Prosagedichte

Walle Sayer legt in „Das Zusammenfalten der Zeit“ sprachmelodische Miniaturen vor

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Lyriker Walle Sayer hat in seinem neuen Band berückend vielfarbige Prosaminiaturen vorgelegt, die poetisch verdichtet anmuten – Erkundungen in einem sehr besonderen Terrain der Sprache, in dem Dichtung und Erzählerisches wie verwebt erscheinen. Spielerisch schreibt und erzählt er, auch auf beste Weise kindlich verspielt, scheinbar unbeschwert, doch auch um das Schwergewicht des Daseins wissend. Der leise Poet verfasst kurze Texte mit großer Behutsamkeit.

In kunstvollen Sätzen sinniert Sayer über Musikinstrumente. Die erste Flöte wurde „angefertigt aus einem Schwanenknochen“. Die Perspektiven zeigen die Instrumente in ihrer Eigenart, vielleicht auch die Eigenarten menschlicher Wahrnehmungen: „Ein schwarzes Klavier beanspruchte den ganzen Raum.“ An dieser Musik, an diesem Klangkörper vermag also niemand vorbeizukommen – und so erkennt der Literat dem Instrument die stille Präsenz zu, dem Klavier, auf das später im Konzert alle Blicke gerichtet sein werden. Schmunzelnd lesen wir:

Das Cello machte ein Geräusch, als würden Hügel schnarchen. Das Xylophon ließ eines Tausendfüßlers Marschlied erklingen. Aus dem Saxophonhals drang heiserer Nebel. Wer nicht brav war, wurde in den Dudelsack gesteckt.

Das „stillste Kind von allen“ fürchtete sich nicht vor all diesen Instrumenten, es ließ sich betören, anziehen, hoch hinauf, „zur Himmelsposaune hin“. Wer traut sich schon so weit nach droben? Nur das schüchternste, stillste Kind vielleicht – „wie ganz allein von sich aus“ –, das den Lärm der Welt scheut und sich an einer ganz anderen Musik erfreuen möchte. Ein poetischer Kosmos entsteht vor den Augen der Leserinnen und Leser, die sich in Sayers sorgsam komponierte Sprache hineindenken, hineinträumen können. Auch die „Ladenglocke“ klingelt noch:

Als hätte es ihn vielleicht doch gegeben, diesen Trödelladen, seit anno ewig nicht mehr existent. Nur das Wehmoll seiner Ladenglocke klingt mitunter in uns nach. Wie sie aufgeschreckt, aus ihren Träumen gerissen, bimmelte.

In dem Geschäft, das es vielleicht gegeben hat, vielleicht nicht, stehen „Gartenzwerge“ dem Sortiment vor, wie „unerschrockene Galionsfiguren“. Der Dichter erzählt von einer geheimnisvollen Welt, in der nicht die Glocke den Inhaber weckt oder die Kundschaft ankündigt, sondern Töne entstehen, die vermuten lassen, die Eindringlinge, die Gäste des Geschäfts, hätten sanft die entschlummerte Glocke aufgeschreckt.

Später würdigt der Autor weitere wundersame, wunderbare Gestalten: „Im Supermarkt sah das Kind Paillettennikoläuse, die sich in Legionenstärke aufgebaut hatten, ein paar Deserteure fehlten bereits.“ Fluchtbewegungen also unter gewissermaßen bunten kostümierten Schokoladengestalten? Die gekauften Nikoläuse sprengen die Regimenter, laufen weg, werden vernascht – und ein Lächeln huscht über das Gesicht aller, die diese Zeilen lesen und an die eigenen Kindertage in der Adventszeit denken.

Über kindliches und jugendliches „Ideengehoppel“ schreibt Walle Sayer, über den „Ernst der Buchstaben, die sich festhalten an den Schreiblinien“. Alte Schulhefte werden durchgesehen, die abgelegt, aber nicht weggeworfen sind, Überbleibsel aus einer Welt von gestern, als die Buchstaben zu gehorchen lernten, nicht mehr überdrehte Kringel waren, sondern an die Schreiblinien geheftet – immer mehr auf Schönschrift hin geordnet, natürlich auch auf grammatische Korrektheit, aber das erst später:

Grammatikregeln, eingebunden in ein überfischtes Blau. Kommas wie verstreute Fichtennadeln. Winkelsumme eines Bermudadreiecks. … Uhrplötzlich: als einer unter vielen rotangestrichenen Fehlern im Diktat.

Wer an die Schule sich erinnert, wird die Spickzettel nicht vergessen:

Als es galt, die Fülle und den Stoff zu bändigen. Als, was man wissen mußte, sich einfach destillieren ließ: zu Formeln, Jahreszahlen, ein paar Vokabeln. Das Wichtigste gegen das Wesentliche, notiert auf einem kleinen abgerissenen Fetzen Papier, der zur Not auch verschluckt werden konnte vor dem Zugriff des Lehrers.

Die schulmeisterlichen Gestalten treten auf vor dem inneren Auge, streng, ernst und finster – und wehe, wer ertappt wurde, weil er den Spickzettel benutzte. Doch in der Erinnerung bleiben auch jene Lehrerinnen und Lehrer unvergessen, die nichts sahen oder sehen wollten, vielleicht sogar versonnen lächelnd und so taten, als bemerkten sie nichts, höchstens vielleicht, dass sie selbst daran dachten, wie sie den Argusaugen der pädagogischen Beckmesser entgehen wollten und heimlich abschrieben von diesen geheimnisvollen Zetteln, ohne die kaum jemand wirklich glaubte auskommen zu können. Eine Lehrerin kannte keine Milde:

Von der kleinen Dorfschule aufs städtische Gymnasium. Fräulein lautete der Vorname einer Deutschlehrerin. Über ihren gestrengen Brillenrand hinaus fixierte sie uns, stellte den Mahlgrad feiner, zog die Zügel an.

Doch der Schüler, den das „rote Ungenügend“ traf – Thema verfehlt, mutmaßlich –, wurde doch Schriftsteller oder vielleicht auch gerade deswegen.

Noch einmal kehrt Walle Sayer zur Musik zurück, nicht zu irgendeiner, sondern zu den Klängen der mechanischen Schreibmaschine, deren „atonales Geklapper“ wieder hörbar wird – wie die Erinnerung an das „Astknacken des Kommas“. Wer damit zu schreiben lernte, weiß heute noch, was es bedeutete, das Farbband zu wechseln oder „mit schwarzen Fingerkuppen nochmal von vorne“ anzufangen. Die „Klaviatur“ der Schreibmaschine erklingt, ein „tönend angeschlagenes Wort“ wird hörbar, getippt von all jenen, die nicht so recht wussten, was sie eigentlich tun sollten, aber gerne schrieben, nichts lieber als schreiben und am liebsten immer nur schreiben wollten – so wie Walle Sayer in seinem „Prosagedicht“. So nennt der Autor diese Art zu schreiben, ganz treffend eigentlich: „Ich glaube, wenn ein Lyriker erzählt, sucht er den Punkt, den Augenblick, die Wendung, den Gedankensprung, mit dem oder durch den Prosaisches in Poesie übergeht.“ Damit bezeichnet Sayer einen literarischen Schwebezustand zwischen Lyrik und Prosa. In diesem schmalen Band finden sich wunderbar gefertigte Lesestücke, die bestaunt und bewundert werden können – es sind kleine Zeugnisse einer großen Dichtkunst.

Titelbild

Walle Sayer: Das Zusammenfalten der Zeit.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2022.
160 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783520755032

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