Mündliches Erzählen, unerhörte Begebenheit und die Macht des Dämonischen

Die Novelle „Der Schuss im Park“ führt die Erkneraner Gerhart-Hauptmann-Ausgabe weiter

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Novelle Der Schuss im Park erschien 1939, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, und gab sich bewusst harmlos und unverfänglich. Es geht hier um den Bigamie-Fall eines deutschen adligen Afrikareisenden namens Baron Degenhart, der in Daressalam (Tansania) – es kam in den 1890er Jahren unter die deutsche Kolonialverwaltung von Deutsch-Ostafrika – ein „Halbblutmädchen“ und später ohne Trennung der ersten Ehe eine deutsche Baronesse geheiratet hatte. Doch in der unmittelbaren Vorkriegszeit war die politische Situation im nationalsozialistischen Deutschland schon so angespannt, dass die Verbindung mit einer Afrikanerin als ‚Rassenschande’ angesehen wurde. Reichspropagandaminister Goebbels verhinderte eine Neuauflage, es wurde keine Papierzuweisung bewilligt. Die Novelle konnte aber in die große 17-bändige Werk-Ausgabe aufgenommen werden.

Nicht wegen ihrer doch recht konventionellen Handlung ist die Novelle bedeutsam, zumal Hauptmann das Thema des Mannes zwischen zwei Frauen schon in Einsame Menschen (1891) und Gabriel Schillings Flucht (1912) aufgegriffen hatte. Sie zeigt einen neuen Ansatz in seinem erzählerischen Werk auf, wie der Münsteraner Literaturwissenschaftler Gert Oberembt in seinem aufschlussreichen Beitrag zu einem 1996 in Lodz erschienenen Gerhart-Hauptmann-Studienband nachgewiesen hat: in der Verwendung der fingierten mündlichen Erzählung. Beeinflusst wurde Hauptmann wohl von dem 1938 verstorbenen Afrikaforscher und Kulturanthropologen Leo Frobenius und seinem Paideuma-Buch. Paideuma heißt die „Seele einer Kultur“, auf der die Kulturmorphologie von Frobenius beruht, wonach der natürliche Lebensraum einen bedeutenden Einfluss auf die Lebenskraft und das Seelenraumgefühl ausübt. Die menschliche Seele braucht ein Umfeld, in dem sie sich geborgen fühlen und Kraft sammeln, aber auch frei mit anderen kommunizieren kann. So hängt schreiben und erleben eng zusammen und Frobenius‘ Auffassung einer intuitiven geistbeseelten Mündlichkeit hat wohl Hauptmann veranlasst, so Gert Oberempt, die von Geselligkeit geprägte und von Gesellschaftsnähe bestimmte Novellengattung und damit die fingierte Mündlichkeit als Erzählmuster zu wählen.

Nun belegen zwar die Formelemente dieser Novelle Goethes „unerhörte Begebenheit“ – der Schuss, den Baron Degenhart im nächtlichen Park auf seine schwarze Frau abfeuert, seine Flucht aus der familiären Existenz eines adligen Gutsbesitzers, die er sich inzwischen geschaffen hatte – ja wohin, wieder nach Afrika? –, seine Umwelt ratlos und rätselnd zurücklassend. Doch geradlinig und prägnant wird nun die Geschichte des so umtriebigen Barons keineswegs erzählt, sie setzt sich auch aus zeitlich weit auseinanderliegenden Begebenheiten und Ereignissen zusammen. Dem Erzähler, dem pensionierten Forstmeister und Botaniker Onkel Alfred, der sich nach Jauer am Fuße des Riesengebirges zurückgezogen hat (für ihn diente Hauptmanns hier 1897 verstorbener Onkel Adolf Straehler als Modell), ist dessen Neffe Konrad (hier stand wohl der leibliche Neffe des Schriftstellers, Konrad Hauptmann, Pate) zugeordnet, der zu Besuch bei ihm weilt und sich nun von ihm – mit vielen Unterbrechungen – die Geschichte von der Baroness Weilern und dem Baron Degenhart erzählen lässt, wobei der Erzähler selbst als erzählte Figur in den kunstvoll gestalteten Gang der Handlung eingeschaltet ist. Zum Zeitpunkt der Erzählzeit der Novelle stand der junge Hauptmann zudem selbst in Beziehung zu zwei Frauen, zu seiner Ehefrau Marie Thienemann und zu seiner Geliebten und späteren zweiten Ehepartnerin Margarete Marschalk, mit der er nach Italien gefahren war.

Aber auch an den Schriftsteller Rudolf G. Binding, einen Autor der „konservativen Revolution“ (so bezeichnete ihn Armin Mohler, ein Vordenker der Neuen Rechten), mag Hauptmann beim Schreiben der Novelle gedacht haben. Denn 1933 lernte dieser Elisabeth Jungmann kennen, die seit 1922 Hauptmanns Sekretärin war und die nun zu Binding wechselte. Sie war Jüdin und Bindings Prominenz schützte sie bis zu seinem Tod 1938 vor Verfolgung, dann musste sie fast mittellos nach England emigrieren.

In der Rahmen- wie mehrfach gebrochenen Binnenhandlung der Novelle scheinen archetypische Vorstellungen auf. Der erzählgewaltige Onkel Adolf ist von einer Aura des Dämonischen umgeben, er wächst fast ins Mythische hinein. Es geht ihm nicht um Aufklärung einer sonderbaren Geschichte, sondern Leben und Schicksal des Barons verleiht er den Charakter des Ungewöhnlichen, ja Irrealen. Mit dem Verschwinden des Barons und der Fürsorge der Baronin für dessen erste Ehefrau wird zwar ein gewisser Abschluss gegeben, aber das Geheimnis, das über dem Schicksal des Barons – dem menschlichen Schicksal überhaupt – liegt, wird nicht gelüftet.

