Schlafen bei der Großen Mutter

Peter Handkes Prosaarbeit „Die Wiederholung“ (1986)

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn dieses Buch wahr ist und wahrhaftig, dann ist der Verfasser dem Wahnsinn entkommen, haarscharf, ist dem Rand des Wahnsinns entlanggelaufen in hoher Geschwindigkeit, und wäre er stehengeblieben, es hätte ihn geschwindelt, und er wäre abgestürzt. An der Wahrhaftigkeit des Buches zu zweifeln besteht kein Grund. Der Leser aber sollte die tödliche Möglichkeit, um die herum es geschrieben ist, kennen, wenn er zu lesen beginnt. Nimmt er nämlich das Buch als das eines Gesicherten, eines soliden, anerkannten Belletristen unserer Tage, der ordnungsgemäß im Herbst seinen neuen Band vorlegt, dann wird er sich ärgern. Schöne Passagen, wird er sagen, gibt es da wohl, aber daneben diese Feierlichkeiten, die plötzlichen sakralen Gesten – als ginge man Brot kaufen, und der Bäcker schlägt einem die Ware in ein Stück Brokat ein. Man muß es so kraß sagen, weil es mit Sicherheit so kraß erlebt wird, und nicht nur von den Schnöden, den Skeptischen und Abgebrühten.

Wenn also hinter dem Buch nicht wirklich eine jahrelange Todesgefahr steht, dann ist es ärgerlich und nichts weiter. Wer soll entscheiden? Der Text kann es nur allein. Er ist selbst die letzte Instanz. Mit Zusatzinformationen ist da nichts zu machen. Einem Buch, das solche braucht, ist ohnehin nicht zu helfen. Und nun zeugt dieser Text tatsächlich fortwährend und mit einer unmittelbaren Beweiskraft von radikaler Bedrohung. Das geschieht nicht nur dort, wo er diese ausdrücklich thematisiert und schildert – da könnte ja einiges kunstvoll zurechtgemacht sein –, nein, am unheimlichsten ist er gerade dann, wenn er sich am harmlosesten gibt, in den Beschreibungen der Dinge und Einzelheiten. Da wird die banalste Sache singulär, wird zu einer Einmaligkeit und unvergleichbar. In einer Weise zur Sensation gesteigert, erscheint bei Peter Handke die Bagatelle, das viele Zeug, das doch einfach nur so um uns herum ist, daß man von der Ahnung gestreift wird, die Ordnung überhaupt könnte kippen und die Bagatelle plötzlich zur Mitte der Welt werden, und es stünde dann einer da, reglos, wie das autistische Kind, das sich ganz an seine Sache verloren hat, tagelang am gleichen Knopf, an der gleichen Spule die gleiche Bewegung macht und selber nichts mehr ist als die leere Hülle um dieses Ding herum.

Das ist die Miniaturform der Bedrohung, die das Buch im großen vor Augen führt. Langsam rollt es den Grundriß einer Existenz aus, des Kindes und des jungen Mannes Filip Kobal, dessen innere Beschaffenheit nicht nur von Natur aus wehrloser ist als die der anderen, sondern die auch durch die Struktur der Familie insbesondere dann durch den Loslösungsprozeß aus dem Regelsystem eines kleinen Dorfes im hintersten Kärnten immer ausgesetzter und sprachloser wird. Die Schutzwände, die er um sich hochzieht, drohen ihn endgültig einzusperren.

