Packend vernetzter Erzähl-Kosmos

Mit „Candy Haus“ legt Jennifer Egan einen faszinierend vernetzten Roman vor und zeigt die Gefahren einer Kolonialisierung des Bewusstseins auf

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Mittelpunkt des neuen Romans steht der New Yorker Bix Bouton, ein schwarzer charismatischer Internet-Pionier, der mit seinem Start-up „Mandala“ Kultstatus erreicht hat. Doch er befindet sich in einer Sinnkrise und fühlt das “Dröhnen einer unheilvollen Leere“ in sich  denn „ihm fehlte eine Vision, die über jene hinausging, die er so gut wie erschöpft hatte.“

Durch Zufall gerät er in einen Gesprächskreis über die Anthropologin Miranda Kline, die mit ihrem Algorithmus über Vertrauen und Einfluss die Grundlage für seinen Erfolg in den Sozialen Netzwerken gesorgt hatte. Von den Teilnehmenden dieses Gesprächskreises aus mäandert der Roman durch Zeit und Raum und der Leser taucht in eine Vielzahl von miteinander verbundenen Lebensläufen und Gesellschaftsbereichen ein – da ist beispielsweise Mirandas Ex-Mann Lou Kline, ein erfolgreicher Musikproduzent an der Westküste, der sich seiner Tochter wieder anzunähern versucht. Da sind aber auch Alfred Holländer, ein Extremist der Authentizität oder sein Bruder Miles, ein erfolgreicher Anwalt, der nach persönlichen Verfehlungen einen gnadenlosen Absturz erlebt und in der Wüste bei der Künstlerin Sasha wieder zu sich selbst findet. Und da ist Bennie Salazar, ebenfalls ein erfolgreicher Musikproduzent, der seinen Sohn Chris an die Sucht verliert und der eine Brücke zu Jennifer Egans mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Roman Der größere Teil der Welt schlägt.

Bix Bouton findet durch Anregungen aus dem Gesprächskreis aus seiner Sinnkrise heraus und entwickelt mit dem „Mandala-Cube“ eine digitale Prothese, die die Erinnerungen jedes einzelnen Menschen externalisieren kann und im Netz zu einem kollektiven Unterbewussten zusammenführt. An dieser bahnbrechenden Entwicklung aus dem Bereich des Smart Environment führt Jennifer Egan Lesende auch in die Welt der Proxys, „Platzhalter-Identitäten“ und datenverweigernden Renegaten. Denn früh scheint schon die Gefahr auf, die sich in diesem Roman dann an den alt gewordenen Protagonisten zeigt: Die Kolonialisierung des Bewusstseins durch ständig mit dem Netz verbundene „Asseln“ und die daraus resultierende ständige Überwachung und Kontrolle der Gedanken und Erinnerungen.

Jennifer Egan gehört zu den avanciertesten US-SchriftstellerInnen und experimentiert stetig mit der Erweiterung des Roman-Genres und seiner Erzählweisen – so hat sie schon 2013 mit Black Box einen Roman vorgelegt, der zuvor nur in Form von Twitter-Nachrichten erschienen war.

Mit Candy Haus hat sie nun einen überaus schillernden und packenden Erzählkosmos auf der Höhe der Zeit geschaffen. Sie erzählt hier aus verschiedenen Perspektiven und mit verschiedenen Formen und verwirbelt kunstvoll die kleinen Dinge und Dialoge des Alltagslebens mit den großen Themen der Menschen sowie ihren U- und Dystopien. Auch wenn der Leser hier hin und wieder die Orientierung zu verlieren droht, zieht sie ihn magisch in ihren Erzählsog und beschwört zum Schluss noch einmal die Kraft der Fiktion gegenüber BigData: „Alles zu wissen bedeutet aber, nichts zu wissen; ohne Story haben wir es nur mit unzusammenhängenden Informationen zu tun.“

Titelbild

Jennifer Egan: Candy Haus. Roman.
Aus dem Englischen von Henning Ahrens.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2022.
416 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783103971453

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