Peter Handke, Franz Kafka und das ‚pure Erzählen‘
Von Dieter Lamping
1.
Peter Handke ist als Schriftsteller immer auch ein Leser. Er hat sich selbst einen der „Lesebedürftigen“ genannt, die „ohne die tägliche Schrift“ zwangsläufig „unglücklich werden“. Auch seine literarische Produktion ist ohne seine Lektüren nicht zu denken. Sie haben ihre Spuren in seinen Texten ebenso wie in seiner Poetik hinterlassen. Berichte und Reflexionen über Gelesenes, sei es in Essays oder Rezensionen, sind ein unübersehbarer Teil seines Werks geworden. Manche Protagonisten seiner Romane, wie schon der Ich-Erzähler von Der kurze Brief zum langen Abschied, sind nicht nur Leser, von deren Lektüren erzählt wird. Sie versuchen auch, sich ihre literarischen Helden zum Vorbild zu nehmen, ja sogar, wie Gregor Keuschnig, der in Die Stunde der wahren Empfindung „die einmalige, noch nie erzählte Begebenheit“ für sich sucht, literarische Gattungsmuster, in seinem Fall das der Novelle, zu leben. Auch sein Verständnis des eigenen Schreibens, das solchen Konstruktionen zugrunde liegt, hat Handke wesentlich in der Auseinandersetzung mit bestimmten Autoren entwickelt. Exemplarisch zeigt das seine Kafka-Lektüre, die mit einem zentralen poetologischen Konzept verbunden ist, dem des ,puren Erzählens‘, das seit den späten 70er Jahren sein Werk zunehmend bestimmt. Als Motto für diese produktive Lektüre könnte eine das Augustinus’sche „Tolle lege“ fortführende Aufzeichnung aus Vor der Baumschattenwand nachts stehen: „Nimm und lies, lies und gib“.
2.
Dass Handke in einem starken Sinn ein Leser Kafkas ist – ähnlich wie etwa Martin Walser oder Peter Weiss –, ließ schon sein früher Erzählungsband Begrüßung des Aufsichtsrats erkennen, in dem es einen Text mit dem Titel Der Prozeß gibt. Das war und ist ein einigermaßen ungewöhnliches Unterfangen: dass ein junger Autor den Roman eines mittlerweile als klassisch angesehenen Autors wiedergibt und dabei in eine nicht sehr umfangreiche Erzählung verwandelt. Nicht nur widerspricht ein solcher Versuch den geläufigen Vorstellungen von Originalität. Er ist auch von einem beträchtlichen Risiko des Scheiterns begleitet, insofern er den Vergleich mit einem großen Werk standhalten muss. Den Versuch dennoch zu unternehmen, zeugt von einem beträchtlichen künstlerischen Selbstbewusstsein. Die der Erzählung vorangestellte Widmung „für Franz K.“ könnte daher sogar so verstanden werden, dass die Nacherzählung, gleichsam als ein fiktiver freundlicher Ratschlag unter Kollegen, dem Verfasser des fragmentarischen Originals bedeuten solle, wie es besser zu machen gewesen wäre.
Doch Handkes Erzählung hat nichts von Anmaßung und Herablassung, auch nichts von einer Kontradictio oder einer Parodie. Sie distanziert sich nicht von Kafka, folgt vielmehr der Vorlage kompositorisch, aber auch stilistisch, in den durchgegliederten Hypotaxen. Zitierte Sätze, an denen Handke allenfalls kleine Veränderungen vornimmt, heben sich kaum von seinen eigenen ab. Die größte Abweichung der Erzählung vom Roman liegt im Umfang.
Die Kürze der ‚Nacherzählung‘ von gut einem Dutzend Seiten verdankt sich dem für sie grundlegenden Verfahren der Auslassung. Handke bewahrt zwar im Wesentlichen die Handlung des Romans, erwähnt auch die wichtigsten Figuren. Aber er strafft die Fabel und verzichtet auf viele Details in der Beschreibung von Räumen und Personen. Auch manche Situationen, etwa die Begegnung K.s mit dem Sohn des Hausmeisters und der Besuch bei Frau Graubach am Ende des ersten Tages, fallen ganz weg. Das gibt der Erzählung größere Stringenz.
