Zwischen Ökologie und Schamanismus

Lisa Kunze liest W.G. Sebalds Prosagedicht „Nach der Natur“

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

W.G. Sebald gilt heute im englisch- und deutschsprachigen Raum als einer der wichtigsten deutschen Schriftsteller des späten 20. Jahrhunderts. Besonders seine Erzählwerke – als literarische Mahnmale der Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts und der Zerstörung der Natur – haben ihm bei vielen Leser:innen eine geradezu kultische Verehrung eingetragen. Sebald war Germanist, akademischer Lehrer und ein Autor, der das literarische Feld genauestens beobachtet hat: So auch die aus Amerika stammende Richtung des „Nature Writing“ und insbesondere dessen (Unter)Kategorie einer „environmental literature“, beide in den 1980er Jahren entstanden. Heute, also im gegenwärtigen deutschsprachigen Literaturbetrieb, beginnt das „Nature Writing“ nachhaltig Fuß zu fassen. In der Leseöffentlichkeit ist angesichts der globalen Umweltkrise und des drohenden Verlusts von Natur und Landschaften ein wachsendes Interesse an Naturthemen zu beobachten. Das haben einzelne Verlage bereitwillig aufgegriffen, z.B. durch die Editionen der Reihe „Naturkunden“, die der Verlag Matthes & Seitz im Jahr 2013 ins Leben gerufen hat und die mit großem Erfolg von der Schriftstellerin Judith Schalansky herausgegeben und betreut wird. Seit 2017 wird auch der „Deutsche Preis für Nature Writing“ vergeben.

Auch der Schriftsteller W.G. Sebald (1944–2001) hat sich schon früh dieser Thematik gewidmet, so in seinem 1988 veröffentlichten Werk Nach der Natur. Ein Elementargedicht. Allerdings tat er dies auf die ihm eigene Weise:

Unnötig zu sagen, daß der Sprachartist Sebald alle Wörter ausblendet, die im Geruch des Modischen stehen könnten. Also weder ‚Ökologie‘ noch ‚Entropie‘ kommen in diesen Texten als Begriffe vor. Die Sachverhalte aber, die sie bezeichnen, spielen eine große und, wenn ich nicht irre, zunehmende Rolle

, so der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering in seiner Laudatio auf Sebald, gehalten anlässlich der Verleihung des „Heinrich-Böll-Preises“ der Stadt Köln im Jahr 1997 (Schnee und Asche, S. 156).

Im Gegensatz zu den später geschriebenen Prosawerken hat Sebalds Prosagedicht insgesamt auch eine eher verspätete Rezeption erfahren und ist bis heute noch wenig erforscht. Die im gleichen Jahr wie Sebald verstorbene Literaturkritikerin und Übersetzerin Gunhild Kügler hat Nach der Natur als ein „außergewöhnliches Buch“ bezeichnet, „dessen eklatanter Nichterfolg, ein kaum erklärlicher Mangel an Beachtung, all denen recht gibt, die die Ungerechtigkeiten des Literaturbetriebs schon immer beklagt“ haben (so zitiert in Uwe Schüttes neuer Monografie aus dem Jahr 2020 W.G. Sebald. Leben und literarisches Werk). Auch die Übersetzung ins Englische – von Sebalds engem Freund, dem Dichter und Schriftsteller Michael Hamburger, – kam erst im Jahr 2002 zustande.

Sebalds „Bricolage“ – so die eigene Formulierung Sebalds in einem Interview mit der Literaturkritikerin Sigrid Löffler im Jahr 1993 – entstand in den Jahren von 1983 bis 1987, wurde in Teilen in der Grazer Literaturzeitschrift Manuskripte veröffentlicht, erschien aber vollständig (in überarbeiteter Form mit kleineren inhaltlichen und sprachlichen Änderungen und Kürzungen und in anderer Textanordnung) erstmals 1988, zusammen mit sechs Schwarz-Weiß-Fotografien des Münchner Künstlers Thomas Becker im Frankfurter Eichborn-Verlag. Sebald gelang mit diesem Werk eine wichtige Brückenbildung zum angelsächsischen „Nature Writing“ und er schloss die offensichtliche Lücke in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach der Kontaminierung des Schreibens über Mensch und Natur durch die nationalsozialistische Blut-und Boden-Ideologie.

In seinem Langgedicht in Prosa spiegelte er anhand dreier menschlicher Einzelschicksale die Zerstörung der Natur durch den Menschen in drei Schritten wie in einem Triptychon: den Gottesverlust des vormodernen Malers Matthias Grünewald im 16. Jahrhundert, das Wirken und Schicksal des Ethnologen, Arztes und Naturforschers Georg Wilhelm Steller (1709–1746) im ausgehenden 18. Jahrhundert und die Generationserfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg. Sebalds „Elementargedicht“ steht in der Tradition eines autobiografischen Schreibens, und die Referenzen auf Grünewald und auf den Naturwissenschaftler Steller können als „evolutionäre Entwicklungsstufen“ der Autorpersönlichkeiten W.G. Sebalds verstanden werden.

Nach zahlreichen werkbiografischen Arbeiten Uwe Schüttes, dem ehemaligen Doktoranden Sebalds an der University of East Anglia Norfolk, und dem – von Schütte vehement kritisierten, von Michael Neuhaus und Claudia Öhlschläger herausgegebenen – W.G. Sebald-Handbuch im Jahr 2017 scheint der Boom von Veröffentlichungen in der deutschen und internationalen Literaturwissenschaft über den Schriftsteller ungebrochen zu sein. Nun hat die Göttinger Literaturwissenschaftlerin Lisa Kunze ein Lesemodell zu Sebalds Langgedicht vorgelegt. In der Forschung hat man erkennen wollen, dass sich Sebald lose und nicht nur in der Titelei an Lukrez’ in Hexametern verfasstes Lehrgedicht „De rerum natura“ anlehnt, was immerhin einige Plausibilität beanspruchen könnte. Diese Spur verfolgt Kunze allerdings nicht weiter, eher sieht sie Hans Magnus Enzensbergers Mausoleum. 37 Balladen aus der Geschichte des Fortschritts aus dem Jahr 1975 oder dessen 1978 veröffentlichtes Prosagedicht Der Untergang der Titanic als Vorläufer, zumal es ja auch Enzensberger war, der Sebalds Projekt befördert und in seiner „Anderen Bibliothek“ veröffentlicht hat.

Allerdings geht es Kunze nicht in erster Linie um solche Einordnungen, die in der Forschung bereits verschiedentlich untersucht worden sind. Auf diese Forschungsergebnisse und auch auf viele der Prätexte Sebalds und die damit offengelegte Intertextualität geht sie am Rande und besonders in den fünf Exkursen auch ein. Wichtig ist ihr aber etwas Anderes: So wie der erste Teil des Elementargedichts „Der Schnee auf den Alpen“ sich die rhetorische Figur der Ekphrasis – also eine wirkmächtige und von einem Erzähler vermittelte Beschreibung und „Lesbarmachung“ von Kunstwerken – zum Ausgangspunkt nimmt, so besteht auch die Methode Kunzes darin, die drei Teile des Elementargedichts durch eine genaue Lektüre, ein „close reading“ ausgewählter Gedichtpassagen, zu durchschreiten.

Der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering hatte in seiner Laudatio (s.o.) betont, dass sich „mit jeder neuen Lektüre – und Sebalds Texte sind von der Art, daß sie durch wiederholte Lektüren immer reicher werden – […] neue, seltsame Korrespondenzen und Koinzidenzen auf[tun]“. Ähnlich folgert auch Andrea Filer in ihrer Monografie W.G. Sebalds „Nach der Natur“. Eine Analyse:

Die Texte verlangen stets eine Mitarbeit des Lesers, der sich, ähnlich Bertolt Brechts Technik des epischen Theaters, nicht passiv zurücklehnen kann, sondern durch die Mitarbeit lernen soll. Immerhin war Sebald neben seinen Rollen als Autor und Literaturkritiker ebenfalls Lehrer (S. 3).

Den ersten Teil des Prosagedichts liest Kunze als „Naturkonzept“ und als „Göttliche Schöpfung oder selbstzerstörerische Kraft“ (so ein Kapiteltitel). Mit einem die Kunstwerke interpretierenden Blick zeige Sebalds lyrisches Ich „das Wesen“ des Künstlers Grünewald als „einsamen Melancholiker“:

Immer dieselbe
Sanftmut, dieselbe Bürde der Trübsal,
dieselbe Unregelmäßigkeit der Augen, verhängt
und versunken seitwärts ins Einsame hin.
(Nach der Natur, S. 7 f.)

Kunze sieht aber auch die Bedeutung der „Sprecherinstanzen“ im Gedicht, als Selbstidentifikation eines „Ichs“ u.a. bei der Ekphrasis des „Isenheimer Altars“:

In Anbetrachtung dessen dünkt mich
die Eiszeit, das hellweiße
Turmgebäude der Gipfel im oberen
Bereich der Versuchung,
die Konstruktion einer Metaphysik
(Nach der Natur, S. 28)

Kunze erkennt auch die zusammenfassende Perspektive des „Wir“ bei der Betrachtung der Werke Grünewalds, wodurch der Zeitsprung zu den Menschheitsbedrohungen im 20. Jahrhundert hergestellt werde:

Dieses ist ihm, dem Maler, die Schöpfung,
Bild unserer irren Anwesenheit
Auf der Oberfläche der Erde […]
(Nach der Natur, S. 23)

Den zweiten, längsten Teil des „Elementargedichts“ widme Sebald einer Meeresexpedition in das noch unerforschte Alaska. Als Motto und Titel sind dem Text zwei Zitate vorangestellt, die mit der Schiffsmetapher arbeiten und die beiden Motive Hoffnung und Tod aufgreifen, als Motto ein Auszug aus dem Klopstock-Gedicht „Die Welten“, und der Titel dieses Mittelstücks des Triptychons – „Und blieb ich am äußersten Meer“ – ist eine Abwandlung eines Verses aus Psalm 139. Kunze weist darauf hin, dass in der Buchfassung das Klopstock-Zitat von Sebald wohl von Sebald absichtlich falsch datiert worden sei, 1746 statt korrekt 1764, und bringt diesen Zahlendreher mit dem Sterbedatum des Naturforschers Steller in Verbindung.

Es gehe Sebald nicht nur um den Schiffbruch des Expeditionsschiffs, auf dem sich Steller befand, sondern auch um die Vorausdeutung auf den Tod des Forschers:

Da […]
treibt eine Wand aus Wasser
das Schiff in die Felsen.
Verkeilt liegt es,
eine Zeit im Gestein ächzend,
als hätte es sich in der Todesnot
noch an Land retten wollen,
bis eine schwere Welle
es hinabschiebt in die Stille.
(Nach der Natur, S. 57)

Am Beispiel des letzten Teils des Prosagedichts „Die dunckle Nacht fahrt aus“ erweise sich der „schamanische Blick“, der es ermögliche, „die Grenzen von Raum und Zeit zu überschreiten“, als Technik der „Vergegenwärtigung vergangenen Lebens“. Kunze verweist in diesem Zusammenhang auf Sebalds „Flugvisionen“:

[…] Ich spürte das Zittern
der Antennen auf den Dächern
der Häuser als ein Kräuseln
in meinem Gehirn, konnte,
weit draußen, das Gaußsche
Rauschen hören, ein gleichförmiges
über die ganze Tonleiter gestreutes
Geräusch, von der Erde bis hinauf
in den Himmel, wo die Sterne
im Äther schwimmen.
(Nach der Natur, S. 88 f.)

Aus den Lektüren Kunzes wird deutlich, dass schon Sebalds frühes Schreiben Ausdruck eines melancholischen Tons war, der sich ins Visionäre steigerte. Das Verschwinden der Natur werde dokumentiert, in „schamanischer Praxis“ beschwörend und die „ächzende, versehrte Landschaft“ betrauernd: „Wichtig wird […] die Kunst als Heilung – insofern sie ein positives Gegengewicht zum Unglück entwirft, das die Zeitläufte durchzieht“. Leser:innen, die den Text Sebalds (noch) nicht kennen, bekommen so einen authentischen Eindruck der Dichtung. Diesen zu vermitteln, ist der Verfasserin im besten Sinne gelungen. Allerdings sei es dringend empfohlen, sich die – auch von Kunze zitierte – günstige Fischer-Taschenbuchausgabe ebenfalls bereitzulegen, um den Text parallel zu lesen.

Wichtig und hervorhebenswert sind auch Kunzes Einordnungen in das spätere Œuvre Sebalds, an vielen Stellen zeigt sie die Verbindungslinien vor allem zu den Romanen Die Ausgewanderten und Die Ringe des Saturn auf.

Dies sind Spuren, denen man bei der weiteren Lektüre von Sebalds Werken folgen kann, auch im Sinne einer Selbstreferenzialität des Autors als Merkmal moderner, ambitionierter Prosa. Denn am Anfang des dritten Teils „Die dunckle Nacht fahrt aus“ heißt es passend:

[…] Das Gehirn arbeitet ja fortwährend
mit irgendwelchen und sei es ganz
schwachen Spuren der Selbstorganisation,
und manchmal entsteht daraus
eine Ordnung, stellenweis schön
und beruhigend, doch auch grausamer
als der vorherige Zustand der Ignoranz.
(Nach der Natur, S. 71)

Nicht unerwähnt bleiben sollte aber auch, dass Kunze ihre nachspürende, genaue Lektüre durch rahmende Sachinformationen zu Sebalds Frühwerk ergänzt: Den Weg der Textgenese von den Zeitschriftenfassungen bis zur Buchfassung erläutert sie in einer Synopse, einem detaillierten Variantenverzeichnis der drei Textstufen von Nach der Natur auf den Seiten 303–328, die das Buch beschließt. Weiterhin steuert Kunze nicht nur die Bildbeigaben der Greno-Ausgabe bei, die in der Taschenbuchausgabe fehlen, sondern ihre Publikation enthält auch viele Abbildungen von Grünewalds Werken, die der Ekphrasis Sebalds zugrunde lagen. Ein Literaturverzeichnis der verwendeten Primär- und Sekundärquellen rundet diese lesenswerte Publikation ab.

Quellenangaben

Andrea Filer: W.G. Sebalds „Nach der Natur“. Eine Analyse. Berlin 2015.

Heinrich Detering: „Schnee und Asche, Flut und Feuer. Über den Elementardichter W. G. Sebald“, in: Neue Rundschau 109 (1998), S. 147–158.

Uwe Schütte: W.G. Sebald. Leben und literarisches Werk. Berlin u.a. 2020.

W.G. Sebald: Nach der Natur. Ein Elementargedicht. 5. Aufl. Frankfurt a.M. 1995.

Titelbild

Lisa Kunze: Der Schamane mit der Feder. Ökologie und „Mitleidenschaft“ in W. G. Sebalds »Nach der Natur«.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022.
339 Seiten , 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783835352940

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