Die Geschichte einer jungen Frau zwischen Pflicht und Glück

Der Wallstein Verlag setzt mit zwei Neuerscheinungen seine Georg Hermann-Edition fort

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ende 2021 startete der Wallstein Verlag zum 150. Geburtstag des deutsch-jüdischen Schriftstellers Georg Hermann (eigentl. Georg Hermann Borchardt, 1871-1943) eine Edition seiner Werke in Einzelbänden. Den Auftakt der Edition machten Hermanns Debütroman Spielkinder und sein letzter Roman Der etruskische Spiegel. Während er in seinem Erstling auf das Berlin seiner Kindheit zurückblickte, erzählte Hermann in seinem Spätwerk das Schicksal eines jüdischen Architekten, der in die Emigration geht.

Nun wurde die Edition, deren endgültiger Umfang noch unklar ist, mit seinen bekanntesten und erfolgreichsten Romanen Jettchen Gebert und Henriette Jacoby fortgesetzt. Als Jettchen Gebert, sein zweiter Roman, 1906 fast zehn Jahre nach seinem Debüt veröffentlicht wurde, war Hermann bereits Mitte dreißig. Er war jedoch kein unbekannter Autor mehr, denn neben seinem Erstling und einigen Bänden mit Erzählungen war er vor allem als Feuilletonist mit zahlreichen Essays über Kunst und Kunstgewerbe sowie Kunstkritiken in verschiedenen Tageszeitungen hervorgetreten. Mit diesem eher journalistischen Broterwerb hatte er mühevoll seinen Lebensunterhalt gesichert.

Doch dann stattete ihn der Berliner Verleger Egon Fleischel (1861-1936), bei dem 1897 Spielkinder erschienen war, mit einem Vorschuss aus, um ihm finanzielle Sicherheit und Freiraum für ein literarisches Werk zu geben, natürlich einen neuen Berlin-Roman. Zunächst stürzte sich Hermann in die Vorarbeiten und umfangreiche Recherchen, um den Zeitgeist in der Mitte des 19. Jahrhunderts zuverlässig einfangen zu können. Nach über einem Jahr legte er schließlich auf Drängen des Verlegers die ersten hundert Seiten vor. Auch dem einflussreichen Literaturkritiker Arthur Eloesser (1870-1938) gab er die ersten Seiten zur Ansicht. Der war davon so überzeugt, dass er die erste Folge am 7. Juni 1906 in der Vossischen Zeitung abdruckte. Jetzt stand Hermann enorm unter Druck, denn er musste in den folgenden Wochen laufend die Fortsetzungen in der Redaktion abliefern. Die letzte Folge erschien schließlich am 9. September. Wenige Wochen später wurde der vollständige Roman im Verlag von Egon Fleischel herausgebracht. Jettchen Gebert wurde in Berlin schnell zum Stadtgespräch und mit diesem Erfolg gelang Hermann nicht nur der literarische Durchbruch, auch im Berliner Gesellschaftsleben konnte sich der Autor damit etablieren.

Der Roman ist um 1840 in Berlin angesiedelt. Jettchen Gebert, die früh ihre Eltern verlor, lebt unbeschwert bei ihrem Onkel Salomon, einem reichen jüdischen Seidenhändler, und ihrer Tante Rikchen in Charlottenburg. In der Familie des Onkels herrschen bürgerliche Traditionen und Konventionen, da bleibt für die Träume und Wünsche der inzwischen jungen Frau wenig Raum.

Bereits auf den ersten Seiten – bei einem Bummel auf der Königsstraße im April 1839 -– stellt Hermann seine Protagonistin und die Biedermeier-Atmosphäre vor:

War das ein hübsches Mädchen! Wie sie trendelte und ging auf ihren kleinen Schuhen mit den breiten Schnallen, ganz in silbergrau, wie ein Frühlingsabend. Die drei Reihen von Volants am weiten Rock glitten, rauschten und zitterten. Die breiten Bindebänder der Schute flatterten ordentlich … breite silbergraue Seidenbänder mit Rosenknospen drauf; und die langen Fransen des indischen Schals, den sie um die vollen Schultern trug – zwischen den breiten Gigotärmeln durchgezogen – tänzelten bei jedem Schritt. Sie trug mattblaue Handschuhe, hatte ein Fischnetz in der Hand, einen Sonnenknicker und ein Täschchen, das eine schwarze Lyra in schwarzen Perlen gestickt zeigte. […] Sie war nicht mehr jung, sah älter, voller, reifer aus, als sie war. Doch sie war schön. – Oh, was war sie schön, Jettchen Gebert!

