Das Genie der Kürze
Abschied von Hans Magnus Enzensberger
Von Markus Joch
Schreiben können wie er. Das war der Tagtraum, als ich im Dezember1983 erstmals einen Text von Hans Magnus Enzensberger las. Abgedruckt war er im Almanach für’s Jahr 1976/77, einem schmalen, knallroten Bändchen, das ich auf dem Flohmarkt am Marburger Steinweg wohl nur deshalb anblätterte, weil es aus dem Verlag Roter Stern kam. Was Enzensberger in Zensur und Selbstzensur zu sagen hatte, passte zum Rot dann weniger, doch gut zu einem klaren, hellen Wintermittag.
Nachdem der Autor die Zensur durch Staat und Kapital abgehandelt hat, vertraute Übel, geht er zum heiklen Teil über. „Etwas umständlicher wird die Sache, und der moralische Komfort nimmt erheblich ab, wenn wir uns nun der Tatsache zuwenden, daß der Zensor nicht immer der andere ist.“ „Die Selbstzensur, das behaupte ich zunächst einfach, ist allgegenwärtig.“ „An Eleganz und Schlauheit übertrifft die Selbstzensur alles, was ein Innenminister sich träumen lässt.“ Schon mit dem abnehmenden moralischen Komfort hatte er mich.
Auf die eigene Schere im Kopf wollte Enzensberger hinaus: dass er nach dem Kuba-Aufenthalt 1968/69 desillusioniert zurückkehrte, sich aber zunächst scheute, seinen Genossen und Gegnern den verlorenen Glauben an den Sozialismus einzugestehen. Die Geschichte vom politischen Reinfall in der Karibik war jedoch nicht das, was mich mit 17 fesselte. Es war der Ton.
Linke glauben sich über Selbstzensur erhaben? „Die intellektuelle und moralische Ahnungslosigkeit ist das Kraftfutter, an dem sie sich mästet.“ „Sie spricht mit den Engelszungen der Rücksicht, der Vernunft und der Loyalität.“ Das waren sarkastische und treffende Metaphern, originell und doch nicht gesucht, nur klar und wahr. Machen wir uns nichts vor, sagte diese Stimme. Und das Selbstkritische im Freimütigen verdoppelte ihren Charme.
Jetzt, da uns die Nachricht vom Enzensbergers Tod erreicht, werden sich viele an solche Lektüreerlebnisse erinnern. Das vielgerühmte Schwerelose, im Stil wie im ganzen Habitus, zog einen auch an, weil es sich von anderen Größen der Gruppe 47 und ihres Umfelds abhob. Wem Böll selbst in der Widerborstigkeit noch zu katholisch war, Walser zu Bodensee-selig, Peter Weiss zu spröde und Grass zu selbstgefällig, landete schnell bei Enzensberger. Ihm ging alles Belehrende, Biedere oder Grämliche ab.
Von den Kollegen unterschied H. M. E. aber noch ein anderer, ganz einfacher Punkt. Als Einziger der bekanntesten deutschen Nachkriegsautoren war er kein Erzähler, sondern Kurzstreckenläufer, Schwerpunkt Lyrik und Essay. Die Gattungswahl schrieb er dem Temperament zu und war mit der Annahme verbunden, „daß es den Romanleser, den ein Autor wie Balzac selbstverständlich vorausgesetzt hat, nicht mehr gibt“. Nun sind Liebhaber:innen der Langstrecke keineswegs ausgestorben, aber die sich verknappenden Aufmerksamkeitsspannen im Kulturbetrieb nach 1945 und die Werkanlage von Enzensberger kamen sich schon entgegen.
Den selbst nach Benn und Brecht noch anzutreffenden Glauben, ein großer Schriftsteller müsse mindestens einen großen Roman geschrieben haben, hat er erledigt, die sogenannte kleine Form so groß gemacht, dass man von kleiner gar nicht mehr sprechen mag, nur noch von kurzer. „Kürze ist die Schwester des Talents“, ein Tschechow-Zitat, war eines seiner liebsten, und er selbst bestätigte es wie kein Zweiter. Folge: Literaturpreise im In- und Ausland bis zum Abwinken, 2002 musste er mahnen: „Jetzt ist es zu viel des Guten.“ Wie brachte er es mit Gedichten und Essays über „nationale Definitionsmacht“ („Spiegel“) hinaus zu einem Weltruf, der den Literatur-Nobelpreis entbehrlich machte?