Mit der Auslassung aufs engste verbunden ist das andere Verfahren, dessen sich Handke in seiner Nacherzählung bedient: die Konzentration. Das lässt besonders die Schlussszene im Steinbruch erkennen. Handke zitiert wiederum ganze Sätze Kafkas, vor allem den berühmt gewordenen letzten. Das Hantieren mit dem Messer, als Vorbereitung der Hinrichtung, übernimmt er und fügt dem Motiv die Annahme der beiden Henker hinzu, „K. werde zugreifen und ihnen die Arbeit abnehmen“. Doch die anschließenden Fragen und Überlegungen K.s, die Kafka in erlebter Rede mitteilt, führt Handke knapp auf den Punkt: „K. dachte jedoch nicht daran. Er erschien ihm wie eine Rechtfertigung, daß er sie gewähren ließ. Viele Fragen stürmten noch auf ihn ein. Die Zeit schien ihm still zu stehen.“ Handke akzentuiert durch die Raffung der Gedanken die Geste K.s: seine Weigerung, an der eigenen Hinrichtung mitzuwirken.
Wie wichtig ihm diese Haltung war, hat er noch 14 Jahre nach der Entstehung seiner Prozeß-Erzählung betont. Als er 1979 den Franz-Kafka-Preis erhielt, würdigte er den Schluss des Romans als eine Menschheitserzählung:
Es gibt in den Schriften der Völker seit Anbeginn keinen zweiten Text, der den Machtlosen besser dabei helfen kann, in Würde und zugleich Empörung einer als Todfeind erfahrenen Weltordnung standzuhalten, als den Schluß des Romans „Der Prozeß“, wo Josef K., der Held, zum Geschlachtetwerden weggezerrt wird, die höhnisch verschleppte Hinrichtung sogar selber vorantreibt und es dann doch, heroisch triumphierend, unterlässt, den zwei Herren, die über ihn hinweg einander das Messer reichen, die Henkershandlung abzunehmen.
Trotz der Verbeugung vor Kafka als Anwalt der „Machtlosen“ versucht Handke in seiner Dankes-Rede zu zeigen, „wie sich meine Schreib-Versuche von dem Werk Franz Kafkas unterscheiden müssen“. Auf diese Weise erweitert er seine Leser- um seine Schriftsteller-Perspektive. Den Unterschied zwischen sich und Kafka als Autor sieht er in ihrem verschiedenen Verhältnis zur Welt begründet. Für Kafka stelle sie „eine bösartige Übermacht“ dar, während ihm selbst „die Schöpfung zuweilen doch schon wieder als eine Herausforderung erscheint, die ich vielleicht, vielleicht sogar auf (meine) Dauer bestehen kann“. Mit der Rede von der Schöpfung deutet der katholisch erzogene Handke eine andere Haltung zur Welt an, als sie dem jüdischen Atheisten Kafka möglich ist. Damit verbindet er schließlich noch einen anderen, universalistisch-ästhetischen Anspruch: Er sei, sich „bemühend um die Formen für meine Wahrheit, auf Schönheit aus – auf die erschütternde Schönheit, auf Erschütterung durch Schönheit; ja, auf Klassisches, Universales, das, nach der Praxis-Lehre der großen Maler, erst in der steten Natur-Betrachtung und -Versenkung Form gewinnt“. In solcher ‚Betrachtung und Versenkung‘ sind für Handke erst „die flüchtigen Augenblicke eines ja als Gesetz erfahrenen ANDEREN Lebens“ erfahrbar.
3.
Diese Poetik und die ihr entsprechende literarische Praxis sind auf Kafka zunächst in der Negation bezogen – und zwar so, dass Handke sein Scheitern bei der Suche nach einer „erfinderische[n] Sprache“ in einer Zeit schöpferischer Krise reflexhaft als „Kafkas Rache!“ und Kafka selbst als seinen „Widersacher“ empfindet. Doch trotz der Unterschiede ihres Weltverhältnisses versucht Handke, Kafka für sein Streben nach „einem sanft nachdrücklichen Seins-Entwurf“ in Anspruch zu nehmen. Auch Kafka habe nämlich ein „Erlösungsspiel“ entwerfen wollen, am Ende des Verschollenen mit dem Naturtheater von Oklahoma. Das mag eine eigenwillige Deutung sein, der man sich nicht anschließen muss, und doch ist Handkes Bemühung um ‚Betrachtung und Versenkung‘ in einer wesentlichen Hinsicht auf Kafka zurückführbar.
