Die Mythen der Neuen Sachlichkeit

Feiert die Massenkultur in der Neuen Sachlichkeit ihre Geburt? Auf diese und weitere Fragen zum Zeitgeist der Zwanziger Jahre sucht der Ausstellungskatalog „deutschland / 1920er jahre / neue sachlichkeit / august sander“ Antworten

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sollte nicht besser von der Neuen Prächtigkeit die Rede sein? Aber die gab es tatsächlich, zumindest als „Schule der neuen Prächtigkeit“, angeführt in den 1970er Jahren von Johannes Grützke, Matthias Köppel und einigen anderen. Realistisch, wenn man so will, war deren Kunst wie das, was Kolleg*innen fünfzig Jahre vorher auf die Leinwand brachten. Und die hießen beispielsweise Christian Schad, Otto Dix oder Jeanne Mammen, um nur einige Namen herauszugreifen. Anzunehmen ist jedoch, dass ihr Realismus unterschiedlichen Bewusstseinslagen folgt, die sich aus ebenso unterschiedlichen sozialen und politischen Zeitkontexten ergeben. Sein bestimmt das Bewusstsein, so heißt die alte marxistische Regel. Dennoch können, wie ebenfalls zu erkennen ist, ästhetische Antworten zu vergleichbaren Ergebnissen führen, die dort sachlich und hier prächtig genannt werden und beinahe so etwas wie Kontinuität suggerieren. Die Grenzüberschreitungen der sogenannten Wilden Zwanziger scheinen jedenfalls mit dem Hedonismus der Siebziger zu korrespondieren.

Und was ist nun so prächtig an der Neuen Sachlichkeit? Auf jeden Fall all das, was der Ausstellungskatalog in ästhetischer Fülle zur beeindruckenden Zeitgeist-Schau versammelt: Vom Bauhaus zur Industriefotografie und Technikfaszination über die Malerei, mal magisch, mal unbarmherzig und kalt, dann weiter zu August Sanders genialer Porträtfotografie und zu Brecht und Weill, die das Unsentimentale im Drama und in der Musik zum neuen Gefühl erklären (Stichwort: „Glotzt nicht so romantisch!“), dazwischen der Blick auf seelenlose Maschinenmenschen, und weiter zur Unterhaltungskunst mit Revue und Tiller-Girls, androgynem Frauenbild, Amerikanismus, Subkultur und Subproletariat. Neu ist das alles nicht, aber anzumerken wäre, dass es sich hier um eine Bilanz handelt, die in Paris am Centre Georges Pompidou aufgemacht wurde, also einem Blick von draußen folgt. Es ist die erste große Retrospektive zum Thema in Frankreich überhaupt und auch an so zentralem Ort, verbunden mit dem Versuch einer Neubewertung der kulturellen Produktion der Weimarer Republik.

Die alte Magie ist geblieben: Auf dem Cover prangt, ja glüht förmlich in dunklen Rottönen die Tänzerin Anita Berber im hautengen, hochgeschlossenen Kleid mit Augen wie schwarzen Höhlen, darin zwei Pupillen mit stechendem Blick. Die Verruchte in Persona, gemalt von Otto Dix. Die rechte Hand in die Hüfte gestemmt, die linke weiter unten auf dem Oberschenkel liegend, als würden beide Hände das sündige Areal markieren, den Unterleib dieser rothaarigen Frau mit dem seltsam kleinen verkniffenen Mund, den der Lippenstift zu einem nachgerade aberwitzigen Herzchen formt. Sie ist auf dem Bild erst 26 Jahre alt und sieht bereits verlebt aus. Schon drei Jahre später wird sie tot, wird ihr Leben förmlich verbrannt sein. Ihre Biografie ist eine Geschichte der Skandale, eines exzessiven Lebens, eine einzige sexuelle Feier und Lebensgier. Das Bild gehört im Katalog zur Abteilung „Überschreitungen“. Natürlich, wo sonst passt eine solche Frau hinein, die so perfekt die Femme fatal lebte!

Was überschreitet Anita Berber? Die Grenze der Anständigkeit? Die guten Sitten? Das Maßvolle? Die Moral? Gewiss. Woran zu erkennen ist, wie eng die moralischen Grenzen in der Gesellschaft gezogen sind und dass es deshalb immer einer Doppelmoral bedarf, denn neben denen, die das verbotene Lustprinzip leben gibt es sehr viele, die diese Überschreiter*innen genießen. Anders gesagt, das vermeintliche Laster hatte schon immer große Kundschaft. Wie sonst hätte Anita Berber so erfolgreich, so begehrt sein können in den berühmten Zwanziger Jahren, die mal wild, mal golden tituliert werden. Nicht zu übersehen ist bei all dem, wie sehr sie auch ein Klischee verkörpert, das nicht sie, sondern eine patriarchale, sexistische Kultur zu verantworten hat. Also auch das steht für eine sonst streng rationalistisch und funktional denkende, nüchterne Neue Sachlichkeit.