Gert Oberempt hat auf Analogien zwischen der häuslichen Beengtheit und vereinsamten Alterssituation des Onkels und dem umhergetriebenen, unbeheimateten Wesen des Barons verwiesen, für den, nachdem er in die Herrschaft Konern der Baronin Weilern eingeheiratet hat, täglich im Stall sein Leibpferd gesattelt bereitstehen muss. Gottfried August Bürgers Ballade Knapp‘, sattle mir mein Dänenross, dass ich mir Ruh erreite steht dafür als literarischer Beleg. Auch im Kuppelraum des Paideuma-Domes von Frobenius wird das natürliche Raumgefühl des Menschen im Nachempfinden des Höhlengefühls durch die bergende Form erzeugt, während sich das Weitengefühl durch die sphärische Konstruktion der sich zum Himmel öffnenden Wölbungen ergibt. Die menschliche Seele braucht ein Umfeld, wo sie sich geborgen fühlt und Kraft sammeln kann. Aber für die Verbindung mit der großen, weiten Welt steht Afrika, von Frobenius als „Kindheit der Menschheit“ betrachtet, Afrika steht hier für Spontaneität, Intuition und Kreativität, die Europa im Laufe des Zivilisationsprozesses abhandengekommen waren.

Hauptmann interessiert der merkwürdige Fall; der Mensch steht im ständigen Widerspruch zu sich selbst; Leidenschaft, Verwirrung, Grenzsituationen bestimmen ihn. Das Verketten der Ereignisse, der Drehpunkt der Handlung werden angestrebt, aber die Lösung bleibt offen, die Umstände behalten die Aura des Geheimnisvollen. Hauptmann betreibt eine psychologische Erhellung nur insoweit, dass trotzdem die Begebenheiten im Hinblick auf das Leben als rätselhaftes Geschick erzählt werden können.

Das individuelle Schicksal wird von den im Unterbewusstsein verankerten, rätselhaft dämonischen Triebkräften bedingt. Das menschliche Handeln soll eindeutigen moralischen Wertungen wie Gut und Böse, Schuld und Unschuld, Recht und Unrecht entzogen werden. Hauptmann sah nach 1933 das Land beherrscht von fanatisierten Massen und einem nach Macht drängenden Menschentyp. Es ging ihm darum, das gefährlich Irrationale und Hemmungslose aufzudecken. Ist der Faschismus nicht auch aus dunklen Trieben der Massen entstanden? Das ist sicher nur die halbe Wahrheit, aber der Schriftsteller wollte wünschbare Verhaltensweisen, die gegen den faschistischen Irrationalismus zeugen sollten. In dem von dionysischem Geist erfüllten Onkel Alfred, dem Urbild des tüchtigen und naturnahen Försters, dessen Erzählen wie ein eruptiver Naturvorgang erscheint, ist das von Frobenius angesprochene dämonische Paideuma gegenwärtig, das sich gegen die nackte „Welt der Tatsachen“ abzugrenzen sucht:

Ein Musiker dagegen, der eine Beethovensche Sonate vorträgt, versenkt sich in genau die gleiche Welt des Dämonischen, wie das alte bäuerliche Mütterchen, das Kindern ein Märchen erzählt.

Nun wird jener Baron Degenhart bei seinem ersten Auftritt „im Innern von Afrika“ zwar als amüsanter Causeur vorgestellt, aber zugleich hat er sich einem „Kultus des rücksichtslosen Lebensgenusses“ verschrieben. Und als eine junge schwarze Frau sich ihm vertraut nähert, bezeichnet er sie verächtlich als „so ein kleines Spielzeug von mir“, als sein „schwarzes Käthchen von Heilbronn“. Und das wird ihm dann zum Verhängnis, denn als der ahnungslose Forstmeister den inzwischen auf dem Gut Konern beheimateten Baron auffordert, doch die Geschichte dieses Käthchens von Heilbronn zu erzählen, wird das Geheimnis des Barons offenbar, denn er war mit dieser Frau eine Ehe eingegangen, ein Fakt, der nun seinen neuen Ehe- und Familienstatus zunichtemacht. Der Baron Degenhart wird wieder hinaus in die Welt getrieben, er bleibt der Hasardeur, der unkalkulierbare Risiken eingeht und dabei seine Existenz nicht eigener Einsicht, sondern einem unberechenbaren Schicksal überantwortet. Er vermag in sich die Kräfte des Selbst nicht zu wecken und zu entfalten, dieses Selbst durchlässig zu machen für den anderen, für den Mitmenschen, jene „Seelenarbeit“ (G. Hauptmann) zu leisten, die uns gerade auch heute so nottut.

So kommt in dieser Novelle doch vieles zusammen: Autobiographisches, Zeitgeschichtliches, Utopisches, Mythisches; Hauptmanns Unentschiedenheit, Mehrdeutigkeit und Wunschdenken; der Zusammenhang von Sprache, Erinnerung und Innenleben; die Symbiose von Erleben, Sprechen und Schreiben, von Gespräch und erlebter Rede – und damit Hauptmanns Interesse an einer untergründigen, die Rationalität überholenden Wirklichkeit, die in der Fiktion einer vorliterarischen Mündlichkeit Gestalt annimmt.

Stefan Rohlfs hat der Novelle ein knappes, auf das Wesentliche konzentriertes Nachwort beigegeben, das dem Leser/der Leserin den nötigen Freiraum lässt, seine eigenen Entdeckungen im Text zu unternehmen.

Titelbild

Gerhart Hauptmann: Der Schuss im Park. Novelle.
Quintus-Verlag, Berlin 2022.
80 Seiten , 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783969820414

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