Auseinandersetzung mit der Vergangenheit

Ein Gespräch mit dem Labelchef Sergi Rois von Altercat Records über die Vermittlung lateinamerikanischer Musik

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Altercat ist eine kleines, in Berlin ansässiges Plattenlabel, das als Ein-Mann-Unternehmen von dem Katalanen Sergi Roig geführt wird. Schwerpunkt des Labels sind hochwertige Nachpressungen versunkener Schätze, vornehmlich aus Lateinamerika. Zuletzt hat sich Roig verstärkt im Bereich des argentinischen Jazz der 70er Jahre umgesehen. Im Dezember erschien sowohl eine Neuauflage des Albums Bronca Buenos Aires, auf dem der Bandleader Jorge López Ruiz gemeinam mit dem argentinischen Lyriker José Tcherkaski eine Art Jazzsymphonie über die Unruhen der späten 1960er Jahre aufgenommen hat. Zu hören sind Tcherkaskis eindringliche Gedichte und der orchstrierte Free Jazz Ruiz’, die eine wunderbare Symbiose eigehen.

Auch das argentinische Debüt des 1973 exilierten Chilenen Matías Pizarro, Pelo de rata, erscheint im Dezember 2022 in einer prachtvollen Neuauflage, und auch hier ist eine Verbindung politischer Lyrik und Jazz zu hören, wie auch auf dem bereits Anfang des Jahres wieder zugänglich gemachten Werk von López Ruiz’ Band Viejas Raíces, De las colonias del Río de la Plata.

Für literaturkritik.de sprach Sascha Seiler mit Roig über sein Label, dessen Name übrigens weniger mit Katzen zu tun hat, sondern eine Abwandlung des katalanischen Wortes für ‚Auseinandersetzung‘ ist.

 

Literaturkritik.de: Wie kamen Sie dazu, das Label Altercat zu gründen und was war der Gedanke dahinter?

Sergi Roig: Ich hatte über die Jahre schon verschiedenste Dinge mit Musik gemacht: aufgelegt, Konzerte veranstaltet, Platten gesammelt, und dann ist mir aufgefallen, dass davon nichts in der Hand blieb, quasi als Zeugnis meiner Beziehung zu Musik. Dann dachte ich, wenn man sich besser organisiert, kann man etwas machen, das etwas hinterlässt. Da kommen mehrere Sachen zusammen: die Liebe zur Musik, das Plattensammeln, die Recherche in der Vergangenheit. So hat sich der Fokus auf Neuauflagen ergeben.

Sie haben zuerst einige Sachen mit Afrika gemacht, oder?

Nur wenige. Wir hatten Afrodyssey Orchestra. Die spielen Afro-Jazz, kommen aber aus Griechenland. Die einzige Platte vom afrikanischen Kontinent, die ich habe, ist die von Baligh Hamdi & Magid Khan aus Ägypten. 

Uns interessiert vor allem ihre Vermittlung lateinamerikanischer Musik. Da haben Sie ja einiges ausgegraben in letzter Zeit, vor allem Jazz und Folklore. Was ist Ihre Verbindung dazu bzw. wie kamen Sie darauf? 

Das ist eine Thematik, die mich sehr interessiert, obwohl ich gar keinen Jazz-Background habe. Ich komme eher aus der Rock-Szene, also Mitte/Ende 60er-Rock, Garage, Psychedelic usw. Zunächst wollte ich nur, was diese Genres betrifft, über die britischen und anglo-amerikanischen Grenzen hinausschauen und so bin ich zur brasilianischen Musik gekommen. Mein Einstieg waren natürlich Os Mutantes, die ja die international berühmteste Psych-Band Brasiliens sind. Mitte/Ende der 90er gab es die ersten Nachpressungen ihrer Klassiker auf CD. Die habe ich damals über einen Freund bekommen und wir dachten: ‚Wow, Psychedelia aus Brasilien, das ist wie aus einer anderen Welt!‘, ohne zu wissen, dass Os Mutantes nur die Oberfläche darstellen. Das war mein Einstieg in die brasilianische Musik. Danach habe ich die ganzen Tropikalisten entdeckt: Caetano Veloso, Gal Costa, Gilberto Gil, Tom Zé und andere. In Argentinien bin ich dann auf einen Gitarristen gestoßen, Augustín Pereyra Lucena, von dem ich dann zwei Platten auf Altercat neu aufgelegt habe. Auf der ersten Platte von Naná Vasconcelos spielt er mit, Naná hat Percussion gespielt und Agustín Gitarre. Über Pereyra Lucena bin ich dann so richtig in die Jazz-Szene Argentiniens eingestiegen. Das ist die Geschichte dahinter.

