Jagd auf den Zeitgeist

Gerhard Stadelmaier lässt uns in „Deutsche Szenen“ wissen, was ihm so alles sauer aufstößt, und verliert sich gern in Kleinlichkeitskram

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gerhard Stadelmaier war lange Zeit Chef-Theaterkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und löste damals den kongenialen Georg Hensel ab. Er zählte bald zur Riege der „Großkritiker“, die es heute so wohl nicht mehr gibt, abgesehen davon, dass das naturgemäß (hier passt Thomas Bernhards Lieblingswort wie bestellt) eine rein männliche Veranstaltung war. Ja, seine Kritiken vermisse ich durchaus, aber noch mehr die Zeit, in der eine Theaterkritik im Essayformat erscheinen konnte, für die beispielsweise ein Benjamin Henrichs in der ZEIT berühmt-berüchtigt war. Das ZEIT-Feuilleton ist, nebenbei bemerkt, inzwischen so mickrig geworden, dass ich mir Mühe geben muss, es nicht versehentlich zu überblättern. Nicht dass ich mich damals auf Stadelmaiers Urteil hätte verlassen können, aber seine Wortschöpfungen waren oft die reinste Lust.

Für meinen Geschmack war er immer dann am besten, wenn er Schauspieler*innen huldigte, denn dann gönnte er sich eine Verliebtheit, an der nichts peinlich war, sondern alles berührte. Für die Dabeigewesenen verlieh das einem Theaterabend noch mehr Glanz, weil uns jedes Mal ein Wunder Schwarz auf Weiß beglaubigt wurde. Nur mit den Regisseur*innen klappte es weniger gut. In den Neunzigern kursierte das beliebte Reizwort „Regietheater“ und Stadelmaier war sein erklärter Gegner. Er konnte gut austeilen, aber nicht einstecken, was zu ziemlich lächerlichen Empfindlichkeiten führen konnte. Ich erinnere da einen Hieb gegen Hans Neuenfels, der gerade Intendant der Freien Volksbühne in der Schaperstraße war. Künstlerisch produktiv war damals in West-Berlin nur sein Haus, während die Staatlichen Schauspielbühnen unter Heribert Sasse in Mittelmäßigkeit verfielen.

Neuenfels reagierte und schrieb in seiner Replik den Kritikernamen falsch (absichtlich, vermute ich, schließlich war er auch ein begabter Psychologe). Stadelmaiers Empörung folgte prompt. Das sei doch typisch, so ein Neuenfels könne nicht mal einen Namen richtig schreiben, geschweige denn Dramen richtig lesen. Der Stich aus der Schaperstraße saß also, denn Ungerechtigkeit darf bestraft werden – auch mit einem falsch angehängten „-meyer“.

Mit den Deutschen Szenen kamen bei mir solche Geschichten jetzt wieder hoch. Seine Huldigungen von Bühnentalenten sind emphatisch geblieben – so etwa in seinem Nachruf auf Fritz Lichtenhahn. Oder wenn er Angela Winkler als Hamlet in jener Inszenierung von 1999 rühmt, die von Peter Zadek stammte und die Stadelmaier als eine „Jahrhundertinszenierung“ feiert:

Theater zeigt wirklich, was in Wirklichkeit nicht ist. Hamlet stirbt wirklich und hoffentlich wahrhaftig auf der Bühne […] – aber nicht in der Wirklichkeit.

Klar, die Wahrhaftigkeit ist es, die eine ins Alter gekommene Theaterauffassung suchte und hoffentlich auch fand, obschon nicht immer. Doch die Vergänglichkeit des Theaters sollte daran erinnern, dass es in ihm nichts Beständiges gibt, schon gar nicht, wenn es darum geht, wie die Stücke gezeigt werden. An den Veränderungen im Theater und seiner sich wandelnden Ästhetik rieb man sich dagegen seit Anbeginn.

Stadelmaiers Häme gegen den Zeitgeist klingt im Vergleich zu seinen Huldigungen leider verbraucht und nach allzu vielen Aufgüssen. Wirklich Originelles habe ich jedenfalls nicht viel gefunden. Gewiss lässt sich über eine betont schlampige Kledage lästern, über diese verdammt teure Unkonventionalität, diesen ganzen Designer-Schrott – zerschlissen und zerfetzt von der Stange. Über Mode konnte man sich schon zu allen Zeiten lustig machen und tat es natürlich auch. Aber auch solcher Witz wird mit der Zeit müde.

Das Theater ist nach wie vor der Ort, wo Stadelmaier seine deutschen Szenen findet. Ein alter Hut ist das Diktum von der Schreianstalt namens Theater. Das Wort stammt übrigens von Thomas Bernhard. Es war bei ihm nicht weniger Übertreibung als bei Stadelmaier. Neu ist vielleicht, dass Stadelmaier sich inzwischen auch über das Publikum beschwert, weil es sich über die vermeintlich skandalösen Hinrichtungen auf der Bühne nicht mehr beschwere (anders als früher). Aber es gehe ja auch nicht mehr mit. „Es nimmt nicht teil“, lautet seine Enttäuschung.

Gewidmet ist das handliche Büchlein „dem Schutz und Schirm der Heiligen St. Pointe“. Nur braucht eine gute Pointe keinen Schutz, denn die verteidigt sich selbst und ist sich selbst genug, und was ihren Schirm angeht, da ist sie eher launisch. Mal gewährt sie ihn, mal nicht. So wechselhaft geht es jedenfalls in den versammelten Szenen zu: Billig ist der Asterisk-Scherz, wobei kaum jemand begreift, dass das sogenannte Gendern nicht erst mit dem Sternchen begann, sondern bereits mit dem so scheinbar selbstverständlichen „Sehr geehrte Damen und Herren“. Das ist gendern pur unter Nutzung einer strikt binären Grammatik.

Sprachmoden sind seit jeher ein beliebtes Spottobjekt. So mokiert sich Stadelmaier, dass man heute ständig „liefern“ müsse. Sprachhülsen erweisen sich als unausrottbar – wie beispielsweise „Lassen Sie mich mit allem Nachdruck sagen“. Oder „Ich gehe davon aus“, anstatt „Ich nehme an, „Ich vermute“ usw. „Da tappt die Riesensprachgeste, dies bombastische Geschreite auch schon in den Sumpf.“ Aufgespießt werden die Falschschreiber, die aus ‚krottenschlecht‘ ein ‚grottenschlecht‘ machen, denn was wäre an Grotten auszusetzen? Mit den Krotten (= Kröten) sieht das hingegen anders aus. Schmäh erntet auch die ganze „Opa-Oma-Literatur“ unserer Tage, „verbunden mit Enthüllungen, Entschleierung der Vorfahren“.

Am schönsten sind freilich die kuriosen Geschichten, die das Leben schrieb und von denen Stadelmaier mehr hätte „liefern“ dürfen. Sie sind überschrieben mit „Rentner Beckett“, „Geisterknochen“ oder „Letzte Ölung“, um einige herauszugreifen. Die machen wirklich Leselust, aber der besserwisserische, miesepetrige Rest weniger.

Titelbild

Gerhard Stadelmaier: Deutsche Szenen.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2022.
168 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783520768018

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