Zwischen Rheinländern und Berlinern

Wilhelm Speyers „Charlott etwas verrückt“ in einer Neuausgabe

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ja, dies ist nicht der erste Nachdruck von Wilhelm Speyers Charlott etwas verrückt, sondern der zweite. Und schon auf den ersten hat literaturkritik mit einer Besprechung hingewiesen. Aber dieses Buch hat jede Aufmerksamkeit verdient. Und dass es zugleich bei der Re-Lektüre nach dem 2008 veranstalteten Nachdruck, trotzdem einen anderen Eindruck macht, eben nicht zuletzt, weil zwischen beiden Drucken fast anderthalb Jahrzehnte liegen und sich die Welt seitdem weitergedreht hat. Wilhelm Speyers Roman Charlott etwas verrückt, 1927 bei Ullstein erschienen, 2008 bei Aisthesis nachgedruckt, bleibt auch 2022 ein Ereignis, aber das Ereignis hat sich ein bisschen verändert.

Sicher, Charlott ist ein ungemein vitaler, heiterer und eben auch emanzipativer Roman. Die Auftaktsequenz, in der die Protagonistin mit 130 Sachen über die Avus braust und ihrem (männlichen) Mitfahrer Holk die Haare vor Angst zu Berge stehen, ob des Wagemuts der Fahrerin, bleibt eine bis heute amüsante und zugleich aufschlussreiche Lektüre: Denn in dieser Fahrt kommt die weibliche Selbstbehauptung zu sich selbst, gerade weil sie eine vorgeblich genuin männlich konnotierte Tätigkeit (das Lenken eines Autos und die Begeisterung für die Geschwindigkeit und Technik), und gerade weil sie von einem Mann erzählt wird. Auch wenn im Text immer wieder die zeitgenössischen Geschlechterklischees, die so weit von unseren heutigen nicht entfernt sind, an- und durchgespielt werden, setzt der Anfang den Schluss- und vorläufigen Höhepunkt dessen, was Frauen in den 1920er Jahren erreichen konnten, auch wenn es dafür ein phantasmatisches Narrativ brauchte: Niemand kann dieser Frau (oder Frauen überhaupt) etwas. In Anspruch nehmen, was ihnen Männer vielleicht vorenthalten wollen. Und es ist bemerkenswert, dass in der Erzählwelt der Charlott sich auch keine Stimme erhebt, die Frauen zurück in Küche und Kirche und zu Kindern verweist.

Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass Speyers Roman – für den Unterhaltungsroman seiner Gegenwart gattungstypisch – in jenen gehobenen Gesellschaftsschichten spielt, in denen Geschlechterdifferenzen zwar immer noch eine Rolle spielen (wenngleich die Rollen hier anders ausgezeichnet sind), aber niemand es wagen würde, sich dem Willen dieser Frauen, die hier das Sagen haben, zu widersetzen. Dazu sind die Männer in sie viel zu verliebt, was in der Welt der Erzählung aber wunderbar funktioniert, auch wenn das für uns alles kein Grund mehr ist.

Und auch wenn Geld in dieser mondänen Schicht keine Rolle spielt – der gute Ruf ist besser als jedes Zahlungsmittel –, wird die Handlung des Romans durch einen, wenngleich erflunkerten Geldmangel ausgelöst. Zur Erinnerung: Der Ex-Mann Charlotts gibt vor, all seinen Reichtum verloren zu haben. Um ihn vor der Verarmung zu retten, entwickelt Charlott den Plan, ihrer Erbverwalterin Cornelia das ihr erst in einigen Jahren zustehende Erbe vorzeitig auszuzahlen. Immerhin anderthalb Millionen in harter Währung. Dafür kann man schon mal einen Tod sterben, was Charlott auch vorgibt in Sowjetrussland getan zu haben. Die Totgeglaubte reklamiert anschließend – verkleidet als ihre eigene Erbin – das Erbe von der bösen Mittvierzigerin ein. Der Coup wird zwar von Cornelia durchschaut, aber sie ist von der Chuzpe Charlotts derart angetan, dass sie die anderthalb Millionen dann doch auszahlt, nach Berlin kommt (wo sich neben London und Paris alles abspielt, wo sonst) und die Sensation überhaupt wird. Alle sind glücklich, der neue Gatte gesteht seine Flunkerei (er ist eben gar nicht verarmt, sondern wollte Charlott nur wieder an sich binden), ein Tränlein kann verdrückt werden und die Geschichte ihr Ende finden.

Das mag ein wenig albern sein, aber wer wirft hier den ersten Stein? Der kann ihn auch in Richtung Musils Mann ohne Eigenschaften werfen, dessen Plot auch nicht gerade als großer Wurf bezeichnet werden kann.

Anders gewendet, es macht einfach eine Menge Spaß. Und dennoch bekommt die Lektüre heute doch noch einen anderen Kanten, und das hat mit der seit 2007 fortgeschrittenen Diskussion um die Emanzipation von Frauen im 20. Jahrhundert zu tun, mit der die Radikalität und die radikale Widersprüchlichkeit der Geschlechterrollen der Zeit offengelegt werden. Dieser Roman zeigt die Widersprüche zwischen traditionellen und neuen Rollen, zwischen Anspruch und hartnäckigen Restbeständen der vormodernen Kultur mit einer Unbefangenheit und Offenheit, dass man ihn dafür nur lieben kann und ihn dafür nutzen sollte.

Anders hingegen der Blick auf jene Brüche, die eine eher postkoloniale Lektüre des Textes bloßlegt. Denn Speyers Charlott zeigt, was die Wahrnehmung und Bezeichnung von Schwarzen in der Lebenswelt dieser Reichen angeht, genau jene Phänomene, die für die zeitgenössische Gesellschaft typisch sind: Wenn die Berliner Hautevolaute tanzen geht, dann zur „Negermusik“, und der schwarze Matrose, der bei der Schiffsüberfahrt extensiv zu tanzen versteht, ist zeittypisch immer noch ein „Neger“, kein Afrikaner, kein Schwarzer, erst recht kein Afroamerikaner, weil der Begriff in der Zeit keine Verwendung findet (die anderen schon). Und selbstverständlich tanzt da ein schwarzer Matrose.

Dass die Begriffswahl naiv und unverfänglich ist, will man nicht recht glauben, allein schon, weil alternative Bezeichnungen verfügbar waren und Speyer kein Dummkopf war. Allerdings ist sie konzeptionell konsequent, worauf die in Variationen wiederkehrende Kette von den „Negern, Kokotten, Angelsachsen, Südamerikanern, Rheinländern und Berlinern“ deutet. Ja, heißt das, die Zeit hat kein unbefangenes, nicht-diskreditierendes Verhältnis zu Schwarzen, aber auch nicht zu Berlinern und Rheinländern – was, zugestanden, nicht dasselbe ist.

Der Bielefelder Aisthesis-Verlag hat die Charlott eben in einer Neuauflage, dieses Mal in einem schmökerfreundlichen Format herausgegeben. Das Buch liegt also leicht in der Hand, lädt zurr Lektüre unterm Sonnenschirm oder beim Nachtlicht ein, und bietet doch allerhand Bedenkenswertes und Bedenkliches über die gar nicht so leichtlebigen zwanziger Jahre.

Titelbild

Wilhelm Speyer: Charlott etwas verrückt.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2022.
270 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783849818456

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