Das ist sehr spannend, denn in der Geschichtsschreibung der argentinischen Rockmusik wird der Jazz immer komplett ausgespart. Gerade die Werke aber, die Sie jetzt zuletzt wiederveröffentlicht haben, etwa Bronca Buenos Aires von Jorge López Ruiz, transportieren eine klare politische Botschaft, die ja auch im Mittelpunkt der argentinischen Rockmusik der frühen 70er Jahre stand – und das ist ja wahrscheinlich eine der prägendsten Gegenkulturen der Welt gewesen. Wie sehen Sie da die Verbindung?

Ehrlich gesagt finde ich die Jazz-Szene dort viel interessanter als die Rock-Szene. Zwei Mitglieder der Band Arco Iris – Ara Tokatlian und Guillermo Bordarampé – haben übrigens auch eine Jazz-Platte aufgenommen, die sehr interessant ist. Spiritual Jazz auf höchstem Niveau und ein Treffpunkt zweier Generationen. Diese zwei Mitglieder von Arco Iris und ein Pianist aus der alten Schule – Enrique „Mono“ Villegas. Der ist schon 1913 geboren und hat mit diesen zwei jungen Hippies eine Platte zusammen gemacht. Das Ergebnis ist faszinierend. Das kommt, wenn alles klappt, im Frühling auf Altercat. In Argentinien gibt es ein paar Musiker, die in verschiedenen Szenen aktiv waren, wie Pocho Lapouble oder Ricardo Lew, sonst hat man das eher getrennt gehalten. 

Das ist interessant, da Arco Iris ja eine Art Kommunenband war, soziopolitisch sehr interessant, da sie sich bestimmten asketischen Prinzipien verschrieben haben. Musikalisch aber fristeten sie damals ein Nischendasein, weil zu folkloristich, wobei auf ihrem Debütalbum auch viele Jazz-Spuren zu hören sind. Wie sind Sie überhaupt auf die Alben von Jorge López Ruiz gestoßen? Wie kam es auch dazu, dass Sie sie veröffentlichen konnten?

Darauf gekommen bin ich durch Recherche. Meine erste Entdeckung in Argentinien, die keinen Zusammenhang mit Rock aufwies, war Augustin Pereyra Lucena und das nur, weil er brasilianische Musik gespielt hat. Er war einer der wenigen. Dann habe ich nach Labels jener Zeit recherchiert. Trova kann man nicht ignorieren. Die hatten sehr großen Erfolg mit Bossa Nova und haben die sehr bekannte Platte von Vinicius de Moraes, Maria Creuza und Toquinho herausgebracht (Vinicius de Moraes En „La Fusa“, 1970). Trova hat dann aber auch viele Jazz-Sachen gemacht. Das habe ich mir alles angehört. Zuerst erschienen auf Altercat Viejas Raíces, das Projekt, das López Ruíz 1976 zusammen mit Pocho Lapouble und dem chilenischen Pianist Matías Pizarro führte, oder Jorge Navarro. Ein Kernpunkt für die Veröffentlichung ist immer die intensive Recherche für die Begleithefte, die den Alben beiliegen, und genau diese Verwinkelungen der Musikgeschichte anschaulich machen sollen.

