Schiffsreise in die Vergangenheit

Zu Alexander Osangs „Fast hell“

Von Hannes KraussRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannes Krauss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alexander Osang, mehrfach mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichneter Reporter und erfolgreicher Romanautor hat im letzten Jahr ein Buch ohne Gattungsbezeichnung veröffentlicht, das nun als Taschenbuch erschienen ist: Fast hell. Vielleicht das Porträt eines ungewöhnlichen Ostdeutschen oder ein autofiktionales Selbstporträt, vielleicht eine Reise-Reportage oder ein Essay über Ost- und West-Journalismus. Keine dieser Charakterisierungen trifft genau zu, keine ist gänzlich falsch.

Am Anfang stand die Bitte der Spiegel-Redaktion um einen Beitrag für das Sonderheft zum 30. Jahrestag des Mauerfalls – irgendetwas „über die rätselhaften Ostdeutschen“, Hauptsache originell. Osang erinnerte sich an Uwe, einen schwulen Ostberliner mit bewegter Biografie, den er während seiner Zeit als Reporter in New York kennengelernt hatte. Er schlug ihm vor, bei einer gemeinsamen Kurzreise von Helsinki nach St. Petersburg aus seinem Leben zu berichten.

Zusammen mit Uwes achtzigjähriger Mutter begeben sie sich im Sommer 2019 auf die Reise, und unterwegs – während dreier Nächte (in denen es jahreszeitlich bedingt „fast hell“ bleibt) – wird erzählt und zugehört. In der Schiffs-Bar und im Petersburger Hotel fließen Wodka und Bourbon, und die Erinnerungen kommen ans Licht. Uwe berichtet vom Aufwachsen im Ostberliner Stadtteil Marzahn, vom Studium in Russland, vom Investmentbanking in Hongkong und von Immobiliengeschäften in New York, vom Bruder Klaus, der nach einem misslungenen Drogengeschäft im Stammheimer Knast saß, und von der Oma in Eichwalde. Osang hält seine eigene Jugend in der DDR und das spätere Reporterleben in Ostberlin, New York und Tel Aviv dagegen. Es gibt auch noch ein bisschen Sightseeing mit russischen Fremdenführerinnen und eine rätselhafte amerikanische Mit-Touristin, aber den Kern des Textes bilden die (Über-)Lebens-Geschichten von Alexander Osang und seinem Gesprächspartner Uwe.

Der Abdruck des Artikels scheitert allerdings am Einwand des Spiegel-Justiziars und am Misstrauen der Dokumentaristen. Uwes abenteuerliche Stories über Andjschella aus Murmansk, über die Kühlschrank- und Motorrad-Schmugglerin Nastja, über eine mit dem argentinischen Botschafter aus Ostberlin geflohene Tante, über seine Affäre mit einem pakistanischen Gelegenheitsschauspieler aus Münster, über skurrile Begegnungen in Hongkong und New York und über Stasi-Verstrickungen – all das ist zu viel für eine Redaktion, die sich gerade mit den Fälschungen ihres Reporters Claas Relotius auseinandersetzen muss. So erscheint der Text als Buch, das zum Selbstporträt seines Verfassers geraten ist und zum selbstkritischen Sinnieren über seinen Beruf.

Mitunter entsteht der Eindruck, dass Uwe gar kein realer Reisepartner ist, sondern eine Fiktion. Aber das ist eigentlich unerheblich. In Uwes Geschichten kommt Osangs Biographie zum Vorschein:

Zwei Ostberliner Jungs, aufgehalten in ihrer lebenslangen Flucht. […] Die Hälfte der Zeit waren wir unterwegs, aber wir wussten nicht, wo. Es gab kein Zurück mehr. Es gab nur unsere Erinnerung. Eine Erzählung dann eben, dachte ich, eine absurde wahre Novelle. Alles ist genauso passiert, soweit ich mich erinnere.

Der Erzähler ist durchaus identisch mit Alexander Osang – vielleicht nicht mit der Person, aber mit dem Reporter, der über seine Tätigkeit gesteht: „Ich schrieb […] oft über mich oder zumindest über die Kunstfigur, die ich in meinen Kolumnen von mir angefertigt hatte, ein heimatloser Weltreisender, der über seine Möglichkeiten staunt.“

Uwes Erzählungen sowie Osangs Erinnerungen und Reflexionen vermischen sich zu einer ungewöhnlichen – und vielleicht doch repräsentativen – ostdeutschen Biografie, die ganz neue Perspektiven auf die untergegangene DDR eröffnet. Parallelen zum Leben einer vergleichbaren westdeutschen Generation sind häufiger als gedacht; auf beiden Seiten der Mauer hörte man die gleiche Musik.

Alexander Osangs Kunst, aus hingetupften, scheinbar nebensächlichen Details komplexe Bilder entstehen zu lassen, macht dieses Geschichtenbuch zum Geschichtsbuch über deutsch-deutsche Verhältnisse. Dazu trägt auch das Faktum (oder das Konstrukt?) des Erzählens während einer Reise bei: Unterwegssein wird zur Erkenntnismethode. Einmal erinnert Osang sich an eine Begegnung mit dem Sänger der Band Rammstein: „Ein Mann, der gleichzeitig versucht, hierzubleiben und weiterzurennen. Ich kannte das von mir, es ist, glaube ich, eine ostdeutsche Eigenschaft.“

Fast hell ist ein – gelegentlich verwirrendes – Buch, das auf erhellende Weise zeigt, warum auch nach dreißig Jahren die DDR und die deutsche Vereinigung nicht unter Stichwörtern wie ‚Wende‘ und ‚Wiedervereinigung‘, ‚Widerstand‘ und ‚Verrat‘ einfach zu den Akten gelegt werden kann. Es liefert keine neuen Wahrheiten (Osang weiß: „Mit jedem Text verändert man die Wirklichkeit“). Aber in seiner lakonischen Beiläufigkeit vermittelt das Buch ein differenzierteres Bild der DDR. Man bekommt eine Ahnung, wie es gewesen sein könnte.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Alexander Osang: Fast hell.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2022.
237 Seiten, 13 EUR.
ISBN-13: 9783746639734

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