Schon sein Start ins öffentliche Leben, 1957, hatte etwas Blitzartiges, führte mit der Abwertung des Journalismus im Journalismus ein ganz neues Interventionsmodell vor. Die Sprache des Spiegel, ein aus einer Radio-Arbeit hervorgegangener Essay, entzauberte das von den Nonkonformisten der Adenauer-Zeit als Lichtblick geschätzte Magazin als politisch überschätztes und intellektuell mediokres Kritiksubstitut. Ein kühner Coup, denn auch wenn er ein kalkuliertes Risiko einging, den Herausgeber Rudolf Augstein („Jens Daniel“) von der Schelte ausnahm und ihm die Unentbehrlichkeit seines Blatts zugestand: Beim Schreiben konnte der 27-Jährige unmöglich ausschließen, sich einen mächtigen Feind zu machen. Dass der Spiegel zum Beweis liberaler Souveränität die Attacke abdruckte, wusste der junge Mann eben erst im Nachhinein.
Sofort unterscheidbar auch die Stimme des Lyrikers. verteidigung der wölfe gegen die lämmer, das Schlussgedicht des (fast) gleichnamigen Debütbands, machte aus doppeltem Grund Furore. „seht in den spiegel: feig, / scheuend die mühsal der wahrheit, / dem lernen abgeneigt, das denken /überantwortend den wölfen“: Die Abrechnung mit den Lämmern war eine mit den Mitläufern des Nationalsozialismus, klar. Doch war sie mehr. Was besonders durch das berüchtigte Partizip 1 nach Brecht-Nachfolge klang, setzte sich von Furcht und Elend des Dritten Reiches in einem sensiblen Punkt ab. Brechts Kurzgeschichten und Verse wollten noch glauben machen, der deutsche Faschismus sei nur Sache wildgewordener oder devoter Kleinbürger gewesen, „Arbeiter“ und „Volk“ dagegen hätten sich verweigert. Ein Märchen, dem Enzensberger mit dem umfassenderen Lammsymbol implizit absagte. Aufgewachsen in Nürnberg, hatte er erlebt, wie alle, alle Schichten im NS mitmachten.
Die Stadt der Reichsparteitage versorgt den jungen Enzensberger mit Absprungsenergie ‒ nie so provinziell wie die Nazis werden! Mit positivem Antrieb in der gleichen Richtung versieht ihn der Vater, ein Ingenieur, der in seiner Freizeit aus dem Englischen übersetzt und auch dem jüngeren Bruder Christian, dem späteren Anglisten, die Lust an Fremdsprachen vererbt. Als Rezensent wie Übersetzer internationaler Lyrik vermittelt Hans Magnus (realistischer Mittelname) in seinen Zwanzigern den Nachkriegsdeutschen europäische wie lateinamerikanische Moderne. Ein kollektives Translationsprojekt, das Museum der modernen Poesie (1960), bildet den Meilenstein der Entprovinzialisierung und nicht den kleinsten Grund, warum Enzensberger den Büchner-Preis mit knapp 34 abräumt.
Da hätte er eigentlich schon abtreten können. Es ging aber noch ein bisschen weiter.
Dass er 1968 die „Literatur abschaffen“ wollte, glaubt wohl nur noch Volker Weidermann. Nein, im bekanntesten Essay des Kursbuchs 15 bezweifelte der Herausgeber einfach den politischen Nutzen von Gedichten, Erzählungen und Dramen. Und so großsprecherisch sein Projekt der „politischen Alphabetisierung Deutschlands“ heute wirken mag, eine der anschließenden Dokumentarbeiten aus der linksradikalen Phase ist gut gealtert. Beeindruckend an Der kurze Sommer der Anarchie (1972) bleiben die acht Glossen, die die Stimmensammlung zum Spanischen Bürgerkrieg begleiten – auf wie wenigen Seiten, in welcher Dichte man Verdienste und Schwächen der Anarcho-Syndikalisten beschreiben kann.
