Ein Leben in Abgeschiedenheit, geprägt von eindrücklicher Bergwelt und schweigenden Menschen
Marie-Hélène Lafon erzählt Geschichten aus der abgeschiedenen französischen Provinz
Von Liliane Studer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls Annette in der Annonce das Wort „sanft“ las, zögerte sie nicht und meldete sich beim 46-jährigen Bauern Paul, der eine Frau suchte, die das Land liebt. Paul lebte in der Auvergne, weit entfernt von der Zivilisation, in einem kleinen Dorf, im gleichen Haus wie Nicole, Pauls Schwester, und die beiden Onkel, bei denen die Geschwister aufgewachsen sind. So werden wie seine Verwandten wollte Paul nicht, drum durfte er nicht länger warten. Annette ihrerseits lebte weit oben im Norden, am anderen Ende Frankreichs, in einer kleinen Industriestadt, mit ihrem elfjährigen Sohn. Dass sie Didier, den Vater des Kindes, geheiratet hatte, hing mit ihrem Hang zur Fürsorgerin und Retterin zusammen, sie fühlte sich herausgefordert von
Jungen, die es schlecht getroffen hatten, die übel dran waren. Ihr gefielen nur die Habenichtse, die von Geburt an Verletzten, die lebenslang Hungrigen (…) Didier war der ideale Kandidat, der perfekte Verehrer gewesen, Spross einer katastrophalen Sippe von Säufern, vor allem von Männern, manchmal auch Frauen (…).
Didier soff, stritt, wurde zum Gewalttäter, kam abwechselnd ins Gefängnis und in die Entziehungsanstalt. Das Leben mit ihm wurde schlimmer und gefährlicher, Annette musste weg, nicht zuletzt auch, um Éric zu schützen.
Die zögerlichen Annäherungen in Gaststuben und Hotelzimmern in der Mitte zwischen Fridières und Bailleul verliefen hoffnungsvoll, Annette und Éric zogen um, wagten den Schritt, traten ein in Pauls Wohnung und gezwungenermaßen auch in das Reich von Nicole, Pauls Schwester, und taten alles, um akzeptiert, zumindest toleriert zu werden. Nicole duldete jedoch niemanden, die die Ordnung durcheinanderbrachte. Sie nahm die neue Frau an Pauls Seite nicht wahr, sie ging davon aus – und hoffte –, dass es auch dieses Mal nicht anders enden würde als damals mit Sandrine, die sich bald schon in einen Apotheker aus der nahegelegenen Stadt verliebt hatte.
Doch es kam anders. Und das war vor allem Éric zu verdanken und seiner Liebe zu Lola, der Hündin:
Sie hatten sich vom ersten Tag an verstanden; vom ersten Abend an hatte Éric Lola in den Arm nehmen können, zum größten Leidwesen Nicoles, der Schwester von Paul, die sich hinter ihren glatten Stirnfransen im Stillen gewundert hatte, dieses störrische Tier derart erobert eingenommen umschlungen zu sehen, das man nur mit unendlicher Mühe hatte erziehen können und das man nicht durcheinanderbringen sollte, indem man zu viel mit ihm herumspielte, jetzt wo es anfing, zu den Kühen zu gehen, wie es sich gehörte, und sich nützlich zu machen, was ja die Rolle der Tiere auf einem Bauernhof war; der Junge müsste es verstehen, auf dem Land arbeiteten die Tiere, dafür ernährte man sie und nicht für nichts oder nur für ihre Gesellschaft wie in der Stadt, wo man vielleicht die Mittel hatte.
Es sind solche – langen – Sätze, die auch sehr schön die eindringliche Erzählweise von Marie-Hélène Lafon zeigen, von Andrea Spingler in ein elegantes Deutsch übertragen. Die französische Autorin, selbst in der Auvergne aufgewachsen, heute in Paris lebend, erzählt gekonnt mäandernd. Immer wieder gelingt ihr, in einem Satz, einem Abschnitt ganze Welten auferstehen zu lassen, Zusammenhänge aufzuzeigen und Entwicklungen zu skizzieren. In den meisten ihrer bis heute rund fünfzehn Bücher, die im Cantal angesiedelt sind, dieser kargen, abgeschiedenen, von der Landwirtschaft geprägten Bergregion in der Auvergne, die sie selbst sehr gut kennt, erzählt sie von den Schwierigkeiten, denen die Menschen dort begegnen. Dabei geht es um die täglichen Probleme, den Lebensunterhalt bestreiten zu können, ebenso wie um die Schweigsamkeit der Menschen und die Zurückhaltung dem und den Fremden gegenüber. Nichts soll eindringen in eine mit allen Mitteln aufrechtzuerhaltende Ordnung.
