Ent-Täuschungen – Selbsterkundungen

Ludwig Lahers essayistische Prosa als „eine Art Werkstattbericht mit einer Prise Poetologie“

Von Karl MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist nichts Außergewöhnliches, ja geradezu schriftstellerische Überlebens-Notwendigkeit, wenn renommierte Autor:innen, die über Jahrzehnte hinweg beharrlich an ihrem Werk arbeiten, wie dies Ludwig Laher spätestens seit den 1990er Jahren erfolgreich tut (unter anderem Selbstakt vor der Staffelei 1998, Mozart Sohn sein 1999, Herzfleischentartung 2001, Folgen 2005, Und nehmen was kommt 2007, Einleben 2009, Verfahren 2011, Bitter 2014, Überführungsstücke 2016, Schauplatzwunden 2020), zeitweise innehalten und eine Art selbstreflexive Zwischenbilanz des eigenen Lebens, Werdens und Schaffens ziehen. Auf knappen 120 Seiten praktiziert dies Ludwig Laher auf beeindruckende, weil erhellende und unprätentiöse, ja oft wohltuend lakonische Art und Weise. Dabei gelingt es ihm mit den zwölf, zum Teil weitverstreut bereits publizierten und mit einigen erstmals veröffentlichten Reflexionen – trotz der unterschiedlichen Themen, auf die es ihm letztlich ankommt –, ein „stimmiges Ganzes“ zu schaffen. Die von ihm geschaffene Einheit – „nur scheinbar brüchige[s], in Wahrheit aber lustvoll kalkulierte[s] Flickwerk“, wie Laher augenzwinkernd meint – ist das Ergebnis einer lebensgeschichtlichen Recherche, sind autobiographische Tiefenbohrungen und „Blitzlichter“ auf sein Leben, die überraschende und auch für den Autor staunenswürdige Assoziationen hochspülen und Ausgangspunkte für grundsätzliche Betrachtungen verschiedenster aktueller und existentieller Themen darstellen (zur Biographie und Werk Ludwig Lahers vergleiche die Zeitschrift Die Rampe 3/2021).

Da ist keine Schwere, da ist nichts Kopfiges oder Theoretisierendes, es ist letztlich heitere Gelassenheit und erhellende Abgeklärtheit, die diese aufklärende Prosa prägen – auch mit dem Anspruch, keine Balken im eigenen Auge zuzulassen, und mit der Bereitschaft, scheinbar Festgefügtes und unfraglich Gültiges der Überprüfung zu unterziehen.

Dabei kann sich Laher auf eigene, bereits vor geraumer Zeit angefertigte Notizen unterschiedlichster Art verlassen, die er nun auf ihre plötzlich sichtbar werdenden Analogien und Gemeinsamkeiten befragt. Ihre auf den ersten Blick unsichtbaren, also subkutanen Zusammenhänge arbeitet er heraus. Wie mit einem „Schmetterlingsnetz“ zu unterschiedlichen Zeiten und verschiedenen Orten Eingesammeltes bekommt auf diese Weise sprachliche Sinnlichkeit, die die Lesenden dankbar aufnehmen werden. Sowohl Einsichten in Kipppunkte von Lahers Gewordensein und Haltungen als auch daraus resultierende Perspektiven auf die sich rasant wandelnde Welt sind der Lohn einer solchen Lektüre.

Das eigene Staunen des Autors über sich selbst als Subjekt des Erinnerns, über das geheimnisvolle Funktionieren seines Gedächtnisses, der plötzlich aktivierten Synapsen beispielsweiseseiner Assoziationsmaschine, ist wiederholt zu spüren und wird auch thematisiert. „Weitwinkelsubjektiv“, so nennt Laher sein Erkundungsverfahren. Was ihm zufällt und bei ihm einhakt und nachwirkt – auf Reisen, bei Spaziergängen, beim Spielen mit dem Enkel, bei Begräbnissen, bei einem Ankauf eines Kunstwerkes oder bei seinen Lektüren – wird einem „weitwinkelsubjektivem“ Prüfprozess unterzogen und zeitigt überraschende Ergebnisse.

