Biographie zwischen Realität und Fiktion

Matthias Matschke erzählt in seinem ersten Roman vom Erwachsenwerden in der westdeutschen Provinz

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Jahrzehnt vor der deutschen Wiedervereinigung: In der hessischen Provinz läuft es relativ ereignisarm ab, wenn man Matthias Matschke Glauben schenkt. Der hat dem Helden seines Romandebüts der Einfachheit halber seinen eigenen Namen gegeben: Matthias Matschke. Dreizehn Jahre ist der alt, wenn der Roman beginnt, knapp sieben Jahre älter, wenn er endet. Erzählt wird die Geschichte des Jungen aus der 300-Seelen-Gemeinde am Rande des Odenwalds, 17 km von Darmstadt entfernt, nicht chronologisch, sondern in der Zeit mal vor-, mal zurückspringend, teilweise bis in die frühe Kindheit.

Matschke (Jahrgang 1968 und damit ein wenig älter als sein fiktives Alter Ego) ist im Hauptberuf Schauspieler. Und folgt mit Falschgeld einem Trend. Er ist nämlich beileibe nicht der erste Mime, der zur Feder gegriffen hat. Ulrich Tukur, Axel Milberg, Christian Berkel, Matthias Brandt, Joachim Meyerhoff und Dominique  Horwitz – um nur ein halbes Dutzend seiner schauspielernden Kollegen zu nennen – sind ihm auf diesem Weg vorausgegangen. Und meistens haben sie aus dem Nähkästchen der eigenen Biographie geplaudert, mehr oder minder gut eigenes Erleben fiktionalisierend.

Dass Matschke da nicht aus der Reihe tanzt, versteht sich deshalb fast von selbst. Und dennoch zeichnet seinen Roman etwas ganz Eigenes aus, das Bekenntnis nämlich, dass Erfundenes sich gelegentlich spannender liest als die platte Wiedergabe dessen, was tatsächlich einst geschah. Denn wie zitiert der Autor im Motto des Buches einen Spruch des Vaters seiner Hauptfigur: „Es ist nicht verwerflich, sich an etwas zu erinnern, das es nicht gegeben hat. Wer soll uns dafür richten?“

Der von Autos besessene Volvo-Fahrer ist der Pfarrer des kleinen Dorfes und zweier weiterer Gemeinden. In einer kleinen schlesischen Stadt katholisch aufgewachsen, musste er zusammen mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder gegen Kriegsende Richtung Westen fliehen, während sein Vater in Kriegsgefangenschaft geriet. Die Familie landete schließlich in Südhessen. Warum Christian Matschke hier evangelisch geworden ist, erzählt er seinem Sohn, den er Matthi nennt, nie, obwohl den als neugierigen Jungen neben anderen natürlich auch Glaubensfragen interessieren.

Aber er sieht, dass sein Vater eine angesehene, wegen seiner ausgeprägten Streitlust, die er auch im Umgang mit seiner ähnlich veranlagten Frau nicht ablegt, oft gefürchtete Persönlichkeit ist. Hingebungsvoll übt er seinen Beruf aus, ist penibel in Kleinigkeiten und geht später, als man ihn aufgrund seines Charakters in die Verwaltung der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau versetzt, mit ebenso viel Eifer der neuen Tätigkeit nach. Nur dass er sich als Vertriebener geriert, seiner schlesischen Heimat nachtrauert und unbeherrscht auf die „scheiß Polacken“ schimpft, denen „achthundert Jahre deutsche Geschichte in Schlesien“ egal seien, will weder seiner Frau noch dem Sohn gefallen.

Das in 19 Kapitel unterteilte Buch, jedes davon um ein zentrales Thema kreisend, reiht auf bemerkenswert poetische Weise Momentaufnahmen aus dem Leben seines Helden aneinander. Dabei spielen neben komischen Episoden auch melancholisch-nachdenklich eingefärbte Erinnerungen eine Rolle, wie die an den Selbstmord seines Onkels Günter, den Tod des Großvaters oder den Schlaganfall seines Vaters just an dem Tag, als in Berlin die Mauer fällt –  “jubelnde Menschen und Trabanten im Fernseher“ kontrastieren das Arztgespräch von Mutter und Sohn, bei dem sie erfahren, dass man nicht wissen kann, ob der Vater je wieder zu dem werden wird, als den sie ihn kennen und lieben.

Falschgeld, der Titel des Romans, geht auf eine tragische Episode in der Familiengeschichte zurück. In deren Mittelpunkt steht der jüngere Bruder des Vaters, jener homosexuelle Onkel Günter, der sich das Leben genommen hat, als Matthias sechs Jahre alt war. Der Ich-Erzähler erinnert ihn als einen Künstler, passionierten Raucher und guten Menschen. Einen, der, sind andere um ihn herum, „zu viel, zu laut“ gelacht hat, zu aufgedreht war in den Augen seines älteren Bruders und dessen als Postbeamtin im Fernmeldewesen tätigen bodenständigen Frau. Als Restaurator in einem Museum gekündigt, wurde Günter der erste Schauspieler der Familie. Im Stadttheater Aschaffenburg spielte er vor den Augen des Neffen im Räuber Hotzenplotz mit, ehe er ein halbes Jahr später, um seinen unheilbaren Lungenkrebs wissend, freiwillig aus dem Leben schied.

Nach Günters Tod geschieht es dann auch zum ersten Mal, dass Matschkes Held die Realität, so wie sie sich ihm darbietet, nicht zu ertragen vermag und sich einen Ausweg aus ihr “hinzudichtet“. Aber darf man das Lügen nennen, wenn mit ein paar hinzuerfundenen Geschichten die Tragik eines Lebens ein wenig abgemildert wird? Oder ist es nicht vielmehr ähnlich jenen von seinem Onkel mit einem Freund vorzeiten selbst hergestellten Tausendmarkscheinen, deren letzter schließlich in der Tasche des Neffen landet und ihn zu einem Vergleich mit den vielen kleinen Geschichten, mit denen er für sich und andere das Leben ein wenig spannender und heller erscheinen lässt, als es wirklich ist, animiert: „Es ist wie zahlen mit Falschgeld: Man weiß, dass es nicht echt ist. Und solange es nicht als falsch entblößt wird, bleibt es echte Währung.“

Vielleicht ist die Erinnerung an die Begegnung mit dem Onkel nach der Vorstellung in dessen Theatergarderobe und die dort vorherrschende Atmosphäre der Freiheit, in der man einfach durch die Übernehme einer Rolle ein anderer sein konnte als der, zu dem die Zeit einen gemacht hatte, auch das, was den Neffen am Ende des Romans in die Fußstapfen seines Onkels treten lässt. Ob es der richtige Weg für ihn ist, kann er da noch nicht wissen. Doch nach dem Tod des Vaters und einer zunehmenden Entfremdung von der Mutter sind die Brücken in die Vergangenheit abgerissen. Eine Vergangenheit, die Matthias Matschkes Roman auf beeindruckende Weise noch einmal Gestalt gewinnen lässt.

Titelbild

Matthias Matschke: Falschgeld.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2022.
256 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783455014631

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