Von Träumen und Tatsachen

In ihrem Debütroman „Wovon wir träumen“ ergründet Lin Hierse Fragen nach Wurzeln, Heimat und Identität

Von Lena BergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lena Berg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die deutschen Behörden nennen ihre Reise Migration, und ihre Migration meinen Hintergrund. Diese Reise gehört ihnen nicht. Sie gehört auch mir nicht. Niemand war dabei, als Ma entschied, ihren roten Koffer zu packen. Ob man das verstehen kann, wenn man nicht dabei gewesen ist, weiß ich nicht. Ob es möglich ist, davon zu erzählen, wenn man es nicht versteht?

Zur Beerdigung ihrer Großmutter reist eine junge Frau gemeinsam mit ihrer Mutter nach Shoaxing, einem kleinen Dorf in Shanghai. Dort wird die namenlose Protagonistin zu Beginn von Lin Hierses Debütroman Wovon wir träumen nicht nur mit Tod und Vergänglichkeit konfrontiert, sondern auch mit der Frage nach ihrer eigenen Zugehörigkeit: Ihre Mutter hatte China einst verlassen, um in Deutschland ein neues Leben zu beginnen. Nun sind die beiden nach China zurückgekehrt, um sich zu verabschieden. Doch es steht fest: Das Leben, das die Mutter sich für ihre in Deutschland geborene Tochter erträumt hat, entspricht nicht ihren Vorstellungen.

Die Geschichte wird von der 27-jährigen Protagonistin aus der Ich-Perspektive erzählt. Im Zentrum steht eine berührende und fesselnde Mutter-Tochter-Beziehung, die geprägt ist von der Migrationserfahrung der Mutter und von den Abgrenzungsversuchen der Tochter gegenüber Bräuchen und Traditionen. Entgegen den Vorstellungen und Erwartungen ihrer Mutter, zudem hin- und hergerissen zwischen chinesischen Wurzeln und ihrem Leben in Berlin, versucht die junge Frau sich von fremden Träumen zu lösen und ihre eigenen zu leben – auch wenn sie manchmal nicht weiß, wie diese genau beschaffen sind. Das führt zu Konflikten: Während eines Streits wirft die Mutter der Tochter vor, dass sie „keine echte Chinesin“ sei. Damit berührt die Mutter einen wunden Punkt, obwohl die Tochter wissentlich versucht, nicht den mütterlichen Vorstellungen zu entsprechen.

Manchmal gebe ich mir große Mühe, ganz anders zu sein als du. Dann tue ich Dinge, die du nicht magst. Ich trage die Haare kurz. Ich rauche, obwohl es mir nicht schmeckt. Ich trage Kleidung, die mich ein bisschen unter sich verschwinden lässt, manchmal secondhand, manchmal mit Löchern, sodass ich in deinen Worten darin aussehe „wie ein Penner“. Manchmal esse ich Eis und trinke direkt danach heißen Tee. Ich schlafe mit Männern, die ich niemals heiraten will. Ich gebe Menschen zu viel von mir, ohne vorher zu prüfen, ob sie es verdient haben. Ich versuche mich über das hinaus zu dehnen, was dein Leben ist, denn so ist es doch in den Geschichten, in denen die Kinder immer noch mehr haben sollen als die Generationen vor ihnen. Trotzdem komme ich immer wieder bei dir an.

Der in Deutschland geborenen Journalistin Lin Hierse – selbst Tochter einer Migrantin aus China – gelingt mit ihrem Debütroman das Kunststück, die Problematik zwischen Migrationserfahrungen der Mutter und der eigenen Identität, zwischen Erwartungen und der Verwirklichung eigener Träume aufzuzeigen. Ungeschönt zeigt die Autorin Mutter-Tochter-Konflikte und schafft somit überzeugende Figuren. Die ausführliche Beschreibung vergangener Erlebnisse sowie die Darstellungsweise der Protagonistinnen und deren Familienmitglieder erwecken den Eindruck, man würde die Figuren wirklich kennen.

Wovon wir träumen ist insgesamt ein langsam erzählter, berührender Roman in sensibler, poetischer Sprache mit einer bemerkenswerten Erzählstimme – der Fokus liegt auf den emotionalen Zuständen der Figuren und ihren Beziehungen zueinander. Neben der Frage nach dem Einfluss des Migrationshintergrunds geht es vor allem um ein Porträt der Mutter aus der Sicht der Tochter sowie um die Balance zwischen Nähe und Abgrenzung. Insbesondere die innere Zerrissenheit der Protagonistin erscheint für Leser*innen nahbar, da Fragen nach der eigenen Identität und Zugehörigkeit jeden betreffen können.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Lin Hierse: Wovon wir träumen. Roman.
Piper Verlag, München 2022.
240 Seiten, 18 EUR.
ISBN-13: 9783492070744

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch