Freie Mutterschaft und Prostitution

Ein Ausstellungsband über Münchner „Frauen der Boheme 1890–1920“ wartet mit höchst lesenswerten Texten auf

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn von der Münchner Boheme die Rede ist, werden viele an Schwabing denken. Zu Recht natürlich. Kaum jemandem dürfte jedoch ein anderer Stadtteil mit dem weit weniger klangvollen Namen Maxvorstadt in den Sinn kommen. Dabei war das Viertel um und nach 1900 nicht weniger von KünstlerInnen der Bohème geprägt, die dort zur vorletzten Jahrhundertwende in nicht geringer Zahl lebten und wirkten.

Anke Buettner weist daher in einem kurzen, aber informativen Text auf diesen Umstand hin. Er trägt den Titel „Im Archiv der Boheme | #FemaleHeritage“ und eröffnet den Band Frauen der Boheme 1890-1920. Die HerausgeberInnen Gabriele von Bassermann-Jordan, Waldemar Fromm, Wolfram Göbel und Kristina Kargl haben zehn Beiträge zur Monacensia-Ausstellung Frei leben! zusammengestellt und sie unter die Rubriken „Netzwerke“, „Frauen der Boheme“ und „Kontexte“ gestellt. Zuvor jedoch bietet Mitherausgeber Fromm „eine kurze Einführung in den vorliegenden Band“ und Laura Mokrohs gewährt einen „Einblick in die Ausstellung“ selbst, die sich ebenso wie ihr Beitrag „den das Leben und Schreiben der Frauen der Boheme prägenden Themenkomplexen – Unabhängigkeit, Ehe, ‚Freie Mutterschaft’, Frauengesundheit, Prostitution, Kabarettbühne – aus biographischer wie auch aus sozialgeschichtlicher Perspektive“ widmet. Dabei werden drei weibliche Bohème-Angehörige besonders gewürdigt und zitiert: Franziska zu Reventlow, Emmy Hennings und Margarete Beutler, deren „literarische[.] und persönliche[.] Aussagen“, wie wiederum Buettner anmerkt, „kontextualisiert“ und so dem noch heute verbreiteten Narrativ der „Folklore des wilden Lebens entzogen“ werden.

Auch Mokrohs führt dieses noch immer vorherrschende, aber weitgehend unzutreffende Narrativ über das Leben weiblicher Bohème-Angehöriger nicht zuletzt darauf zurück, dass „die gängigen Erzählungen über die Münchner Boheme […] von den Erinnerungsbüchern, Briefen und Tagebüchern ihrer männlichen Vertreter [geprägt sind]“. Daher könnten sie kein „verlässliches Bild über die Situation und Lebensentwürfe der Frauen innerhalb der Szene“ bieten. Literarische, essayistische und andere Texte von Autorinnen seien hingegen „bisher nicht ausreichend beachtete, weibliche Stimmen“ geblieben. Dabei „zeichnen“ gerade deren Texte „mit ihren spezifischen Themen und literarischen Verfahren […] ein anderes Bild der Frauen der Boheme“. Das ist zweifellos richtig. Allerdings wurde zumindest einem Text Reventlows nie die notwendige Aufmerksamkeit als literarischem Dokument der Münchner Bohème verweigert. Die Rede ist natürlich von Herrn Dames Aufzeichnungen. Der kurze Roman trug wesentlich dazu bei, dass sich seine Autorin als die „konstante Größe und exemplarische Vertreterin der Boheme […] im Gedächtnis der Stadt festgesetzt“ hat, von der Fromm zu berichten weiß.

Doch zurück zu Mokrohs Beitrag. Mit bedauerndem Unterton merkt sie an, dass „sich unter den Frauen der Boheme keine Bildung eines spezifisch weiblichen Netzwerkes beobachten lässt“. Franziska zu Reventlow lehnte etwa Beutlers Vorschlag einer gemeinsamen Vorlesungsreise ab und schmähte ihre Kollegin in ihren Tagebücher als „schmutzige[s] Beuteltier“ und „Schreckensweib“. Dabei hatten beide mehr gemein als nur ihre schriftstellerische Tätigkeit. Denn sie beide priesen und lebten das, was sie unter ‚Freier Mutterschaft’ verstanden, nämlich ihren Nachwuchs alleine und vor allem ohne den Vater aufzuziehen. Allerdings war Beutlers Verständnis des Begriffs politischer als derjenige Reventlows, denn anders als diese verstand sie ‚Freie Mutterschaft’ „nicht als individuelle Lebensentscheidung, sondern auch als gesellschaftliche Positionierung“, wie Mokrohs formuliert. Außerdem weist die Autorin darauf hin, dass „andere Frauen in der Boheme […] unter ‚Freier Mutterschaft’ auch die Freiheit [verstanden] zu entscheiden, ob und wann sie Mutter sein wollen“. Mehr noch trifft dies auf den radikalen Flügel der sogenannten bürgerlichen Frauenbewegung der damaligen Zeit zu.

Ebenso großen Raum wie die Frage der ‚freien Mutterschaft’ nimmt in Mokrohs Beitrag die der Prostitution ein, der einige Frauen der Münchner Bohème nachgehen mussten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die bekanntesten dürften Reventlow und Hennings sein. Obwohl Reventlow in ihrem Essay Viragines der Hetären? die „These“ vertreten habe, „dass es bei vielen Frauen eine natürliche Anlage zur Prostitution gebe“, zeigten ihre Tagebuchaufzeichnungen „ein deutliches Unbehagen gegen die Prostitution aus finanzieller Not, zu der sie selbst immer wieder gezwungen war“. Das ist zwar nicht verkehrt, aber doch eine Untertreibung. Denn Reventlows gelegentliche Aufschreie im Tagebuch machen deutlich, dass sie tatsächlich enorm darunter litt, sich prostituieren zu müssen. Und dies umso mehr, als Prostitution, wie Mokrohs wohl zu Recht „vermutet, noch viel öfter zu ihrem Alltag gehört, als es das Tagebuch zeigt“. Obwohl Reventlow in ihren Tagebüchern ganz bewusst kaum über ihre Prostitution schrieb, klagte sie doch einmal angesichts eines ihr besonders unangenehmen Freiers: „O Gott nein, alles kann ich aber das nicht. Vor Graus beinah vergangen, geheult etc. Lieber Gott, diesen Kelch lass an mir vorüber gehen“.

Nicht dem von Mokrohs behandelten weiblichen Dreigestirn Reventlow, Hennings und Beutler, sondern der so gut wie ganz und gar vergessenen „Dichterin und Scherenschnittkünstlerin“ Paula Rösler gilt das Interesse von Elena Zendler. Wie sie eindrücklich zeigt, wurde die Schriftstellerin und Künstlerin finanziell über etliche Jahre hinweg von Waldemar Bonsels aufs Übelste geschröpft. Sie „lieh oder schenkte ihm […] mehrfach hohe Geldbeträge“ und setzte ihn im Alter von nur 37 Jahren „in ihrem Testament als alleinigen Erben ein[…]“. Wie Zendler konstatiert, hatte die „unkonventionelle Beziehung“ der beiden nur „einen Gewinner – Bonsels“.

Judith Kemp informiert über die Diseuse Marya Delvard, deren Abbildungen auf Programmen und Plakaten des Kabarettensembles Elf Scharfrichter heute bekannter sein dürften als die Künstlerin selbst. Dabei sorgte ihre „gespenstische Erscheinung“ auch auf der Bühne für ihre „eminente Wirkung als Kabarettsängerin“. Den „Kabarettpionieren“ der Elf Scharfrichter selbst ist ebenfalls einer der Aufsätze gewidmet. Auch ihn hat Kemp verfasst und zeigt in ihm  die „gleichermaßen reaktionäre wie auch avantgardistische Tendenzen“ der Gruppe auf.

Brigitte Bruns hat ebenfalls zwei Aufsätze zu dem vorliegenden Band beigetragen. Einer von ihnen gilt der Zeitschrift „Die Gesellschaft und ihren Frauen“, der andere der Darstellung Schwabings in Ernst von Wolzogens Schlüsselroman Das dritte Geschlecht. Im ersten der beiden Texte geht die Autorin näher auf die „Friedensikone“ Bertha von Suttner, die „brillante Analytikerin der Frauenfrage“ Irma von Troll-Borostyáne und auf Ida Boy-Ed ein, die „eine der mutigsten Frauen jener Zeit“ gewesen sei. Während des ersten Weltkriegs machte Boy-Ed dann allerdings mit dem kriegsverherrlichenden und englandfeindlichen Propagandaroman Die Opferschale von sich reden. Über die genannten Frauen hinaus geht Bruns auf das Wirken anderer Frauen der Bohème und auch der Frauenbewegung ein. So vergleicht sie etwa Reventlows Essay Viragines oder Hetären mit Hedwig Dohms Buch Die Antifeministen.