Dass sich das Außerhalb trotzdem nicht aussperren lässt, davon handelt auch der zweite vom Zürcher Rotpunktverlag herausgegebene Roman von Marie-Hélène Lafon Geschichte des Sohnes, der mit dem Prix Renaudot 2020 ausgezeichnet wurde. Hier erzählt die Autorin in zwölf Kapiteln eine Familiengeschichte über drei Generationen und hundert Jahre, zwischen 1908 und 2008, ebenfalls im Cantal angesiedelt und bis nach Paris führend. Paul Lachalme, geboren 1903, wächst mit seinem Zwillingsbruder Armand und dem älteren Bruder Georges auf, umgeben von der Mutter und der Tante und den Kindermädchen. Armand wird früh sterben, Paul kommt bald schon ins Internat, wo der inzwischen 16-Jährige im Krankenzimmer der 32-jährigen Krankenschwester Gabrielle Léoty begegnet. Es entwickelt sich eine (selbstverständlich heimliche) Liebschaft über mehrere Jahre. Mit bald vierzig wird Gabrielle schwanger, zu einer Zeit, als sich Paul schon seit Längerem zunehmend von ihr zurückgezogen hat. André, der gemeinsame Sohn, kommt 1924 zur Welt und wächst bei seiner Tante Hélène und deren Mann Léon in Figeac auf.
André hatte immer zwei Wörter für seine Mütter gehabt. Das war ein wenig schwierig zu erklären. Hélène, seine Tante, die ihn in Figeac aufgezogen hatte, nannte er Mama und Gabrielle, seine Mutter, die in Paris wohnte, meine Mutter; er hatte sie in seinen ersten siebzehn Lebensjahren nur vier Wochen im Jahr gesehen und noch weniger, seit er nicht mehr im Haus der Kindheit lebte.
Er wünscht sich, in ordentlichen Verhältnissen zu leben, gerne hätte er seinen Vater kennengelernt. Wer dies gewesen ist, erzählt ihm seine Frau am Tag nach der Hochzeit – die Schwiegermutter hat ihr an der Feier am Vorabend das Geheimnis preisgegeben:
Ohne ihn anzusehen, ohne Luft zu holen und ohne sich zu rühren, der Körper verkrampft, stieß sie in einem Atemzug, wie man vor dem Lehrer und der Klasse ein Gedicht aufsagt, hervor, deine Mutter hat mir gestern von deinem Vater erzählt, er heißt Paul Lachalme er ist 1903 geboren er ist siebenundvierzig sechzehn Jahre jünger als sie sie haben sich im Jungengymnasium von Aurillac kennengelernt er ist Rechtsanwalt er lebt in Paris Boulevard Arago 34 im 14. Arrondissement er hat ein Haus und Familienbesitz ein Hotel Ländereien in Chanterelle im Cantal.
Die Suche nach seinem Vater Paul Lachalme wird André über Jahre umtreiben, von seiner Mutter wird er nichts erfahren. Die Unruhe über seine Herkunft überträgt sich auf seinen Sohn Antoine. Am Ende wird vieles weiterhin im Dunkeln bleiben, trotzdem endet der Roman auf seine geheimnisvolle Art versöhnlich:
Antoine wird mit seinem Vater und mit seiner Mutter sprechen; selbst am anderen Ende der Welt spricht er manchmal, um nicht den Faden zu verlieren, mit seinen Toten, vor allem mit seiner Mutter. Er wird seinem Vater bestätigen, was er schon wusste, dass Chanterelle ein hoch gelegenes mächtiges Reich ist, wo die Bäume dicht belaubt sind und die Sicht weit; er wird ihm auch sagen können, dass man in Chanterelle von jetzt an weiß, dass André Léoty, Sohn von Paul Lachalme und Gabrielle Léoty, auf der Welt war und dass man sich an ihn erinnern kann.
Die beiden Romane von Marie-Hélène Lafon geben tiefen Einblick in eine Bergregion, die vielen fremd erscheinen mag, geprägt von Geheimnissen, Feindseligkeiten und Ausgrenzungsmechanismen, die so fremd wiederum nicht anmuten. Sie sind literarische Entdeckungen, geschrieben in einer subtilen feinen Sprache, die die Verletzlichkeit der Figuren wiedergibt. Es bleibt zu wünschen, dass der Verlag weitere Romane von Marie-Hélène Lafon in deutscher Sprache herausgeben wird.
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