1976 verblüfft Von der Unaufhaltsamkeit des Kleinbürgertums, ein essayistischer Nachweis, dass die „Klasse dazwischen“ nicht etwa schrumpft, wie die marxistischen Klassiker wähnten, sondern wächst und gedeiht. Kleinbürgertum aufzuwerten hätte ungewöhnlicher nicht sein können zu einer Zeit, da Intellektuelle den Begriff weltweit verächtlich aussprachen, „gleichsam spuckend“, die deutschen ihn mit der Fernsehfigur Ekel Alfred assoziierten, mit Rückständigkeit und Kryptofaschismus. Enzensberger erklärte den Seinen nun nicht nur, dass das Kleinbürgertum kulturell längst den Ton angibt. sondern auch, dass die Intelligenzia eine seiner Fraktionen stellt, ökonomisch betrachtet. Zu einer Klasse, die der Bildungsbürgersohn lange Zeit und innig geschmäht hat ‒„du riechst nicht gut / dich gibt’s zu oft“, hieß es in an einen mann in der trambahn (1958) ‒, rechnet er sich plötzlich selbst.
Diese zwölf Seiten sind ein Wendepunkt. Sie leiten die Kunst der Selbstkorrektur ein, die zum Markenzeichen von Enzensberger-Essays der Achtziger wird, und bereiten deren achselzuckende Botschaft vor: In ökonomisch befriedeten Mittelschichtsgesellschaften halten es die Leute mit der ,halben‛, sozialdemokratischen Sache, deshalb wird es nichts mit dem Sozialismus. Das leuchtete zumindest der linksliberalen Kundschaft ein, zumal ihr Leitautor früher als sie, in einem wegweisenden TransAtlantik-Text von 1982, die Zustände im Realsozialismus schonungslos analysierte. Dass er seinen politischen Kurswechsel ohne Prestigeverlust im literarischen Feld überstand, verdankte sich allerdings mehr noch der Kunstfertigkeit.
Der Untergang der Titanic, das Werk von 1978, sei sein bestes, hat der späte Enzensberger angedeutet („ganz gute Halbwertszeit“). Ein elegant komponiertes Versepos, das den politischen Schiffbruch auf Kuba im Kontext vieler Untergänge relativiert ‒ vom Sinken des Ozeanriesen 1912 bis zu Apokalypsenmotiven des 15. Jahrhunderts ‒ und dadurch entdramatisiert. Das von der Lust des Künstlers am Untergang handelt, unterfüttert mit Anspielungen auf die Divina Commedia und The Narrative of Arthur Gordon Pym. In seiner Fortschrittsskepsis wie in der Reibung zwischen hoher Bauform und populärem Sprachmaterial war es frühe Postmoderne, für den Sprinter mit gut 100 Seiten der souverän gewonnene 400-Meter-Lauf.
Seit den globalen Elogen auf den Untergang war der Nachruhm lyrisch gesichert, deshalb der Essayist vom Beifall im Bereich bloßer Meinungsproduktion unabhängig. Den Einschüchterungseffekt des Triumphs kann man an Der Fliegende Robert ablesen (1980), dem meistzitierten Gedicht von Enzensberger, zeigt es doch neben seiner Selbstgewissheit – „spanne den Regenschirm auf und erhebe mich in die Lüfte“– auch ein Problem seiner Kritiker:innen.
„Von euch aus gesehen, / werde ich immer kleiner und kleiner, / bis ich verschwunden bin. / Ich hinterlasse nichts weiter / als eine Legende, / mit der ihr Neidhammel, / wenn es draußen stürmt, / euern Kindern in den Ohren liegt, / damit sie euch nicht davonfliegen.“ Neid? Gut möglich. Wer wäre frei davon bei einem, wenn ich richtig zähle, acht Fremdsprachen mächtigen und hyperproduktiven Schriftsteller, der Leser:innen und Hörer:innen von Stockholm bis Buenos Aires, Berkeley bis Tokio jahrzehntelang faszinierte. Vom kleinen, gelben Gefühl getrieben zu sein, ist der Verdacht, mit dem Enzensberger-Skeptiker seit je leben müssen.
Trotzdem gab es gute Gründe für Vorbehalte. Enzensberger neigte, hatte er erst mal eine originelle und schneidende These gefunden, zum Überdehnen und Spekulieren, so etwa 1991 in seinem umstrittensten Spiegel-Essay Hitlers Wiedergänger. Saddam Hussein gleich Hitler? Im gleißenden Antisemitismus ähnelten sich die beiden sicher. Aber auch, wie ebenfalls behauptet, im Todeswunsch? Dafür hat es Saddam 2003 in seinem Erdloch erstaunlich lange ausgehalten.