Nicht nur mit zwei, sondern gleich mit drei Beiträgen ist Mitherausgeberin Kristina Kargl vertreten. Sie alle sind von besonderem Interesse. Da wäre zunächst ihr „Porträt der Autorin Regina Ullmann“, in dem sie auch auf die beiden für Ullmann so fatalen Beziehungen zu Hanns Dorn und Otto Gross eingeht. Die beiden Herren waren nicht nur die Väter je eines unehelichen Kindes von Ullmann, sondern hatten auch sonst manches gemeinsam. So gerierten sich beide als Verfechter der Frauenrechte und insbesondere der „erotischen Selbstbestimmung der Frau“. Dies allerdings nur in ihren Schriften und Reden. Ihr Leben und ihre Beziehungen waren hingegen von tiefer Frauenverachtung geprägt. Der professorale Wirtschaftswissenschaftler Dorn ging, obwohl er verheiratet war, „eine Beziehung mit Regina Ullmann [ein], die jedoch mit ihrer Schwangerschaft abrupt endete“. Gross ging sogar noch einige Schritte weiter. Er war ebenfalls verheiratet, schwängerte mehrere Frauen – zwei von ihnen innerhalb weniger Monate – und zahlte nie auch nur einen Heller Alimente. Da reichte er einer von ihm geschwängerten Frau schon lieber das Gift zum Suizid. Angesichts dessen kommt der „charismatische Psychoanalytiker und Neurologe“ bei Kargl allzu gut weg. Jahre nach ihrer Beziehung zu Gross verarbeitete Ullmann ihre Erfahrungen mit ihm in der Erzählung Die Konsultation, auf die auch Kargl eingeht. Erhielt die zweifache Mutter auch keinerlei Unterstützung von den Vätern ihrer beiden unehelichen Kinder, so stand ihr wenigstens Rainer Maria Rilke bis zu seinem frühen Tod zur Seite.

Anhand der Tagebücher von Hedwig Pringsheim wirft Kargl in ihrem zweiten Beitrag einen neuen Blick auf das Münchner Leben Else Bernsteins. Im dritten, dem wohl bedeutendsten ihrer drei Texte plausibilisiert Kargl anhand etlicher Indizien sowie Andrea del Bondios Roman Das neue Leben, dass es sich bei dem Schriftsteller um den bis dato unbekannten Vater von Reventlows Sohn Rolf handelt.

Während Ulrike Vosswinkel einen Blick in den Briefwechsel zwischen Reventlow und ihrem Geliebten Bogdan von Suchocki wirft, wartet als Glanzlicht des Bandes die erstmalige Veröffentlichung einer anderen Korrespondenz der Gräfin auf: die Briefe, die sie mit Michael Georg Conrad wechselte. Obwohl beide von 1893 bis 1902 einen nahezu freundschaftlichen Austausch pflegten, in dem der naturalistische Schriftsteller und Kritiker die Kurzgeschichten Reventlows lobte und ihr eine „große[.] Begabung“ attestierte, schrieb er zwei Jahre nach dem letzten Brief einen zwar unveröffentlichten, aber üblen Verriss von Reventlows Romanerstling Ellen Olestjerne. Seine Besprechung gipfelt in einer gehörigen Portion Sexismus: „wenn überhaupt etwas Tüchtiges im Weibe ist, so holt’s die Mutterschaft hervor.“ Im Briefwechsel selbst tritt wiederum Conrads Antisemitismus ungeschminkt zutage, wenn er über „Zeitungsherausgeber und andere Literaturjuden gemeiner Herkunft“ herzieht.

Der vorliegende Band bietet eine Sammlung von Texten, bei denen es sich zwar nicht immer um Erstveröffentlichungen handelt, die jedoch allesamt höchst kenntnisreich und somit selbst für Menschen empfehlenswert sind, die sich in der Geschichte der Münchner Bohème und ihrer Frauen recht gut auszukennen glauben. Verwunderlich ist allerdings, dass Waldemar Fromm in seiner Einführung in einen Band, der immerhin den Frauen der Bohème gewidmet ist, ausschließlich männliche Bohème-Angehörige zu Wort kommen lässt. Auch ist bedauerlich, dass in den mit zahlreichen Abbildungen ausgestatteten Band keiner der Scherenschnitte von Paula Rösler aufgenommen wurde.

Titelbild

Waldemar Fromm / Wolfram Göbel / Kristina Kargl / Gabriele von Bassermann-Jordan (Hg.): Frauen der Boheme 1890 – 1920. Ausgewählte Beiträge zur Ausstellung ‚Frei leben!‘.
Allitera Verlag, München 2022.
280 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783962333416

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