Wenn Sie an Ihre letzten Veröffentlichungen denken – Bronca Buenos Aires von Jorge López Ruiz oder Pelo de Rata von Matías Pizarro –,  würden Sie sagen, diese Musiker sind in Argentinien irgendwo präsent oder komplett vergessen? 

Sowohl als auch. Davon leben zu können, professioneller Jazzmusiker zu sein, ist grundsätzlich schwierig. In Argentinien noch einmal besonders, vor allem in den 70er Jahren. Es gab dort aber eine kleine, sehr gut vernetzte Szene. Außerhalb dessen waren diese Musiker weniger bis gar nicht bekannt. Innerhalb der Szene sieht das anders aus, da gibt es durchaus große Stars, etwa Lalo Schifrin oder Gato Barbieri, die sind ja jedem Musik-Kenner ein Begriff. Die meisten davon haben aber das Land verlassen und sind dort dem Erfolg hinterhergereist, sozusagen. Jorge López Ruiz und viele andere, weniger bekannte Musiker hingegen sind in Argentinien geblieben. Trotzdem gehörten sie alle ursprünglich zur gleichen Szene und haben zusammen aufgenommen. Jorge López Ruiz sagte zum Beispiel, dass er alles, was er über Orchesterleitung, Arrangements usw. wusste, von Lalo Schifrin gelernt hat, in dessen Band er Trompete gespielt hatte. Vielleicht lässt sich diese Szene mit der Bekanntheit des Jazz-Labels ECM Records in Deutschland vergleichen: Innerhalb der Szene sind sie sehr anerkannt und dort relativ erfolgreich – Mainstream sind sie aber lange nicht. 

Was planen Sie in nächster Zeit?

Von Jorge López Ruiz kommt im Frühling Un Hombre De Buenos Aires. Eine ganz tolle Platte, auf der er mit wunderbaren Musikern zusammenspielt. Und im November folgt ein bislang unveröffentlichtes Album von Ruiz, das der Nachfolger von Bronca Buenos Aires hätte sein sollen. Es wurde damals aus politischen Gründen nicht veröffentlicht und galt auch als zerstört, wurde aber Jahre später von seiner Familie wiedergefunden. Außerdem in Planung sind zum Beispiel Alben von den argentinischen Künstlern Fernando Gelbard und Enrique Villegas sowie dem brasilianischen Jazz-Perkussionisten Naná Vasconcelos.

Verkaufen Sie genug Platten, dass sich die Veröffentlichungen auch finanziell lohnen? 

Ich tue mein Bestes. Es läuft, aber es ist, wie es überall ist: je mehr Arbeit und Zeit man hineinsteckt, desto mehr lohnt es sich. Mit Jazz ist es generell eher schwierig, da hat man mit Rock- und Pop-Musik mehr Erfolgschancen. Außerdem veröffentlichen wir ja sehr gute Pressungen in besonderen Auflagen, die sich nicht zuletzt auch an Vinyl-Liebhaber richten. Wenn man aber im Bereich Lizenzen aktiv ist, kommt auf jeden Fall mehr Geld rein, als nur mit dem Verkauf von Platten, deshalb konzentriere ich mich vor allem auch darauf.

Würden Sie denn auch gerne im Bereich der argentinischen Rockmusik aktiv werden? Vieles ist ja durchaus von großen Labels in den letzten Jahren wiederveröffentlicht worden, aber die Pressqualität ist oft unfassbar schlecht.

Natürlich wäre das eine Idee, vor allem eine Band wie Aquelarre würde mich sehr reizen, oder weitere Alben von Arco Iris. Aber die Rechte liegen bei all diesen Bands bei den großen Labels, die im Allgemeinen sehr unkooperativ sind. Obwohl es toll wäre, hier vernünftige Pressungen herzustellen, die nicht völlig überteuert sind und sich auch an ein internationales Publikum richten, um es auf diese Musik aufmerksam zu machen.