Der Horror-Humanist

Übernatürlich ja, aber realistisch! Zum 75. Geburtstag von Stephen King hat der Phantastik-Experte Dietmar Dath eine lesenswerte Einführung vorgelegt

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer oder was hat uns eigentlich Stephen King eingebrockt, dem wir all die literarischen Albträume, Serienkiller, Zombie-Kids und Monster verdanken? Der unser Seelen-Alltagsleben in den vergangenen Jahrzehnten, wie Frank Schirrmacher einmal bemerkte, mehr geprägt haben dürfte als irgendein anderer zeitgenössischer Schriftsteller?

Denn wenn heute auf der ganzen Welt Leser:innen beim Anblick von Luftballons, Clowns oder Krankenschwestern Gänsehaut bekommen, dann nur wegen dieses Bestsellerautors aus Bangor im US-amerikanischen Bundesstaat Maine (wo auch die meisten von Kings Werken spielen). In 48 Jahren hat Stephen King uns sage und schreibe 62 Romane und über hundert Kurzgeschichten und Novellen beschert, darunter moderne Klassiker wie Shining (1977, drei Jahre später von Stanley Kubrick mit Jack Nicholson in der Hauptrolle verfilmt), Es (1986), Sie (1987) oder den vielleicht besten Zeitreiseroman aller Zeiten, Der Anschlag (2011).

War es der Unfall, dessen Augenzeuge der Vierjährige einer Familienlegende zufolge gewesen sein soll, als ein Freund beim Spielen auf Eisenbahnschienen vom Zug erfasst wurde? War es der Vater, ein Captain der Handelsmarine und selbst Hobbydichter, der sich auf Nimmerwiedersehen aus dem Staub machte und seinem damals zweijährigen Sohn damit die ewige Wunde des Verlassenwerdens zufügte? War es die Tante, der jede abgeschlossene Geschichte des Neunjährigen gleich einen Vierteldollar wert war, oder doch die geliebte Mutter, die ihrem Sohn die erste Schreibmaschine schenkte und schon früh an Krebs starb?

Warum genau Kings Fantasie uns diesen gigantischen „Basar der bösen Träume“ (mit dem Titel einer Kurzgeschichtensammlung von 2015) beschert hat, weiß natürlich auch Dietmar Dath nicht. Doch der Kulturkritiker, Feuilletonredakteur der „Frankfurter Allgemeinen“ und Verfasser einer 1000-seitigen Science-Fiction-Studie (Niegeschichte, Wallstein 2019) erinnert daran, dass King selbst, der aufgrund von Depressionen jahrelang mit seiner Alkohol- und Kokainsucht kämpfte, sein Schreiben einmal als Ersatz für eine Psychoanalyse bezeichnete.

Tatsächlich verarbeitete der Schriftsteller in seinen Werken immer wieder erschreckende Lebenserfahrungen – wie das Eindringen eines psychisch gestörten Fans in Kings Haus in dem Roman Misery oder seinen Beinahetod 1999, nachdem er beim Spazierengehen von einem alkoholisierten Autofahrer angefahren worden war, in seinem Hauptwerk, dem Romanzyklus Der dunkle Turm.

Die pünktlich zu Kings 75. Geburtstag in der Reihe Reclam 100 Seiten erschienene Einführung von Dietmar Dath ist ungemein anregend, klug und lesenswert, für King-Novizen ebenso wie für Aficionados. Aber kann es sich bei etwas, das so erfolgreich ist – von seinen in über 40 Sprachen übersetzten Werken wurden weltweit über 400 Millionen Exemplare verkauft, fast alle wurden verfilmt – überhaupt um ernstzunehmende Kunst handeln? Oder ist diese Frage längst geklärt, spätestens als King 2003 den Ehrenpreis für sein Lebenswerk von der „National Book Foundation“ erhielt oder er 2014 vom US-Präsidenten Barak Obama mit der National Medal of Arts ausgezeichnet wurde?