Es wäre nicht der sprachsensible Laher – man erinnere sich nicht zuletzt an seine viel zu wenig beachteten Gedichtsammlungen feuerstunde (2003) und was hält mich (2015) –, würden nicht in fast jedem Essay Bedeutungsdimensionen der Wörter und das Funktionieren der Sprache als wahrnehmungssteuernde Kraft umkreist werden – die Sprache in ihrer verblendenden, ideologiegefährdenden und zugleich erhellenden Kraft. Dass dabei eine zunehmend sprachbewusstseins- und geschichtsloser werdende Kommunikationsgesellschaft ins Visier gerät, ist klar – Lahers Kritik gehört deswegen nicht nur den Sprachrichtigkeits-Fetischisten, sondern auch den „Säuberungsmaßnahmen-Beseelten“ und Eiferern im Milieu der cancel culture.

Laher eröffnet seine Sammlung mit einer selbstbefragenden und „ent-täuschenden“ tour d’horizon durch Stationen seines Lebens mit dem Ergebnis der zwar geahnten und doch bestaunten Erkenntnis, dass „manch ein biographischer Stein […] es satt [hat], auf dem anderen zu verharren. Man macht sich neue Bilder von alten.“ Was als richtig, gut und wahr galt, aber eben sich als zeitgeistig beschränkt beziehungsweise zu wenig differenziert herausstellte, bekommt seine Schrammen und wird (selbstkritisch) benannt.

Weitere Essays gelten – immer ausgehend von persönlichen Lebens- und tief verankerten Lektüre-Erfahrungen (zum Beispiel Peter Weiss, Uwe Johnson, Ilse Aichinger, Rolf Schwendter, Märchen von den Bremer Stadtmusikanten) – ganz unterschiedlichen Erkenntnissen und plötzlichen Einsichten, etwa dem Ticken der Lebensuhr, dem Zweifeln an den Wahrheiten der Erwachsenenwelt, dem Wunder kindlicher Selbstermächtigung und oberflächlicher und „schräger Korrektheits- und Rücksichtsnormierungen“, der Suche nach einer Haltung von „Heiterkeit“ und „Gelassenheit“ gegenüber dem Schrecken der Welt als einer Liebeserklärung an das Leben, oder dem selbstkritischen Staunen über gestörte, weil ideologieträchtige Erwartungshaltungen. Dazu kommen Reflexionen über Gewissensfragen, die der Alltag zuträgt, sowie – wie sollte es bei Laher anders sein? – die schlagenden Analogien von Literatur/Kunst zu beklemmender Wirklichkeit, etwa am Beispiel von Lucie Weisberger aus Peter Weiss‘ Fluchtpunkt (1962) und Ella Iranyis Frauenbildnissen, und die Einsicht an etwas Uneingelöstes – die immerwährende „subjektive Verantwortung an den Zeitgeschehnissen“. Die Bremer Stadtmusikanten-Geschichte liest er als Plädoyer für lebendige Widerständigkeit gegen blindes Ergeben, für das Recht auf Flucht, also als „Etwas-Besseres-als-den-Tod-Finden“. Einer der letzten Essays umkreist die Bedeutungsdimensionen des „Gegenwärtigseins“ als einer Form intensivsten Lebens und jener Vergegenwärtigung, die „zum alltäglichen Handwerk“ des Schriftstellers gehört, um „die Wechselwirkungen zwischen Zeitgeschichte und Individuum“ literarisch vermessen zu können – nichts sei abgeschlossen, das Vergangene lebendig und virulent im Heute, zumindest in seiner poetischen Vergegenwärtigung. Lahers Credo lautet:

Literarische Essays sollen nicht in pseudowissenschaftlichen Untersuchungen ausarten, schon gar nicht, wenn sie zwischen den Zeilen vermitteln wollen, dass ihrem Autor weniger an der Fixierung unumstößlicher Fakten gelegen ist als am genauen Hinhören, Hinschauen, am Ausloten möglicher Ursachen und Zusammenhänge.

Titelbild

Ludwig Laher: Heiter. Bedeckt. Wahrnehmungen durch das Weitwinkelsubjektiv.
Edition Tandem, Salzburg 2022.
120 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783904068666

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