Triumph der Sprache und der Form über das Ungenügen am gebrechlichen Sein?

Slata Roschal über die Sehnsucht nach Selbstständigkeit und Ganzheit oder Kann die Addition von Teilidentitäten zu keiner befriedigenden Identität führen?

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Woran mag es liegen, dass sich auch nach wiederholter Lektüre keine auf überzeugt sein, angetan sein oder gar schwärmen hinauslaufende Nähe zum Romanerstling 153 formen des nichtseins der als Lyrikerin mehrfach geförderten und ausgezeichneten Slata Roschal eingestellt hat? Handelt es sich um ein Kommunikationsproblem zwischen taufrisch-jetztzeitigem Buch und alternd-gestrigem Rezensenten? Das möglicherweise auch, doch vielleicht auch um anderes, allein dem Text Zuzuschreibendes.

Ja, gewiss, dieser offensichtlich stark autobiographisch bzw. autotherapeutisch gefärbte Text spricht anhand der ein gutes Vierteljahrhundert umfassenden und episodenhaft wiedergegebenen Biographie der in St. Petersburg geborenen, in Schwerin aufgewachsenen und nunmehr in München lebenden Mutter-, Schriftstellerin- und Wissenschaftlerin-Figur Ksenia Lindau eine eher überlange Reihe von z. T. heiß diskutierten Themen an. Es sind Themen, die meist guter Gründe halber Konjunktur haben, als solche also schon einmal für das Buch punkten. Einige davon lauten:

Kulturelle, geschlechtliche und menschliche Identität, Kopf/Geist/Seele und Körper/Bauch, Selbst- und Fremdbestimmung, Anforderungen und Banalitäten des Alltags, Mutterschaft und Beruf(ung), Verwandtschafts- und insbesondere Eltern-Kind-Beziehungen in der Herkunftsfamilie, Erotik, Liebe und Gewalt, eigene Ehe-, Partnerschafts-, Familien- und Elternschaftsvorstellungen, interkulturelle Begegnungen, Zwei- und Mehrsprachigkeit, Kultur- und Sprachvergleich und Sprachgebrauch im privaten und öffentlichen Raum.

Darüber hinaus geht es um die Zeugen Jehovas, den Wissenschafts- und Literaturbetrieb, Sprachreflexionen als solche und das literarische Schreiben im besonderen, Kunst und Literatur sowie um Kultur- und Literaturtheorie – einschlägiges diesbezügliches Wissen wird freilich mir nichts dir nichts vorausgesetzt. Andererseits aber wird Politisches programmatisch an den Rand gedrängt, taucht allenfalls in Stichworten, Urteilen oder aperçuhaften Reflexionen auf.

Aufs Ganze gesehen läuft das auf ein Leseangebot hinaus, das man ohne abfällige Hintergedanken als eine prall gefüllte Kruschelkiste an Themen bezeichnen könnte. Dieser Kruschelkiste kann man aus welcher Distanz und mit welchen Gedanken und Empfindungen auch immer als ganzer begegnen. Dann stellt sich möglicherweise der Eindruck ein, einem an teils larmoyanter, teils provokanter Anmaßung schrammenden Übermaß an Unzufriedenheit, Klage, Wut und gar Hass begegnet zu sein. Darauf möchte man gelegentlich mit jenem Hohelied auf einen gelingenden Alltag antworten, das bspw. Anna Seghers ihren Gesängen der Hoffnung auf eine bessere Welt zum mahnenden Beiklang gegeben hat.

Man kann sich aber auch aus dieser Kruschelkiste dasjenige herausklauben, das einen in besonderer Weise anspricht. Dabei sollte man sich aber darüber im Klaren sein, dass die aufgelisteten zahlreichen Themen in sehr unterschiedlicher Ausführlichkeit, Tiefe und Form verhandelt werden.

Rein quantitativ dominieren die Themen Zeugen Jehovas, Herkunftsfamilie und eigene Partner- und Elternschaft. Dabei wird das für Viele wohl eher randständige, für Ksenia aber verhasste und sie gerade deshalb fesselnde Thema Zeugen Jehovas in auffälliger Breite und Form präsentiert.

Verwundert stellt man jedenfalls fest, dass ihre Abscheu vor den Erlebnissen und Erfahrungen im Umfeld der Zeugen Jehovas als Kind und Jugendliche die erwachsene Ksenia dazu bringt, in einem Aufwasch auch gleich Schwerin zu verachten, das sich im Unterschied zu ihr selbst so gar nicht verändert habe: „Ich könnte platzen vor Wut, ich bin gekommen […], um mich an dieser Stadt zu rächen“. Das klingt eher nach einem wohlfeilen, ‚unreifen‘ Ost-Bashing.

Qualitativ hervorzuheben sind ungeachtet einer gewissen ‚Abgegriffenheit‘ der Themen jene Passagen, die von Ksenias Auseinandersetzungen mit Mitgliedern der Herkunftsfamilie, den Eltern zumal, und von ihren teils ambivalenten Bezügen zu Ehemann Artur und Sohn Emil handeln.

Kaum Neues in faktischer wie in perspektivischer Hinsicht bieten hingegen all jene Stellen, in denen es um Sprache, um personengebundenen Multikulturalismus und Interkulturelles oder um den Wissenschafts- und den Literaturbetrieb geht. Zu den wenigen Ausnahmen gehört hier die Feststellung, dass Förderprogramme für junge Autorinnen deren sozio-ökonomische Hintergründe und den ‚Sonderfall‘ Mutter sein nicht im Blick haben.

Erstaunlich aber und von Interesse im Zusammenhang mit Inhalten und Gehalten: Ksenia, der Prototyp einer ebenso kompromisslosen wie melancholischen Rebellin gegen jede Form von Schein und Lüge, Ksenia, durchaus auch angekränkelt von Selbstzweifeln, Ksenia ist jederzeit bereit, sich nicht nur gegen den ‚Rest der Welt‘ zu stellen, sondern auch denjenigen den Schulterschluss zu verwehren, die allüberall im Namen von „Correctness“ die Welt endlich in die Angeln heben wollen oder die sich anderweitig als Überwinder zum Besseren hin vorkommen.

An das O Mensch-Pathos der Expressionisten erinnernd, insistiert sie bspw. mehrfach darauf, Mensch zu sein und lehnt es ab, den Kategorien Frau oder ggf. auch Mann zugeordnet zu werden. Zugeordnet werden möchte sie auch weder der Postmoderne noch dem Feminismus und dessen Ruf nach weiblicher Solidarität, und was den „Tropfen jüdischen Blutes“ in ihr anbelangt, stellt sie schon früh nüchtern fest, dass das „in Deutschland als exotisch gilt und zum Vorteil gereicht.“ Später heißt es dann ohne erkennbaren religiösen Bezug:

Jedenfalls wollte ich jüdisch sein, denn war ich nicht immer ein Sündenbock, skeptischer Außenseiter, Abtrünniger […], hatte ich nicht ständig das Gefühl, zu einer Flucht bereit sein zu müssen, war ich nicht klug […], war ich nicht für irgendwas auserwählt.

Da merkt man denn, dass der dem Griechischen entstammende Vorname Ksenia und der auf dem Althochdeutschen fußende Nachname Lindau mit Bedacht gewählt worden sind. Ksenia bzw. Xenia bezeichnet nach heutigem griechischem Sprachgebrauch vor allem die Fremde, und eine Fremde, eine, die sogar keine „Vernetzung“ will, ist Ksenia. Von Ksenia bzw. Xenia aus ist es zudem nur ein Schritt zu Xenophobie, also zu derjenigen, die fremdenfeindlicher Ausgrenzung ausgesetzt ist. Im Kontrast zu Ksenia steht dann der Nachname Lindau, der einen locus amoenus assoziieren lässt, einen Ort, der bzw. an dem zu sein sich Ksenia wohl erträumt.

Zur Ästhetik des Romans. Des Romans? Selbstverständlich soll hier, bei der so vielgestaltigen, zur Integration auch anderer Textsorten fähigen Gattung Roman, nicht irgendeiner Form von Regelpoetik das Wort geredet werden. Bestritten werden soll auch nicht, dass 153 formen des nichtseins eine Anzahl von Merkmalen aufweist, die man seit langer Zeit mit dem Roman in Verbindung bringt. Gefragt werden aber soll, ob es nicht dennoch angemessener gewesen wäre, auf eine Gattungsbezeichnung zu verzichten oder für den Text von ‚Aufzeichnungen‘, ‚Materialien und Texte‘, ‚Biographische Annäherungen‘ oder dergleichen mehr zu sprechen. Denn darum handelt es sich eigentlich, betrachtet man die insgesamt 153, zwischen 5 oder 6 Zeilen und um die 3 Seiten langen und mehrheitlich durch harte Schnitte voneinander getrennten Momentaufnahmen, Tagebucheinträge, E-Mails, Erzähl-, Dialog- und Sachbuchabschnitte, Reflexionen, Dissertationsauszüge, Fragebögen, Gutachten, Vereinbarungen, Auflistungen diverser Art und Internet-Dokumente als Ganzes.

Allein die Tatsache, dass ca. 20 Prozent des Gesamttextes aus Internet- und sonstigen Dokumenten besteht – der ebenso wie die eigenwillige Interpunktion manieriert wirkende einseitige Abschnitt 145 ist in Deutsch und Russisch mit „Platz für Notizen“ überschrieben und ansonsten leer –, lässt nach deren erzählerischen Integration fragen bzw. danach, warum deren Inhalt nicht in Gestaltung überführt worden ist. Das gilt vor allem für die ellenlangen, in einem Sachbuch willkommenen Zeugen Jehovas-Dokumente. Von den Zeugen handeln obendrein zahlreiche Erzählpassagen. Anders gewendet: Worin liegt der Erkenntniszuwachs, vor allem aber der ästhetische Zugewinn dieses ‚Dokumentarismus‘? Führt er nicht dazu, dass sich Ksenia häufiger mit dem eher kläglichen Hinweis begnügen muss, die Dinge seien „kompliziert“?

Angesichts all dieser fragenden Einwände sollte aber nicht übersehen werden, dass 153 formen des nichtseins ein grundehrliches Buch ist und eine Vielzahl an guten Beobachtungen und schönen Sätzen enthält. Einer dieser Sätze bzw. Teilsätze lautet „[…] vor allem schämte ich mich dafür, dass ich den Vorwürfen, die gegen mich erhoben wurden, nicht einmal entsprechen konnte“, ein anderer, der von lautersten Absichten erzählt: „[…] ich wünschte, mit meinen Wünschen Berge umstellen zu können.“ Das sei Ksenia gewünscht.

Titelbild

Slata Roschal: 153 Formen des Nichtseins.
homunculus Verlag, Erlangen 2022.
176 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783946120940

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