Zu Beginn seiner Rede erwähnt Handke, dass Kafka ihm „im ungewollten, außerordentlichen Phantasieren“ als „anonymer Umriß immer wieder lebendig wird, als Zimmermaler, der nebenan die Wände streicht, als Kranführer in einer gelben Kabine, als am Wegrand sitzender Schüler“. Denn Kafka habe „mit seiner liebevollen Sprache diese Namenlosen wahrnehmbar gemacht und bewegt sich nun wie für alle Zukunft aufmerksamkeitsfördernd mit ihnen mit“. Das scheint für Handke letztlich das Wegweisende an der detailgenau beschreibenden Prosa Kafkas zu sein: dass sie Aufmerksamkeit fördert, die dann, jenseits vorgefasster Vorstellungen, Augenblicke eines anderen Lebens in einer Art religionsloser Mystik aufzuspüren vermag.
4.
Mit diesem Gedanken holt Handke am Ende seiner Rede das große Lob ein, das er Kafka am Anfang, gleich im ersten Satz, gespendet hat: „Franz Kafka“, schreibt er, „ist mir Zeit meines Schreiblebens, Satz für Satz, der Maßgebende gewesen“. In Handkes Deutung wird Kafka allerdings zu einem „Lehrer“, der ganz in „seiner friedlichen Lehre“ aufgeht:
Dieser Dichter ist unser großer Lehrer, der aber, im Unterschied zu den meisten anderen Menschheitslehrern, etwa den Religionsstiftern und den Philosophen, schon jetzt, wenig mehr als fünfzig Jahre nach seinem Tod, dabei ist, mit seiner Person ganz in seiner friedlichen Lehre aufzugehen: in seiner Kunst, die nichts als eigensinniges, gewissenhaftes, pures Erzählen ist.
Was Handke unter ‚purem Erzählen‘ versteht, hat er an dieser Stelle nicht erläutert. Es ist nur zu erschließen. Dass es ‚eigensinnig‘ sei, dürfte heißen, dass es keinen anderen Zwecken unterworfen ist, nicht ideologischen, aber auch nicht literarischen, wie sie etwa überkommene Gattungsmuster darstellen.
Bei Handke hat sich ein solches Erzählen erst nach und nach entwickelt. Es folgt auf das Geschichten-Erzählen seiner ersten erfolgreichen Romane und auf das lehrhafte Erzählen seiner ‚Versuche‘, die mit der Lehre der Sainte-Victoire einsetzen. Es ist von Handlungsdarstellung weitgehend befreit, und es ist nicht primär psychologisch. Es ist weniger ein Erzählen von Geschichten und Personen als ein Erzählen von eigenen existenziellen Erfahrungen. Seine Form ist die Miniatur. Denn dieses ‚pure Erzählen‘ gilt durchweg einem nunc stans: einer punktuellen intensiven Wahrnehmung, die Versenkung in ein Anderes ist. In ihr erfährt sich das Ich nicht mehr als Gegenüber, sondern als Teil der Welt; es ist in ihr aufgehoben, im Frieden mit ihr und sich.
Leitend geworden ist dieses Erzählkonzept in Noch einmal für Thukydides, einem der schmalsten und dichtesten Bände Handkes, der 2007 zuerst erschienen ist. Er erzählt in kurzen Texten von der eingehenden Wahrnehmung durchweg klein oder unbedeutend scheinender Dinge: von Tauben in Pazin und einem Schuhputzer in Split, von Kopfbedeckungen in Skopje und Glühwürmchen in Friaul, von einem Berg bei Salzburg und einem Baum in München, und das in einer klassisch strengen, traditionell erhabenen Gegenständen vorbehaltenen Sprache, die sich Handkes Anspruch auf universelle Schönheit verdankt.
Auf den Weg zu solchem Erzählen hat sich Handke allerdings schon viel früher gemacht. Der erste Schritt ist, partienweise, sein Tagebuch Das Gewicht der Welt, in dem er auch einzelne Erzählsätze gesammelt hat, ohne erkennbaren Bezug auf eine Geschichte: „Während wir redeten, zogen wir beide Muster ins Tischtuch“ oder „Ich sitze am Meer, ohne es zu brauchen“. Nicht zufällig führt Handke im Gewicht der Welt eine Auseinandersetzung mit Kafka, dessen Tagebuch er 1975 las. Zwei Sätze vor allem markieren diesen Prozeß.
Den einen: „Beim Lesen von Kafkas Tagebuch: ich merke, daß mich seine Klagen und Selbstbezichtigungen nicht mehr interessieren, nur noch seine Beschreibungen“, kann man als Hinweis auf das ‚pure Erzählen‘ in Kafkas veröffentlichten Tagebüchern auffassen. Tatsächlich beginnen sie, in der Edition Max Brods, mit einem solchen Erzählsatz: „Die Zuschauer erstarren, wenn der Zug vorbeifährt.“ Auch Kafka notierte sich einzelne Sätze, die für sich stehen können und nicht Eingang in größere Erzählungen finden müssen. Aber es ist erst Handke gewesen, der ihnen ein eigenes poetologisches Gewicht verliehen hat.
Der zweite Satz lautet: „Kafka lesen: man muß sich seine Sätze nicht merken (man kann seine Sätze sofort vergessen, das ist das Schöne an ihnen, sie bleiben doch da, auch wenn man sie vergißt)“. Nur scheinbar entfernt sich Handke mit diesem Satz noch weiter von Kafka. Tatsächlich versucht er vielmehr, dessen Aufgehen in seiner Lehre zu fassen, wie er es verstanden hat: Er blieb für ihn da, auch wenn seine Sätze vergessen waren, und was von ihm weiter wirkte, zumindest auf ihn, war die Übung der Beschreibung und Erzählung. Das mag auch der Satz in Vor der Baumschattenwand nachts meinen: „Kafka ist nicht gestorben“.
5.
Schon in den 70er Jahren finden sich auch in Handkes Romanen Passagen ‚puren Erzählens‘. In Der kurze Brief zum langen Abschied verliert sich der Ich-Erzähler in Indianapolis im Anblick einer Akazie, die „sanft schwankend mit jedem Atemzug näher“ rückte und ihm „schließlich bis in die Brust hinein“ drang. Mit einem „willenlosen Wohlgefühl“ spürte er, „wie die Bewegung der Zypresse die Funktion des Atemzentrums“ übernahm, „mich in sich mitschwanken ließ, sich von mir befreite, wie ich aufhörte, ein Widerstand zu sein“. Ein ähnliches Erlebnis der Versenkung in einen Gegenstand wird auch von Gregor Keuschnig erzählt, als er, auf einer Pariser Parkbank am Rande eines Spielplatzes sitzend, „drei Dinge“ erblickt: „ein Kastanienblatt; ein Stück von einem Taschenspiegel; eine Kinderzopfspange“, die „auf einmal“ zusammenrückten „zu Wunderdingen“. Durch dieses Erlebnis beginnt er endlich „wahrzunehmen“.
Von solchen in der Handlung nicht aufgehenden, sie nicht tragenden und nicht vorwärtstreibenden mystischen Erfahrungen von Dingen, nicht selten vollkommen alltäglichen, hat Peter Handke bis heute nicht aufgehört zu erzählen. Nach wie vor finden sie sich in seinen Aufzeichnungsbänden. Sie gehören aber auch als Episoden, allerdings durchweg akzentuierten, zum Repertoire seiner Romane. Nicht zuletzt durch sie ist er zu einem literarischen Existenzialisten geworden, „einem der letzten“, wie er in Vor der Baumschattenwand nachts notiert hat. Doch das ist längst nicht entschieden. Sein Schreiben macht das ‚pure Erzählen‘ mystischer Momente jedenfalls unverwechselbar in seinem existenziellen Ernst.
6.
Der Weg von Handkes Lektüre des Prozeß zum ‚puren Erzählen‘ nach Kafka ist weit. Es ist der Weg eines Schriftstellers, der sich im Lesen auch seiner selbst bewusst wird, und eines Lesers, der immer Schriftsteller ist, der auch beim Lesen sein eigenes literarisches Interesse verfolgt. Sein Schreiben setzt sich im Lesen fort und entwickelt sich aus ihm heraus, das Schreiben führt zum Lesen wie das Lesen zum Schreiben, das eine fördert das andere, ja verlangt nach ihm. So endet denn auch die Rede zur Verleihung des Kafka-Preises mit einer Beschwörung der Gemeinschaft von Schreibern und Lesern, die Handke in sich herstellt: „Bestärken wir einander, Schreiber und Leser, die Leser durch Erwartung und Vertrauen, die Schreiber durch Erhebung und Zuneigung.“
Der Essay greift, mit freundlicher Genehmigung des Metzler Verlages, auf die Anmerkungen zu Handkes Rede bei der Verleihung des Franz-Kafka-Preises in Dieter Lamping: Kafka und die Folgen. Stuttgart 2017 zurück.