Auch fiel Enzensberger als entlaufener Sozialist von einem Extrem ins andere, schon um seinen seit den Achtzigern zahlreichen Kritikern von links eins auszuwischen. 1968 soll das politische System der Bundesrepublik irreparabel sein, 20 Jahre später Gesellschaftskritik eigentlich überflüssig, steht in derselben Republik doch „alles zum Besten, weil es anders nicht stehen kann“ (wie Eberhard Falcke den Tenor von Mittelmaß und Wahn so treffend zusammenfasste). Der Konflikt mit den Ex-Genossen schaukelt sich hoch und kulminiert 1998 in Über die gutmütigen Deutschen, dem im Namen des ächzenden Steuerzahlers vorgetragenen Hohn auf einen angeblich überbordenden Sozialstaat. Die Wahrheit ist: Bei diesem Text, der sich las wie Heine goes FDP, hat sich jedem halbwegs egalitär denkenden und fühlenden Menschen der Magen umgedreht.
Aber wie wenig wiegt das! Politische Einwände verzwergen vor diesem Werk aus diversen Gründen. Erstens war die Hälfte des Œuvres, die Lyrik, von Gesinnungsallergien von vornherein unbetroffen. Witzig konnten Enzensbergers Gedichte sein (Die Scheiße!, 1964), gelassen und weise (Früher, ein Lob der Vergänglichkeit von 1977), artistisch sowieso (Chinesische Akrobaten, 1991). Selbst dem Unerfreulichsten, dem Tod, gewann er schönen Sarkasmus ab. „Daß es einst von uns heißen würde, / Gott dem Allmächtigen habe es gefallen, / uns zu sich heimzurufen, // wäre vielleicht übertrieben“, gibt 2009 Die Zerknirschung zu bedenken. Nicht zu vergessen die Stilschule und großartigen Stimmenimitationen im Wasserzeichen der Poesie (1984) – da starb man in Bewunderung.
Zweitens provozierte Enzensberger nicht nur die Linke. Seine Hauptlinie war, immer den Kreisen, bei denen zwischen Selbstbewusstsein und Bedeutung gerade ein besonders steiles Gefälle bestand, die Luft süffisant rauszulassen. Deshalb erwischte es 2011 die Ökonomen der neoklassischen Schule, Fondsmanager und Anlageberater – ihre durchschnittliche Trefferquote komme „der eines Zufallsgenerators nahe“. Da ihn Lagerdenken langweilte, war fast keine Gruppe vor seinen Spitzen sicher. Seine Loyalität galt nur der Literatur.
Drittens wirkte die Intelligenz seiner Essays manchmal schon leicht extraterrestrisch, Vom Blätterteig der Zeit (1996) stimmte einen jedenfalls nachdenklich. Viertens und vor allem gelangen ihm Bilder von extremer Einprägsamkeit. Man denke an das in Die Große Wanderung (1992) zu findende Gleichnis aufs Verhältnis von eingesessener Bevölkerung und Migranten.
Passagiere im Eisenbahnabteil. Wenn zwei neue Reisende eintreten, wird ihre Ankunft von den ersten Fahrgästen nicht begrüßt, es wird eben enger. Dann „öffnen zwei weitere Passagiere die Tür des Abteils. Von diesem Augenblick an verändert sich der Status der zuvor Eingetretenen. Eben noch waren sie Eindringlinge, Außenseiter; jetzt aber haben sie sich mit einem Mal in Eingeborene verwandet. Sie gehören zum Clan der Seßhaften, der Abteilbesitzer, und nehmen alle Privilegien für sich in Anspruch, von denen jene glaubten, daß sie ihnen zustünden.“ Ein schlagartig erhellender, man ist versucht zu sagen genialer Vergleich, der Vorstellungen von „angestammtem“ Territorium durch Relativieren der Selbsttäuschung überführte.
Vom Abteilbild habe ich ganz unterschiedliche Leute schwärmen hören, einen Berliner Jungschriftsteller, eine Politjournalistin vom Spiegel, eine Freundin vom Deutschlandfunk und einen US-Germanisten. Mit Hitlers Wiedergänger verhielt es sich ähnlich, insofern die meisten den Artikel zwar als Bellizismus ablehnten, aber doch gut kannten. Wie auch anders: Ein typischer Enzensberger-Essay verband Kürze, die den Zeitaufwand einer Lektüre minderte, mit einem überlegenen Sinn für Nervenpunkte der jeweils laufenden Debatte – z. B., ob exterminatorischer Judenhass singulär deutsch sei. Deshalb las man einen neuen Text aus München-Schwabing meist mit anderen, die ihn ebenfalls Satz für Satz studierten. Lässt sich das von den Grass-Ziegeln auch behaupten?