Mit Mitte zwanzig ist Jettchen noch unverheiratet, da ihrem Onkel bisher kein Kandidat gut (reich) genug war. Einzig zu ihrem geliebten Onkel Jason, kunstsinniger Junggeselle und schwarzes Schaf der Familie, hat sie Vertrauen. Durch ihn lernt sie auch den literarisch ambitionierten Doktor Friedrich Kößling kennen und lieben. Der träumerische, aber mittellose Schriftsteller hält sich mit Artikeln und Rezensionen für Zeitungen und Magazine notdürftig über Wasser. Kein Wunder also, dass Kößling, der außerdem Christ ist, als Heiratskandidat nicht in Frage kommt. Die Familie favorisiert vielmehr ihren Vetter Julius Jacoby, einen ehrgeizigen Kaufmann aus der schlesischen Provinz. Onkel und Tante appellieren an Jettchens Verantwortungsgefühl und ihre Dankbarkeit ihnen gegenüber und geben die Verlobung mit Julius offiziell bekannt. Ohne Unterstützung von Onkel Jason und ihrem geliebten Fritz fügt sich Jettchen schließlich; doch am Tage der Hochzeit kommt es zu einem großen Skandal: Nach der Trauungszeremonie verlässt die Braut die Hochzeitsgesellschaft und verweigert damit den Vollzug der Ehe. Sie verschwindet einfach in der kalten Berliner Novembernacht:

Einen Augenblick hält sie mit stockendem Atem. Niemand ist ihr gefolgt, keine Menschenseele – nur die klare Nacht steht über ihr, mit tausend kalten, blinkenden Sternen in dem schwarzen Himmel. Über den Fahrdamm springt Jettchen mitten durch die Wasserlachen, deren dünne Eisschichten knisternd unter ihr brechen; bis über die Knöchel tappt sie da hinein mit den weißen Schuhen. Sie greift die Schleppe und zieht sie um die Füße, und dann läuft sie, läuft sie nach den Lichtern, nach der Königstraße, ohne einem Menschen zu begegnen. Sie hält, horcht auf, wendet sich, kein Lärmen, keine Schritte, kein Stimmengewirr, – alles still und schwarz.

Bei diesem dramatischen, ja herzergreifenden Finale verlangte die Leserschaft natürlich eine Fortsetzung, die Hermann dann mit Henriette Jacoby lieferte. In dem zwei Jahre später (1908 ebenfalls im Verlag Egon Fleischel) erschienenen Roman erzählt der Autor das verhängnisvolle Schicksal seiner Protagonistin Henriette, genannt Jettchen, bis zum tragischen Ende weiter. Nach ihrer Flucht von ihrer eigenen Hochzeit findet Henriette Aufnahme in der Wohnung ihres Onkels Jason, der sie in ihrem Drang nach einem selbstbestimmten Leben unterstützt und immer mehr zur zweiten Hauptfigur des Romans wird.

Durch den unerhörten Vorfall, der schnell in der Berliner Gesellschaft die Runde macht, hat Henriette zunächst die „ganze brave Familie“ der Geberts gegen sich. Die betreibt mit der Schlauheit erfahrener Geschäftsleute die Scheidung, doch Julius Jacoby hat die Mitgift seiner Frau bereits bei waghalsigen Börsenspekulationen eingesetzt, sodass die Scheidung neben dem finanziellen Verlust auch dem geschäftlichen Ansehen der Familie schadet. Wie schon in Jettchen Gebert behandelt Hermann als assimilierter Jude hier das Thema der West- und Ostjuden in Berlin an der Familienkonstellation Gebert/Jacoby.