Die Neue Sachlichkeit ist künstlerisch nichts Homogenes – das ist eindeutig. Sie hat viele Antworten gefunden und sich dabei unterschiedlichster Mittel bedient. Unverkennbar ist ihr Hang zum Mythischen. Gerade das beschriebene Bild von Otto Dix vermittelt das, aber auch dort, wo Rationalität vorherrschen, lassen sich mythische Urgründe ausfindig machen. Adorno und Horkheimer haben das in der Dialektik der Aufklärung in seiner Vertracktheit dargelegt. „Daß der hygienische Fabrikraum und alles, was dazu gehört, Volkswagen und Sportpalast, die Metaphysik stumpfsinnig liquidiert, wäre noch gleichgültig“, lesen wir darin, „aber daß sie im gesellschaftlichen Ganzen selbst zur Metaphysik werden, zum ideologischen Vorhang, hinter dem sich das reale Unheil zusammenzieht, ist nicht gleichgültig.“ Hier ist zwar nicht explizit von der Neuen Sachlichkeit die Rede, aber deren Nobilitierung der Technik und Liebe zum Funktionalen sind da wohl angesprochen, wie Adornos Fragment gebliebene Ästhetische Theorie dann mit direktem Bezug auf Sachlichkeit in der Kunst später zu verstehen gab. Ernst Bloch kommentierte die Funktion der neuen Kunst in Erbschaft dieser Zeit so: Sie sei der „Arzt am Krankenbett des Kapitalismus“. Die Frage ist überhaupt, gibt es neue Erkenntnisse über die kurze Ära der Neuen Sachlichkeit?

Es sieht nicht so aus, als lieferten die zahlreichen Katalogbeiträge wirklich Neues an Erkenntnissen, das beispielsweise über Helmuth Lethens grundlegende Studie Neue Sachlichkeit 1924 – 1932 von 1970 hinausginge. Lethen allerdings beschränkte sich damals auf die Literatur des sogenannten „Weißen Sozialismus“ und klammerte bewusst (warum auch immer) bildende Kunst und Architektur aus. Die Stichworte in den zeitgenössischen Theorien wiederholten sich in den späteren kritischen Auseinandersetzungen. So wurde Sachlichkeit zum Normbegriff einer industrialisierten Welt. Mit deren Akzeptanz würden gleichsam die Herrschaftsverhältnisse konsolidiert, Mensch und Ding nivelliert, lautete die Kritik damals wie heute. Ausgelöscht werde das Private zugunsten einer Macht der Tatsachen, der Faktizität. Mit der Neuen Sachlichkeit ist zugleich ein Ende der subjektivistischen „Ismen“ in den Künsten erreicht.

Im Übrigen ist der Begriff sachlich einer dieser schwer übersetzbaren deutschen Begriffe, wie es im Katalog heißt. Insofern könnte Heinrich Mann recht haben, wenn er Diederich Heßling im „Untertan“ sagen läßt: „Sachlich sein, heißt deutsch sein!“. Im Französischen bedient man sich des Begriffs „Nouvelle Objectivité“. Interessant auch die Tatsache, dass es bei der Bezeichnung Neue Sachlichkeit sich um einen authentischen Begriff aus der Zeit handelt, kreiert von Gustav F. Hartlaub, dem damaligen Direktor der Kunsthalle Mannheim, wobei die Ästhetik des Sachlichen sich als geradezu omnipräsent erwies – die Malerei ebenso beeinflusste wie die Literatur, die Architektur, die Inneneinrichtung und das Design, die Musik, den Sport, die Zeitungen und den Film. Nicht unerwähnt sei die besondere Fokussierung des fotografischen Werks von August Sander, das unter dem Titel „Menschen des 20. Jahrhunderts“ bekannt wurde. Die acht thematischen Abschnitte der Ausstellung versuchen eine Konkordanz mit den soziokulturellen Themen bei Sander herzustellen. Verblüffend, wie passgenau die fotografierten Gesichter aus jener Zeit mit dem Blick der Maler*innen übereinstimmen.

Wer eine Gesamtschau über die Vielfalt des kulturellen Ausdrucks zwischen 1925 und 1929 in Deutschland gewinnen möchte, der wird mit diesem Katalog opulent bedient und erhält mit zahlreichen Textbeiträgen instruktive Erklärungen zu stilistischen und Zeitgeist-Fragen. Die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts erweisen sich so als ein permanenter Schlagabtausch der Extreme, der gesellschaftlichen Verwerfungen und schließlich der Zivilisationsbrüche mit der NS-Diktatur ante portas.

Titelbild

Angela Lampe: Die neue Sachlichkeit – Deutschland – 1920er Jahre – August Sander.
Schirmer/Mosel Verlag, München 2022.
320 Seiten, 78,00 EUR.
ISBN-13: 9783829609449

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