Ich frage ja nur und meine, dass der Sprinter die deutschen Literaturinteressierten Ü45 viel mehr beschäftigte. Er war der Autor, über den wir stritten. Er brachte uns bei, dass kontrovers etwas Gutes ist. Seine Auftritte waren Diskurssport, der die Differenz Zustimmung/Ablehnung fast bagatellisierte. Noch wenn man sich über Enzensberger ärgerte, formulierte er so gut, dass man ihn mit Kusshand beklaute.
Im Alter schrieb er unaufhaltsam weiter, um 2018 die Maxime der brevitas, „weder den Leser noch den Gegenstand zu erschöpfen“, mit Überlebenskünstler radikal umzusetzen. 99 Lebensläufe von internationalen Schriftsteller:innen, die im vergangenen Jahrhundert der Gewalt durchzukommen suchten, lässt er auf jeweils drei bis vier Seiten zusammenschnurren. Weil er sein gewaltiges Wissen zu bändigen, das Wesentliche herauszumeißeln, sich auf die Kunst der Auslassung versteht, schafft es der 89-Jährige im Alleingang: ein geballtes Informatorium zum Verhalten vornehmlich der europäischen Intelligenz in Zeiten von Staatsterror und sogenannten Säuberungen.
Liest man die Vignetten rasch hintereinander, fällt auf, wie viele der porträtierten Kolleginnen und Kollegen, und gerade die von Enzensberger verehrten, jüdisch waren. Die Sammlung schärft uns nicht weniger als den jüdischen Anteil an der europäisch-amerikanischen Literatur ein. Das passt zum jungen Mann aus Nürnberg, dessen erste Essays an denen des Theodor W. Adorno Maß nahmen. Den im Briefwechsel mit Hannah Arendt (in der er 1965 seine Meisterin fand) und dann ein Leben lang die Frage umtrieb, ob die Untaten des NS wieder und auch von Nicht-Deutschen begangen werden könnten. Dessen viel gescholtene Reserve gegenüber dem arabischen Raum hier ihre Wurzel hat und dem es nie eingefallen wäre, die Verteidigungspolitik des Staates Israel zu bekritteln. Im Licht der projüdischen Konstante wird die Legende vom allzeit beweglichen Hans Magnus, der auf Prinzipien pfeift, jenes Lied, das alle kennen und vielen schon zu den Ohren herauskommt, nicht falsch. Aber es klingt doch zu einfach.
Im Antisemitismus erkannte Enzensberger, neben dem Verbrecherischen, das peinlichste Eigentor deutscher Geistesgeschichte. Er, zu dessen Lieblingsdichtern Heinrich Heine zählte, ebenfalls Liebhaber des Knappen und politischer Unzuverlässigkeit verdächtig, war der einzige deutsche Nicht-Jude, der dem Düsseldorfer in puncto Esprit, Eleganz und Frechheit das Wasser reichen konnte. Drei Disziplinen, die, anders als der Tiefgang, bis 1945 als nicht- und zum schlechten Schluss gar als undeutsch galten. Also wollten viele gebildete Nachkriegsdeutsche umso mehr in ihnen glänzen, nur zweifelten sie an der Welt Anerkenntnis. Womöglich hat ausgerechnet Hans Magnus Enzensberger, der Inbegriff des Distanzdeutschen – „ich bin keiner von uns“ – , seinen Landsleuten etwas von ihrem Selbstunbehagen genommen. Einfach weil sie mit ihm einen unbezweifelbar Gewandten und Schnellen, Gewitzten und Formvollendeten vorweisen konnten.
Jetzt wird’s aber feierlich, wirft er ein, spöttisch lächelnd und längst ungeduldig. Wo bleibt die Tugend der Kürze?, fragt er mich, spannt den Regenschirm auf und erhebt sich in die Lüfte. Kleiner und kleiner wird er von mir aus gesehen nicht, seltsam. Auch wenn kein Du anmaßender sein könnte: Vielen Dank, Hans Magnus, und guten Flug.