Nach der geschäftlich doch zufriedenstellenden Scheidung wird Henriette wieder in den Kreis ihrer Familie aufgenommen. Selbst einer Ehe mit Kößling würde man nun zustimmen, doch trotz einer Liebesnacht während eines gemeinsamen Aufenthalts in Potsdam ist in der Beziehung zwischen ihm und Henriette längst eine, wenn auch uneingestandene Kluft entstanden. Gleichzeitig vertieft sich die bisher freundschaftliche Zuneigung zu ihrem Onkel Jason. An dieser doppelten Liebe zerbricht Henriette schließlich und begeht Selbstmord. Ihr Abschiedsbrief ist jedoch an Kößling gerichtet:

Armer Junge! Ich will jetzt an Dich denken. Was habe ich aus Deinem Leben gemacht! Wir glaubten, daß es der Zufall gut mit uns meinte, als er uns zwei fremde Menschen aus anderen Welten von weither zusammenführte, daß er unser Glück wollte, – und er wollte unser Elend. Ich fürchte, ich bringe viel Kummer über Dich; aber Du sollst nicht böse von mir denken. Denke auch, daß ich in meinen Händen, die Du immer so schön fandest und so liebtest, für Dich Glück gebracht habe. Vergiß das nicht, armer Junge.

Die Vorzüge des elegisch-romantischen Doppelromans (auch Jettchen Geberts Geschichte genannt) liegen weniger in der Handlung als in der Beschreibung des jüdischen Milieus und des Berliner Alltags. Mit seinem ausgeprägten kunstgeschichtlichen Wissen konnte Hermann die naturalistische Darstellung mit einer Fülle von kulturhistorischen Details zu Mode, Architektur und Wohnungsinneneinrichtungen anreichern. Aus vielen kleinen Details zauberte er das Lokalkolorit der Biedermeierzeit hervor.

Der kurze Zeitraum zwischen April 1839 und Mitte Oktober 1840, in der die Handlung angelegt ist, bildete in der preußischen Geschichte mit dem Regierungswechsel von Friedrich Wilhelm III. zu Friedrich Wilhelm IV. ein krisenhaftes Jahr, das zunächst mit großen Erwartungen verknüpft war. Die gesellschaftlichen Herausforderungen und Veränderungen klingen in den beiden Romanen an, die damit auch ein „politisches Stimmungsbild“ zwischen Biedermeier und Vormärz vermitteln.

Bei ihrem Erscheinen waren die beiden Romane überaus erfolgreich und wurden von der Kritik sogar als die „jüdischen Buddenbrocks“ bezeichnet. Jettchen Gebert erreichte allein bis Anfang der 1920er Jahre über einhundert Auflagen. Die Verkaufszahlen von Henriette Jacoby waren zwar nicht ganz so eindrucksvoll, aber mit über 100.000 Exemplaren bis 1930 war der Roman ebenfalls ein Bestseller. Zum Erfolg von Jettchen Geberts Geschichte trugen sicher auch die Dramenfassungen (1913 und 1915) von Hermann bei, die ebenfalls vom Publikum begeistert aufgenommen wurden, auch wenn sich der Reiz der Milieubeschreibungen nur schwerlich auf die Bühne bringen ließ. 1918 folgte die Verfilmung (Stummfilm) und zehn Jahre später ein Singspiel mit der Musik von Walter Kollo.

Die beiden Neuerscheinungen des Wallstein Verlages haben eine willkommene Bereicherung durch die umfangreichen Nachworte von Christian Klein erfahren. Der Literaturwissenschaftler und Herausgeber der Georg Hermann-Edition lenkt den Fokus wieder auf das herausragende und umfangreiche Werk Georg Hermanns, das nach dem Exil und der Ermordung in Auschwitz zunehmend aus den Augen der Öffentlichkeit verschwand. Ausführlich widmet er sich auch dem „biedermeierlichen Nerv“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts, den Hermann mit seinen Romanen bediente; aber gleichzeitig wollte er bei seinen Lesern den Blick für „die gesellschaftlichen Herausforderungen ihrer Gegenwart“ schärfen. Daneben werden auch die Themen „Arbeitsweise und Quellen“, „Resonanz“ und „Rezeption“ eingehend beleuchtet. Die beiden Wallstein-Ausgaben folgen den Fassungen (Gesammelte Werke) aus dem Jahre 1922, die im Vergleich zu den Erstausgaben von Hermann selbst korrigiert und mit einer Vielzahl von kleinen Änderungen versehen wurden.

Titelbild

Georg Hermann: Jettchen Gebert. Roman.
Hg. und mit einem Nachwort von Christian Klein.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022.
480 Seiten , 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783835352216

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Georg Hermann: Henriette Jacoby. Roman.
Hg. und mit einem Nachwort von Christian Klein.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022.
380 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783835352209

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch