In ihrem Buch „Gegen das Schweigen“ erzählt Luise F. Pusch von ihrer „etwas anderen Kindheit und Jugend“

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor gut 40 Jahren erschien Luise F. Puschs autobiographisches Buch Sonja – Eine Melancholie für Fortgeschrittene. In ihm beschreibt die heute als Begründerin der feministischen Linguistik bekannte Autorin die Zeit mit ihrer langjährigen Partnerin Sonja. Beide hatten einander 1965 in einem Studierendenwohnheim kennengelernt. 1976 endet das Buch. Es ist das Jahr, in dem Sonja durch Suizid aus dem Leben schied. Wegen der allgegenwärtigen Homosexuellenfeindlichkeit publizierte Pusch ihr autobiographisches Buch damals unter dem Pseudonym Judith Offenbach. Das war 1980. Eben die Zeit, in der nach der Frauen- auch die Homosexuellenbewegung erstarkte, so dass sie es wagte, spätere Ausgaben unter ihrem eigenen Namen auf den Markt zu bringen. Das Werk erwies sich als Longseller und ist noch heute zu haben.

Nun hat die 1944 in Gütersloh geborene Sprachwissenschaftlerin eine weitere Autobiographie folgen lassen; diesmal sogleich unter ihrem Namen. In ihr erzählt die Autorin von ihrem Leben, bevor sie Sonja traf. Denn es handelt von ihrer, wie es im Untertitel heißt, „etwas anderen Kindheit und Jugend“ als heranwachsender Lesbe in den „ultrahomophoben“ Nachkriegsjahren des deutschen Wirtschaftswunders. Die ersten beiden Jahrzehnte ihres Lebens waren von einer tiefen Verunsicherung geprägt, von Schwärmereien für Schauspielerinnen und für Mitschülerinnen auf dem Mädchengymnasium wie etwa ihrer „genialen Freundin“ Charlotte, die einer Intellektuellenfamilie aus dem gehobenen Mittelstand entstammte, während Pusch selbst mit ihren Geschwistern in eher ärmlichen Verhältnissen bei ihrer über lange Jahre alleinerziehenden Mutter aufwuchs. So musste Pusch schon früh verschiedene Arbeiten annehmen, um sich wenigstens einige ihrer materiellen Wünsche erfüllen zu können. Etwa den nach einem Plattenspieler, auf den sie lange hinarbeiten musste und der sie schließlich Trost in der Musik finden ließ. Viele andere Lesben ihres Alters dürften die Zeit des Heranwachsens im Nachkriegsdeutschland auf ganz ähnliche Weise durchlebt und durchlitten haben.

Während schwule Schriftsteller bereits verschiedene Berichte über ihr Leben als heranwachsende homosexuelle Teenager publiziert haben, liegen mit Puschs Buch, zumindest im deutschsprachigen Raum, erstmals die Kindheitserinnerungen einer homosexuellen Frau vor. Mit ihrem Buch hat Pusch als erste das jahrzehntelange Schweigen lesbischer Frauen über ihre Kindheits- und Jugenderfahrungen durchbrochen.

R.L.

Anmerkung der Redaktion: literaturkritik.de rezensiert nicht die Bücher von Mitarbeitern der Zeitschrift, Angehörigen der eigenen Universität oder aus dem Verlag LiteraturWissenschaft.de. Diese Bücher können hier jedoch gesondert vorgestellt werden.

Titelbild

Luise F. Pusch: Gegen das Schweigen. Meine etwas andere Kindheit und Jugend.
AvivA Verlag, Berlin 2022.
272 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783949302091

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch