Wenn Worte zerbröseln

In Marie Gamillschegs Roman „Aufruhr der Meerestiere“ verliert eine Meeresbiologin den Halt

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Rede von Ökosystemen hat aktuell Konjunktur. In Zeiten des Anthropozäns wird meist ihre Gefährdung durch den Menschen diskutiert und die Frage, wie sie gerettet werden können, treibt auch Autorinnen und Autoren um. Bereits der Titel von Marie Gamillschegs zweitem Roman Aufruhr der Meerestiere lässt vermuten, dass der Zustand der Meere eine Rolle spielen könnte, bei ihr hat das Ökosystem aber eher metaphorische Bedeutung:

Eine Insel: keinerlei Abhängigkeiten zur Küste, nur lose Blickbeziehungen zu den Stränden und zur Vegetation dahinter. Auch eine Insel: gegenüber Naturkatastrophen wie Vulkanausbrüchen oder Überschwemmungen robuster als das Festland, umso weniger bei anthropogenen Einflüssen. Jede kleinste Veränderung konnte das ganze Ökosystem kollabieren lassen.

Das Meer mit seiner vielfältigen Bildwelt ist im gesamten Roman präsent und gibt ihm eine ungewöhnliche, aber ungemein stimmige Bildlichkeit. Die Allegorie der Insel kann auf die Protagonistin Luise bezogen werden, aus deren Perspektive der Roman erzählt ist. Wie die Insel dem Wetter, den Gezeiten und den vom Menschen herbeigeführten Umweltveränderungen ausgesetzt ist, so reagiert Luise und vor allem ihr Körper sensibel auf Umwelteinflüsse und soziale Beziehungen bedeuten für sie Stress.

Die zwei verschiedenen Sichtweisen auf eine Insel verweisen zudem darauf, dass sich auch die Geschichte von Luise aus unterschiedlichen Perspektiven erzählen lässt:

Die Meeresbiologin Luise ist jung, unabhängig und erfolgreich. Sie hat früh begonnen zur Meerwalnuss zu forschen und damit ein Forschungsfeld besetzt, das in Zeiten des Klimawandels von besonderem Interesse ist. Das hat ihr nicht nur die Aufmerksamkeit der Forschungsgemeinschaft beschert, sondern auch eine feste Stelle am Kieler Institut für Meeresbiologie. Noch immer ist die 32-jährige Forscherin fasziniert von ihrem Forschungsgegenstand: Die Meerwalnuss ist eine Rippenqualle, deren natürliches Lebensumfeld im Westatlantik liegt. Die im Dunkeln leuchtende, durchsichtige Meeresbewohnerin ist nicht nur aufgrund ihrer Gestalt und der Schwierigkeit, sie im Labor zu züchten, ein herausforderndes Forschungsobjekt. Sie wurde in Schiffstanks in fremde Gefilde transportiert. 2006 sichtete man sie erstmals in der Ostsee. Da sie dort keine natürlichen Feinde hat, bringt sie vor allem in warmen Jahren das Ökosystem gewaltig durcheinander, da sie sich extrem schnell vermehrt. Auch wenn die junge Forscherin viel Anerkennung für ihre Forschung erfährt, ist doch der Druck in der scientific community wie auch am eigenen Institut groß. Es werden ständig neue Ergebnisse erwartet. Doch die Belastung, die auf jungen Forscherinnen und Forschern lastet, ist nur ein Nebenschauplatz des Romans.

Alternativ kann man Luise wie folgt charakterisieren: Die Meeresbiologin Luise ist isoliert, kontaktscheu und leidet unter ihrem durch Neurodermitis gezeichneten Körper. Die junge Frau scheut sich nicht nur davor, eine längerfristige Beziehung einzugehen, in der sie etwas von sich preisgeben müsste, sondern sie versteckt sich zugleich hinter ihrer Forschung, damit sie keine sozialen Kontakte pflegen muss. Von ihrer Familie wird ihr daher auch vorgeworfen, sie habe ein „Herz aus Stein“.

Die Frage, wie sich eine Biographie erzählen lässt und welche Momente in einem Leben wirklich entscheidend sind, werden im Roman immer wieder aufgegriffen. Die Fremdheit, die Luise ihrem eigenen Körper gegenüber empfindet, den sie selbst nicht als schön wahrnehmen kann, überträgt sich auch auf ihre Art und Weise, das eigene Leben mal in vorgefassten Elementen eines beruflichen Lebenslaufs, mal in biographischen Bausteinen zu erzählen. Die Figur ist beruflich wie privat auf der Suche nach sich selbst. Lediglich wenn sie über die Meerwalnuss spricht, ist ihre Begeisterungsfähigkeit zu erkennen. Aus der Innenperspektive entsteht so eher der Eindruck, dass es viele kleine Verletzungen sind, die Luise im Alltag wie einer vom Meer umspülten Insel absichtslos zugefügt wurden. Die Sprache, die Marie Gamillscheg für dieses In-die-Welt-geworfen-Sein findet, ist unerhört, in dem Sinn, dass sie erstaunlich feinsinnig die inneren Bewegungen der Protagonistin beschreibt, ohne die Distanz zu ihr aufzugeben.

Zu Beginn des Romans wird Luise aus ihrer Sicherheit gebenden Routine aus Lehre, Forschung, Vortragsreisen und One-Night-Stands gerissen: Als Vertreterin ihres Kieler Instituts wird sie nach Graz geschickt. Am dortigen Tierpark soll ein Aquarienhaus mit integriertem Forschungszentrum entstehen. Ein wichtiger Baustein in der Neukonzeption ist die Meerwalnuss, die zum einen im zentralen Aquarium präsentiert werden soll, zum anderen soll den Besucher:innen aber auch Einblick in aktuelle Forschungsprojekte um die Meerwalnuss gewährt werden. Für Luise ist die Fahrt nach Österreich nicht nur eine berufliche Bewährungsprobe, sondern zugleich eine Reise in ihre Vergangenheit, stammt sie doch aus Graz. Da vom Institut die Kosten für eine Unterkunft nicht übernommen werden, muss sie sich bei ihrem Vater, einem pensionierten Biologielehrer, einquartieren. Sie kommt in seiner Wohnung unter. Er selbst ist nicht anwesend – angeblich befindet er sich auf einer Tagung in Wien, doch wie sie von ihrem Bruder einige Tage später erfährt, ist er nach einem Herzinfarkt zu dessen Familie nach Nürnberg gefahren, um sich dort noch einmal gründlich medizinisch untersuchen zu lassen. Damit ist die schwierige Vater-Tochter-Beziehung sehr signifikant eingeführt.

Der abwesende Vater ist nicht nur in der Erzählgegenwart ein zentrales Motiv, er bestimmt auch Luises Biographie. Nach der Scheidung der Eltern lebte sie gemeinsam mit ihrem älteren Bruder bei der Mutter und die Beziehung zum Vater war von einer Sprachlosigkeit gekennzeichnet, der weder Vater noch Tochter entkommen konnten. In verschiedenen Erinnerungssequenzen umkreist Marie Gamillscheg in vielen kleinen Alltagsszenen die Unmöglichkeit der beiden Figuren zueinander zu finden, ohne doch einen Punkt ausmachen zu können, an dem die Beziehung erstmals prekär wurde. Es sind lediglich kleine, im Leben einer Pubertierenden nicht ungewöhnliche Ereignisse, die die Figur erinnert. Mal ist es ein kritischer Blick auf ihre zu enge Kleidung, mal die Art und Weise wie der Vater ihr erklärt, wie ihr Körper auf Neurodermitis reagiert, weil er doch selbst unter der Hautkrankheit leidet, mal die Aufmerksamkeit, die er seinen Fischen und nicht Luise schenkt. Anhand dieser wie nebenbei hingeworfenen Skizzen einer Vater-Tochter-Beziehung entwickelt Gamillscheg ein beeindruckendes Psychogramm der Protagonistin.

In Graz kann Luise der Konfrontation mit ihrer Vergangenheit und der Frage nach ihrer Identität nicht mehr entgehen. Neben dem leiblichen Vater gibt es noch eine weitere Vaterfigur im Text, die durch Abwesenheit gekennzeichnet ist: Der Leiter des Tierparks, Doktor Schilling, ist ebenfalls eine für Luises Sozialisation zentrale Figur. Sie hat als Kind jede Woche seine Tiersendung im Fernsehen gesehen, in der er auf beeindruckende und kindgerechte Weise die verschiedenen Tiere und ihr natürliches Lebensumfeld vorgestellt hat. Im Rahmen der Forschungskooperation hofft sie nun, mit Doktor Schilling über ihre Arbeit und das geplante Projekt sprechen zu können. Sie wird aber von der Projektleiterin Frau Popeschka, die sich als Schülerin ihres Vaters zu erkennen gibt und damit der feindlichen Vatersphäre zugeordnet wird, immer wieder mit dem Hinweis, dass Schillings Hund gestorben sei, darüber hinweggetröstet, dass dieser nicht an den Arbeitstreffen teilnimmt. Im Lauf der Erzählung entsteht allerdings zunehmend der Eindruck, dass Frau Popeschka bewusst zu verhindern versucht, dass Luise alleine mit dem Idol ihrer Kindheit sprechen kann. Dabei sind dieser Austausch und die Anerkennung einer Vaterfigur für sie das eigentliche Ziel ihrer Reise:

Er hatte ihr als Kind die Erde erklärt. Sie würde ihm jetzt vom Wasser berichten. Denn studierte man die Quallen nicht im Labor, sondern folgte ihnen durch die Wellen, ließ sich mit ihnen an die Küsten spülen und dann wieder zurück ins Wasser treiben, man fände eine Welt vor, in der Körper und Geschlecht keine Rolle spielten, in der man sich gegenseitig fraß, um das Überleben aller zu sichern, und so den Tod zu überdauern, in der in jedem Wesen die Weisheit des ganzen Universums steckte. Eine Welt, in der man wirklich keine Entwicklung kannte, kein Kräftiger, kein Größer, kein Mehr, kein Besser, sondern nur die Bewegung und das Singen der Sirenen, in der Zeit nur aus dem Rhythmus des Wellenschlags bestand. Alles, was war, war Bewegung. Alles, was zählte, war der Schwarm.

Marie Gamillscheg findet hier nicht nur einen ganz eigenen Sprachrhythmus, sie verbindet auch äußert elegant Luises Forschungsgegenstand mit ihren geheimen Wünschen. Teil einer Gemeinschaft zu werden, in einer Gruppe aufzugehen, scheint ihr wie ein Versprechen, ihre Probleme lösen zu können. Allerdings wird auch dieser Traum problematisch, ist doch der Mensch nicht mit einem Wesen ohne Herz und Gehirn vergleichbar. Und so bleiben nur die Werkzeuge, die den Menschen mitgegeben sind, um sich anderen zu nähern. Die Überzeugung, dass Sprache als Kommunikationsmittel ausreicht, um das verlorene Ich im Gespräch zu finden, verwirft die Autorin aber sehr bewusst mit einem gelungenen Rückgriff auf zentrale Motive und Bilder der Sprachkritik:

Am Anfang stand das Wort Meerwalnuss. Damit fing es an. Damit hörte es auf. In Luises Hand lag, wie schon so oft zuvor, die kleine Fernbedienung, mit der sie die Folien ihrer Präsentation weiterklicken würde, Luise war bereit, das Wort war bereit, weich und vorgekaut lag es hinten auf der Zungenwurzel. […] Die Meerwalnuss. Luise hörte es sich sagen. Aber noch während sie auf diese gewaltige Gegenwart von Worten wartete, die ausgesprochen und zugleich gehört wurden, zerbröselte ihr die erste Silbe auf der Zungenspitze, sie zerfiel in ihre Einzelteile und Luise bekam sie nicht mehr zu fassen, sie stolperte, schaffte es gerade noch zum Ende des Wortes hin. Sie schaute in die Gesichter vor sich und versuchte von ihnen abzulesen, was gerade geschehen war.

Hier klingt nicht nur Goethes Forscherfigur Faust an, der in seiner intellektuellen Verzweiflung in einer Neuübersetzung der Bibel Halt sucht, sondern auch Hugo von Hofmannsthals Lord Chandos. Diesen lässt der österreichische Autor in dem 1902 erschienenen Chandos-Brief sehr eloquent darüber klagen, dass ihm die Worte wie modrige Pilze im Mund zerfallen. Die Skepsis, die Hofmannsthals Figur zum Ausdruck bringt, in Hinblick auf die Möglichkeit, die Welt mittels Sprache zu ordnen, erfährt auch Luise. Sie kann ihren Forschungsgegenstand nicht mehr sprachlich fassen. Aber wie ist Forschung möglich, wenn man das, was man sieht und fühlt, nicht mehr in Worte fassen kann. Wenn man sich nicht mehr mitteilen kann, weil die Sprache diese glibberige Masse, die die Meerwalnuss ist, nicht mehr (be)greifen kann. Hier geht Gamillscheg aber noch einen Schritt weiter als Hofmannsthal, wenn ihre Protagonistin immer wieder das Gefühl hat, ihr Körper löst sich auf, wird von imaginären Wellen umspült, die ihren Körper angreifen und ihn durchlässig machen für Einflüsse von außen, gegen die sie sich doch so gerne schützen möchte.

Was bei der Lektüre von Aufruhr der Meerestiere beeindruckt, ist die Spannung, mit der man als Leser:in die Entwicklung Luises verfolgt, obwohl der Roman über lange Strecken nur alltägliche Handlungen erzählt. Allein wie Marie Gamillscheg die Morgengymnastik Luises als Kampf mit dem eigenen Körper erzählt, ist ein kleines Kunstwerk für sich, das nicht nur Faszination für die sprachliche Könnerschaft der Autorin, sondern auch Mitleid mit der Figur evoziert. Wenn auch im Laufe der Lektüre viele Gewissheiten über Bord geworfen und nicht alle Fragen beantwortet werden, bleibt am Ende von Aufruhr der Meerestiere eine Gewissheit: Marie Gamillscheg hat auf faszinierende Weise die Verwerfungen einer Lebensgeschichte beschrieben. Ihre Sprachbilder werden noch lange nachklingen. Die Leichtigkeit mit der die junge Österreicherin gewagte Metaphern aneinanderreiht und zwischen rhythmisch fragmentierten Satzteilen und komplexen Satzgebilden hin und her springt, lässt vermuten, dass die Autorin noch für einigen Aufruhr in der literarischen Welt sorgen wird. 

Titelbild

Marie Gamillscheg: Aufruhr der Meerestiere. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2022.
297 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875620

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch