilnehmen. Gemeinsam setzt man sich ins Auto und fährt nach Nordrhein-Westfalen. Der Kampf um die alten Waldbestände wird von allen als einmaliges Erlebnis erfahren. Es bilden sich spontan solidarische Bewegungen. Ein animalisches Orchester unter der Leitung des Reihers Fridolin symbolisiert die neu entstandene Einheit. Diesem ist es zu verdanken, dass die zur Räumung angerückte Polizei so in den Bann der Musik gezogen wird, dass der ursprüngliche Auftrag schnell vergessen ist: Der leitende Beamte dirigiert gemeinsam mit dem Reiher Fridolin das Orchester, während ihm ein Eichhörnchen auf den Helm springt. Das Bild des „mit dem Schlagstock Volkslieder dirigierenden Polizisten mit Eichhörnchen-Schutzhelm“ geht als Symbol für das friedliche Miteinander von Mensch und Tier um die Welt und die Rodung ist verhindert. Dieses Hambacher Fest, wie Wendelin das Ereignis fortan nennt, ist der Auftakt für verschiedene Aktivitäten weltweit, die Mensch und Tier verbinden. Die Gruppe um die Schönregens, Wendelin und seine Frau Muzzli vergrößert sich im Folgenden um Freunde und Bekannte, die Wendelin nach ihrem Versammlungsort auf der Veranda der Villa als Verandisten bezeichnet. Diese hecken gemeinsam den Plan aus, dass es eines Kongresses bedarf, der den positiven Schwung der Ereignisse im Hambacher Forst aufgreift und sich Gedanken zur Rettung der Erde macht.
Da man keine zündende Idee für einen Versammlungsort hat, bitten Willi und Josef das Eichhörnchen Schatzhauser um Hilfe. Die Figur ist nicht nur dem guten Geist aus Wilhelm Hauffs Märchen Das kalte Herz nachempfunden, sondern verfügt auch über magische Fähigkeiten. Dieser organisiert in der Folge nicht nur den Tagungsort – über eine Alraune, die am Ende des Regenbogens in die Erde gesteckt wird, gelangt man nach Vitopia –, sondern holt auch Thomas Morus und Karl Marx als Organisatoren mit ins Boot, die mit hervorragendem Geschick für eine gelungen Veranstaltung sorgen. Vitopia gestaltet Ulla Hahn als eine Art Schlaraffenland unter klimapolitischen Vorzeichen. Es ist für das Wohl aller gesorgt, ohne dass dadurch die Rechte eines anderen Lebewesens verletzt werden. So gibt es beispielsweise im Reagenzglas gezüchtetes Fleisch oder vegetarischen Fleischersatz, sodass kein Tier getötet werden muss, um ein anderes zu ernähren. Oder Marder und Eichhörnchen können gemeinsam tanzen, denn es geht keine Gefahr vom ehemaligen Fressfeind mehr aus. Auch Liebesbeziehungen werden völlig neu gedacht, wenn sich das Eichhörnchen Willi in die griechische Schleiereule Hera verliebt. Den Menschen gliedert Hahn als „künstliches“ Tier in diese Gemeinschaft ein, ohne im Folgenden eine plausible Lösung für die Aufgabe der menschlichen Führungsrolle zu entwickeln.
Vitopia ermöglicht es den Kongressteilnehmern, an unterschiedliche Orte zu gelangen. Der erste humananimalische Weltkongress findet im Theater von Epidauros auf dem Peloponnes statt. Hier erscheinen als Delegierte nicht nur der jeweils älteste Vertreter jeder Gattung und Vertreter aller Kontinente, darüber hinaus sind auch verschiedene menschliche Berufsgruppen vom Biobauern über Naturwissenschaftler und Philosophen bis hin zu Künstlern vertreten. Zudem gibt es einzelne Gruppen, die im Lauf des Kongresses eine besondere Rolle spielen, wie z. B. die Vertreter*innen der Fridays for Future-Generation oder die Tiere, die von Menschen in Tierversuchen gequält wurden. Narrativ haben diese aber lediglich moralischen Appellcharakter, ohne dass eine Konsequenz auf der Handlungsebene aus ihrem Auftritt folgt. Bereits beim Einzug in die Arena, die eher an eine Karnevalsveranstaltung erinnert als an einen Kongress zur Rettung der Erde, wird deutlich, wo es im Folgenden hingeht:
Galilei, Kepler, Kopernikus, Ptolemäus stemmten die Milchstraße hoch mit einem winzigen schwarzen Loch, Schrödingers Katze war mal hier und nicht hier, und da war sie auch nicht, tot oder lebendig. Einstein jagte ihr mit E=mc² vergeblich hinterher.
Hier ist durchaus Ulla Hahns Lust am Erzählen zu beobachten, allerdings überzeugt die Art und Weise wie sie die drängenden ökologischen Fragen mit der Einbindung historischer Persönlichkeiten jeglicher Couleur von Franz von Assisi über Goethe oder Marie Curie bis hin zu den Musikern von Kraftwerk als Vorbilder für Avatare verknüpft auf keine Weise. Die Lektüre des Romans ermüdet zunehmend, da über die Verbindung aus Belehrung und bildungsbürgerlicher Fabulierlust das eigentliche Thema verloren geht. Und spätestens als die personifizierte Erde in Form von Gaia persönlich auftritt, um zu den Delegierten zu sprechen und ihre Rede mit einem Zitat Friedrich Schillers endet, stellt sich die Frage, ob es nicht die Selbstüberschätzung des Bürgertums ist, die mit dazu beiträgt, dass den mit dem Klimawandel einhergehenden Gefahren nicht adäquat begegnet wird.
Grundsätzlich zeigt das Modell des animalischen Erzählers große Schwächen, gelingt es Hahn weder ein Wesen zu imaginieren, das nicht über ein humanes Selbstbewusstsein verfügt, noch plausibel zu erklären, warum die gesamte Eichhörnchenfamilie intellektuell den Menschen ebenbürtig ist. Zwar versucht Hahn immer wieder reflexive Element in den Text einzubauen, in denen das Eichhörnchen Wendelin in direkter Leser*innenansprache thematisiert, inwiefern seine Beziehung zu den Menschen sein Denken und Handeln beeinflusst, dennoch schießt die Autorin bei dem, was sie ihrer Erzählerfigur in den Mund legt, weit über das Ziel hinaus. Folgende Überlegungen zum Wesen des Menschen schließen an eine Sequenz an, in der die Tagungsteilnehmer Aufnahmen von Tierversuchen aus der Perspektive der gequälten Tiere gesehen haben:
Was nutzt ihm sein bewundernswertes Werkzeug, sein Großhirn, das ihn von uns Animals so deutlich, oft beneidenswert, unterscheidet, wenn es ihn letztlich in zwei Arten spaltet wie in der Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, einem bösen und einem guten Human in einer Person. Diese Humans töten und lieben einander; schaffen mit ihren geistigen Kräften, ihren wissenschaftlichen Leistungen sowohl Massenvernichtungswaffen wie Impfstoffe gegen Pest und Cholera; mit den imaginären Kräften ihres Gehirns entwerfen sie perfide Pläne zu Hass, Krieg und Mord, doch ebenso religiöse und künstlerische Visionen, Wege zu einem besseren Ich. So wie Antigone von Sophokles: Nicht mit zu hassen, mit zu lieben bin ich da.
Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert reicht hier das literarische Wissen, über das das Eichhörnchen verfügt. Zwar wird bei den zahlreichen historischen Figuren, die in Vitopia zu Gast sind, immer wieder auf Maria und Josef als Übersetzer der historischen Bedeutung verwiesen, dennoch wirkt der mit historischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Bezügen überladene Text wenig glaubwürdig. Wie soll sich ein Sciurus vulgaris ohne menschliches Großhirn – um in der Diktion des Textes zu bleiben – solch umfangreiches bildungsbürgerliches Wissen angeeignet haben? Wie gelingt es ihm als nichtmenschlicher Nicht-Muttersprachler auf so gekonnte Art und Weise deutsche Redewendungen einzusetzen?
Bevor Ulla Hahn ihren ersten Roman Ein Mann im Haus veröffentlichte, hatte sie bereits vier hochgelobte Lyrikbände publiziert. Das lässt einen virtuosen Umgang mit Sprache erwarten. Doch wenn Wendelin Kretzschnuss keckheckmeckt-rapphappmappt, dann ist das Ergebnis enttäuschend. Die vielen im Text eingebundenen Gedichte zeichnen sich oftmals eher durch Einfachheit denn durch sprachliche Raffinesse aus. Wenn Hahn dann Bob Dylan und Friedrich Schiller gemeinsam dichten lässt, so möchte man, ob der Qualität des Ergebnisses, das Buch endgültig zuschlagen.
Es gibt Romane, die machen der Autorin bzw. dem Autor Spaß, und es gibt Romane, die erfreuen Leserin und Leser. Bei Ulla Hahns neuem Roman Tage in Vitopia ist eindeutig ersteres der Fall. Die Autorin hat mit viel Freude zahlreiche intertextuelle Bezüge in ihren Text eingebaut, lässt ihr liebe Personen der Literatur- und Wissenschaftsgeschichte auftreten und beschreibt Veranstaltungen, deren Besuch ihr selbst sicher jede Menge Freude bereitet hätte. Der Funke will allerdings beim Lesen nicht überspringen. Vielmehr stellt sich in der Mitte des Romans eine Frustration ein, weil das harmoniesüchtige bildungsbürgerliche Schaulaufen eine kritische Reflexion des Anthropozän-Diskurses verhindert, der – so zeigt das Erzählexperiment – nicht aus der Perspektive eines anthropomorphisierten Eichhörnchens erfolgen kann.
Dem britischen Naturwissenschaftler Charles Darwin legt Ulla Hahn die Worte in den Mund:
Wo ist der Dichter, die Dichterin, die sich der Herausforderung stellt, die das Lied der Evolution singt, des Klimawandels, des Kosmos? Und nie vergessen: das Lied des Miteinanders. Des Friedens.
Ulla Hahn hat sich der Aufgabe gestellt und einen bemühten, moralisch überlegenen Roman geschrieben, der trotz des phantastischen Ansatzes als Thesenroman daher kommt. Damit kann sie vielleicht ihre Stammleser*innen überzeugen, aber keine neuen Leser*innenschichten für die Auseinandersetzung mit dem Klimawandel gewinnen. Vielleicht ist ein bildungsbürgerlich geschultes Eichhörnchen hier auch nicht unbedingt der geeignete Erzähler. Und so bleibt mir am Ende nur die Bitte an die Programmleiterin des Penguin Verlags: Liebe Frau Krones, sollte Ihnen noch einmal das Manuskript eines Eichhörnchen angeboten lassen, bitte überlassen sie es einem Verlag, der auf narrative Texte von Eichhörnchen spezialisiert ist!
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