Von der Echtheit und dem Ausmaß dieser Not aus bemißt sich nun Legitimität des feierlichen Redens. Wer das eine in den Wind schlägt, dem wird das andere auf die Nerven gehen. Tatsächlich aber muß man bei diesem Buch, will man ihm gerecht werden, von den sakralen Sprachgebärden, die es wie eine schmale Fassung zusammenhalten, zurückschließen auf den vielfachen Schrecken, der sie hervorgerufen hat. Dann erst erscheinen ganz deutlich die beiden Pole, zwischen die alles gespannt ist. Man erkennt die Logik, die zwischen der mundtoten Panik und der schallenden Freiheit der Wörter waltet, erkennt und respektiert die Aufgabe, die dem priesterlichen Gestus zukommt. Wenn nämlich der Ausgangspunkt ein urtümlicher Schrecken ist, der in der Kindheit begonnen hat und von der Gegenwart laufend bestätigt wird, so ist der eigentliche Wille des Unternehmens doch nicht Klagen und Bezichtigen, auch nicht ein zorniges Gericht, sondern etwas viel Schwierigeres: Rettung. Dieses Buch ist auf Heilung aus. Es ist besessen vom Gedanken der Genesung. Es kommt daher im mächtigen Schub der einen Vorstellung: daß das Ausgedrehte wieder eingerenkt werden könne. Und das soll gutgehen, heute? Würde das Buch auftreten mit der Erklärung: Seht her, ich zeige euch, wie ihr davonkommt!, man müßte sich höflich bedanken und weitergehen, wie man es bei den Leuten tut, die einem an der Straßenecke ihre Flugblätter aufdrängen. Das Buch sagt aber nur: Seht her, ich bin davongekommen! Und dadurch geht es einen plötzlich an. Gerade in der borniert betonten Einmaligkeit dieses Rettungsweges steckt die Provokation, ihn auf seine Verbindlichkeit zu prüfen. Das Ergebnis, so ist anzunehmen, wird von Leser zu Leser verschieden sein; es zählt das im einzelnen auch weniger als der Vorgang selbst. Der Rettungsweg, wie sieht er aus? – Die Antwort verändert sich, je nachdem, ob man das Buch für sich oder als Fortsetzung von Handkes bisherigen Arbeiten betrachtet. Im zweiten Fall drängt sich vor allem der Vergleich mit der Erzählung „Der Chinese des Schmerzes“ von 1983 auf. Diese ist mit dem neuen Buch merkwürdig verzahnt. Sie exponiert einige seiner Leitvorstellungen, insbesondere, wenn auch noch ganz unauffällig, den Begriff „Wiederholung“. Dieser wird dort in einem kleinen Exkurs von seinen konventionell negativen Bedeutungen des Unproduktiven, Langweiligen oder Zwanghaften befreit und wie zu einem neuen Wort umgeschaffen. „Wiederholung“ bezeichnet nun die Möglichkeit, alles, was je großartig oder erschütternd war, neu zu gewinnen, sei’s aus der eigenen Vergangenheit, sei’s aus der Vergangenheit der ganzen geschichtlichen Menschheit. Und so, mit diesem besonderen Akzent, steht das Wort jetzt auch als Titel über der jüngsten Prosaarbeit.

Dennoch sollte das Buch erst einmal für sich allein genommen werden. Vergleiche und Bezüge verdecken zu rasch seine eigene Organisation. Diese ist einfach und großzügig. Sie erfüllt sich in ein paar langsamen, aber ausgreifenden Schritten. Den Auftakt gibt ein Märchenmotiv: Einer zieht aus, den verschollenen Bruder zu suchen. Dazu muß er über die Berge und in die Wüste, wo er dann ganz zuletzt, durch das leuchtende Phantom des Verschollenen hindurch, sich selbst entdeckt und – endlich – gelassen in Besitz nimmt. Bei dieser Wanderung des Zwanzigjährigen, die der Fünfundvierzigjährige erzählt, taucht ihm die Kindheit wieder auf, in wirren Splittern, und er muß nun zunächst überhaupt erst einmal die Fähigkeit gewinnen, sie zu „wiederholen“. Solche „Wiederholung“, im vollen Sinne des Wortes, geschieht allein über das Erzählen. Und so ist denn das Ganze zugleich der Bericht von der Geburt eines Erzählers, und der Rettungsweg, der Heilsweg, entdeckt sich als der Weg zur Sprache.

Sprache – aber wie begriffen! Wollte man die Spracherfahrung, das Sprachglück, die Sprachqual und die Sprachverzückung dieses Buches theoretisch erfassen, man müßte auf die Spekulationen Herders und Walter Benjamins zurückgreifen, auf ihr Nachdenken über die adamitische Sprache, über das erste Wortebilden des Menschen angesichts der jungen Schöpfung. Was Handke in der Mitte dieses Buches leistet, ist der spektakuläre Gegenzug gegen die legendären sprachskeptischen Manifeste der Moderne, den Chandos-Brief Hofmannsthals und dessen radikaleren Vorgänger, Nietzsches Traktat „Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“.

Und dabei ist das alles gleichzeitig Literatur in der einfachsten Bedeutung des Wortes, ist weit weniger essayhaft als noch der „Chinese des Schmerzes“, ist konkret, plastisch, angeschaut, lebt in Szenen und Figuren und fabelhaften Landschaften. Eine Syntax schreibt dieser Autor, eine der höchstentwickelten heute, durchgebildet und wandelbar, dabei unaufdringlich, wie spielend noch in den gespanntesten Konstruktionen und ganz ohne den penetranten Kunststückcharakter, den der Satzbau in jüngerer Zeit bei vielen Schriftstellern angenommen hat. Ein autobiographisches Buch also alles in allem? Ganz gewiß und ganz gewiß auch wieder nicht. So bedrängend die Realität der landproletarischen Kindheit, der Schulen und Internate erscheint, bedrängend, wie sie nur ein Augenzeuge vermittelt, so deutlich ist wiederum alles Teil eines überlegten architektonischen Gefüges, ist also, mit dem einzig richtigen Wort, Roman. Die Figur des Vaters  zum Beispiel, die immer in ganz knappen Szenen erscheint, bei höchster Verdichtung allerdings, in einer flauberthaft  leuchtenden Prägnanz, sie ist so gewiß erfunden, wie die Erfahrung, aus der heraus sie sich gebildet hat, beängstigend privat anmutet.

Diese ständige Bewegung vom Dokumentarischen in die freie Gestaltung wird vom Text selbst einmal zur Sprache gebracht: „… deshalb ist mir die Erinnerung kein beliebiges Zurückdenken, sondern ein Am-Werk-Sein, und das Werk der Erinnerung schreibt dem Erlebten einen Platz zu, in der es am Leben haltenden Folge, der Erzählung, die immer wieder übergehen kann ins offene Erzählen, ins größere Leben, in die Erfindung.“

Auf diese Weise vom Erlebten genährt und doch erst durch die Freiheit des Erfindens in eine zwingende Gestalt gebracht, sind die fraglosen Höhepunkte des Buches: die Nacht im Eisenbahntunnel zwischen Österreich und Jugoslawien, wo er wie in reißenden Wehen gleichzeitig die Sprachnot und die Möglichkeit der Rettung im unablässigen Erzählen erfährt; die Geschichte vom Garten des Bruders, eine Idylle von vergilischer Konkretheit, subtil anspielend an den Mythos vom Paradies, und gleichzeitig das ganz handfeste Vorbild für richtige Arbeit – Handarbeit, Denkarbeit, Dichterarbeit; die Tage auf der südlichen Alp, wo er nur das slowenische Wörterbuch des Bruders liest, stundenlang, und dabei, geisterhaft berührt, jene älteste, eben adamitische Verbindung zwischen der Sprache und den Dingen erlebt; schließlich das große Finale, in den Dolinen des Karstes, einer surreal beschienenen Traumlandschaft, Vision einer eingerichteten, versöhnten Erde, eines Mutterlandes aus gewaltigen Schößen, das doch mit naturwissenschaftlicher Präzision beschrieben wird und wo zuletzt die Lehre vom „Erzählen“ als der eigentlichen Rettungsarbeit an der bedrohten Welt – Handkes Glaube, auf den er sich getauft sieht – zwingend verknüpft erscheint mit dem Wohnen, dem Hausen, dem Leben und Schlafen bei der Großen Mutter.

Deshalb, das darf man vielleicht noch anfügen, ist dies auch ein Buch ohne Liebesgeschichte.

Peter Handke: „Die Wiederholung“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1986. 350 S., geb., 34,- DM.

Hinweis der Redaktion: Die Rezension ist zuerst erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. September 1986. Nachdruck in: Deutsche Literatur 1986. Hg. von Volker Hage. Stuttgart: Reclam 1987, S. 187-203. Wir danken Peter von Matt für seine Genehmigung zur erneuten Veröffentlichung in literaturkritik.de.

Titelbild

Peter Handke: Die Wiederholung.
Suhrkamp Verlag, Berlin 1986.
333 S. , 34,00 EUR.
ISBN-10: 3518025805
ISBN-13: 9783518025802

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