Tatsächlich stellt sich diese Frage nicht nur hierzulande, wo die Grenze zwischen E und U, zwischen renommierter Literatur und bloßen Unterhaltungswerken, noch immer hochgehalten wird und gerade Genrewerke im Feuilleton mit spitzen Fingern angefasst werden. So bezeichnete der Literaturkritiker Lothar Müller, als er sich am Literaturphänomen King abarbeitete, dessen Werke als „banal“, und das Time Magazine sprach gar ratlos von einer „Literatur für Analphabeten“. Ironischerweise hat King selbst seine Werke schon früh in sympathischem Understatement als das „literarische Äquivalent eines Big Mac mit Pommes“ beschrieben.

Wie schön daher, dass Dietmar Dath die Frage nach Kings künstlerischen Qualitäten ins Zentrum seiner Einführung stellt: ob es um Kings Vielseitigkeit und Kreativität geht wie seine Stärken als Kurzgeschichten- oder Novellenverfasser oder um die besonderen Eigenschaften seiner Prosa, die sich, wie Dath an ausgewählten Textstellen aufzeigt, in ihren besten Momenten gerade durch ihre ergreifend-lakonische Schlichtheit auszeichne. Und Kings Geschichten selbst folgten oft dem Modell einer Pilgerfahrt oder Heldenreise, in der die Protagonisten über sich hinauswachsen und sich ihren Ängsten stellen müssen, um zu bestehen. Wie in der Coming-of-Age-Novelle The Body (deutsch Die Leiche, 1986 verfilmt von Rob Reiner), heute in den USA ein Standardwerk in literaturwissenschaftlichen Seminaren.

Bei King, so Dath, sei der Horror eben kein Selbstzweck, sondern eine „Prüfung“ seiner Helden, und das Böse in seinen Werken sei meist die Folge einer notorischen „Fantasieblindheit“ von Menschen (oder anderen Kreaturen), die sich bestimmte Dinge einfach nicht vorzustellen vermögen – was dann wiederum oft auch ihre Achillesferse sei. King, so Dath, sei daher letztlich ein „Horror-Humanist“ – zum Ärger mancher Hardcore-Genrefans, für deren Geschmack in Kings Romanen zu wenig (!) Blut fließe.

Überhaupt sei Kings besonderer „Dreh“, so Dath, dass er zwar von Übernatürlichem wie Vampire, Monster oder Geister erzähle, dies aber gerade auf eine unnachahmlich realistische Weise: King vermöge es so glaubhaft von einem Vampirbiss zu erzählen, „wie man wahrheitsgemäß von einem giftigen Insektenstich erzählen würde.“ Nur schade, dass Dath kaum darauf eingeht, wie sehr Kings Werke aufgrund von Querverweisen einen gemeinsamen Kosmos bilden oder dass seine Geschichten fast alle, wie die William Faulkners, in einer fiktiven Topografie spielen, mit den Orten Castle Rock und Derry als Zentren.

Heute, mit 75 Jahren, ist Stephen King längst nicht nur ein Bestsellerautor (und als solcher einer der reichsten der Welt), sondern einer der engagiertesten Intellektuellen der USA: mit seinem beständigen Werben für die im Zeitalter der Digitalisierung bedrohte Literatur (wie aktuell als Zeuge der US-Regierung gegen die zunehmende Konzentration in der Verlagsbranche), seinem Eintreten für schärfere Waffengesetze (wie in seinem Essay Guns von 2013) oder seinem (auch auf Twitter ausgetragenen) Kampf gegen den politischen Populismus Donald Trumps. Amerikas 45. Präsidenten hatte der eben alles andere als fantasieblinde King bekanntlich schon 1979 vorhergesehen, in seinem Roman Dead Zone – Das Attentat, in der Figur des Unternehmer-Politikers Greg Stillson.

Titelbild

Dietmar Dath: Stephen King, 100 Seiten.
Reclam Verlag, Stuttgart 2022.
100 Seiten , 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783150206744

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