„Capricho“ und „invención“

Ein voluminöser Text-Bild-Band sucht dem Geheimnis der Kunst Goyas näher zu kommen

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2005/06 hat es schon in Berlin und Wien eine bedeutende Goya-Ausstellung unter dem Titel Prophet der Moderne gegeben, aber die repräsentative monographische Schau, die die Fondation Beyeler in Riehen/Basel in Kooperation mit dem Madrider Prado 2021/22 zeigte, wurde dann mit rund 75 Gemälden und um die 50 Zeichnungen und Druckgrafiken die größte Werk-Präsentation im deutschsprachigen Raum. Dabei konnten auch Arbeiten aus Privatsammlungen entliehen werden, die man bisher nur von Reproduktionen kannte. Das Werk Goyas sollte „den Betrachter wie dasjenige eines Zeitgenossen ansprechen“, heißt es im Katalog.  

Und man kann nun wirklich sagen, dass dieser respektable Katalog das wohl  fortgeschrittenste Wissen über diesen genialen Künstler enthält, der das Ancien Regime hinter sich ließ und ein visionärer Vorläufer der Moderne wurde. Martin Schwander, Curator at Large in der Fondation Beyeler, formuliert in seiner Einführung (Goya – Der Erfindungsgeist, in die Mündigkeit entlassen) das Programm, dem sich Ausstellungsmacher und Katalogschreiber verpflichtet fühlen: Der Hofkünstler Goya avancierte zum Aufklärer und Verfechter der Ideale der Französischen Revolution, zum Antikleriker und Antimonarchisten, zum Vorkämpfer für die geistige und politische Freiheit des Individuums. Er nahm Aufträge der Kirche entgegen, arbeitete für die Hocharistokratie und das reiche Bürgertum und hat zugleich ungewöhnliche, verstörende Bilder in eigenem Auftrag geschaffen. Ob man nun seine sakralen oder profanen Werke betrachtet, seine Christus- oder Hexendarstellungen, seine Porträts und Historienbilder, seine Stillleben und Genrebilder, allenthalben wird die Provokationskraft seiner Werke sichtbar. Grenzüberschreitungen waren seine künstlerische Devise, nicht zuletzt eben auch zwischen Realem und Irrealem, wenn es um die Nachtseiten des Daseins ging. Die in der Spätzeit in Bordeaux entstandenen absurden und skurrilen Zeichnungen bezeichnet M. Schwander als „bildhafte Fragmente des Selbstgesprächs eines Künstlers, den man sich wohl als glücklich Verzweifelten vorstellen muss“.

Ein Essay des irischen Schriftstellers Colm Tóibín, Das Licht der Welt und ihre Finsternis, erörtert an ausgewählten Werken die Themenvielfalt und Formerneuerung des Künstlers und verweist vor allem auf dessen Vorliebe für Bilder des Grauens und des Verfalls. Goyas Bildnisse wiederum lassen ein reiches Innenleben erahnen. Das Modell wird durch das Licht förmlich in den Bildraum hineinversetzt und erhält durch Gestik, Mimik und Accessoires eine besondere Intensität und Tiefe.

Als Künstler wechselt Goya mühelos von Weltzugewandtheit, Ordnung, Gefasstheit, Schönheit und Privilegiertheit zu Irrsinn und einer Auffassung von Geschichte als einem Albtraum, aus dem weder er noch die Menschen, die er darstellt, jemals erwachen können.

Als weiteren grundlegenden Beitrag behandelt Martin Schwander Goya im spanischen Dreigestirn mit El Greco und Velázquez. Zur Goya-Rezeption in Frankreich, Deutschland und der Schweiz.

In sechs große Abschnitte werden Leben und Schaffen des Künstlers eingeteilt: 1775-1788 – Die frühen Jahre. 1789-1799 – Der Hofmaler. 1800-1807 Erster Hofmaler. 1808-1814 – Die Kriegsjahre. 1814-1823 – Die Nachkriegszeit. 1824-1828 – Die späten Jahre in Bordeaux. In ihrer chronikalischen Entwicklung und thematischen Vielfalt sind diese Kapitel als Gemeinschaftsarbeit von Goya-Spezialist:Innen erarbeitet worden. So etwa 1808-1814 Die Kriegsjahre: Biografie (Gudrun Maurer), Das Bild der Frau (Manuela  B. Mena Marqués), Stillleben (Bodo Vischer), Die Schrecken des Krieges und das Skizzenbuch  C (José Manuel Mantilla). Hier kann nur der eine oder andere Aspekt genannt werden, der besonders erörternswert erscheint.

Eine Ikone der Porträtkunst ist das Gemälde der Herzogin von Alba (1795) – sie hatte Goya protegiert –: In einem weißen Kleid mit roter Schärpe deutet sie in hoheitsvoller Geste auf die seitlich zu ihr in den Sand geschriebene Signatur, die einer Widmung gleicht: „Der Herzogin von Alba Fr. de Goya 1795“. Schnell kann aber der Wind diese Signatur zum Erlöschen bringen, wie ja auch das unter der Signatur befindliche Hündchen der Herzogin auf den zu treuen Diensten verpflichteten Künstler anspielt. Könnte das als sarkastische Selbsteinschätzung des Künstlers verstanden werden? In seinen Skizzen– so im Skizzenbuch von Sanlucar aus dem Jahr 1796 – hat Goya die Herzogin weniger herrschaftlich dargestellt, hier wird sie zur Femme Fatale. Anders das Porträt der Schauspielerin Antonia Zárate y Aguirre (um 1810). Würdevoll sitzt sie in ihrer schwarzen Mantilla, die ihre Identität als Spanierin verkörpert, den Blick auf den Betrachter gerichtet. „Kein Attribut verrät den Namen oder die gesellschaftliche Position der Dargestellten“, notiert Andreas Beyer.

Die berühmten Gemälde der nackten und der verschleierten Maja hängen im Prado nebeneinander. „Die nackte Maja“ (1795-1800) wird als das erste lebensgroße Gemälde einer nackten Frau in der westlichen Welt angesehen. Das Bild war 1808 beschlagnahmt worden und wurde 85 Jahre unter Verschluss gehalten. Manet kann es also gar nicht für sein Gemälde „Olympia“ (1863) gekannt haben. „Die bekleidete Maja“ (1800-1807) wiederum ist das Gemälde einer nackten Frau in Kleidung, sie zeigt stolz ihren Körper und schaut den Betrachter mit entschlossenem Blick direkt an. In seinem Buch „Der Künstler als Kuppler“ (1997) plädiert Ivan Nagel für die Selbständigkeit des Modells: „ein Blick, der sagt: du magst mich kaufen, aber ich gehöre dir nicht, und diese Selbstbehauptung im Blick, in der Haltung der Maja, das ist das Erstaunliche und das Neue“.  Im Spanischen ist Maja eine junge Frau aus einfachen Verhältnissen; es war aber Mode, sich als Maja malen zu lassen, und im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde die Figur der Maja zum idealisierten Bild der Spanierin an sich.   

Der „Bekleideten Maja“ müssen „Majas auf dem Balkon“ (1808-1812) und „Maja und Celestina auf dem Balkon“ (1808-1812) wie zu einem Triptychon hinzugefügt werden. Die jungen Frauen schauen neugierig, lebenshungrig in ihrer ausstrahlenden Präsenz vom Balkon in die Welt, unberührt von den geheimnisvoll vermummten Männern im dunklen Hintergrund – sollen das wirklich Zuhälter sein? – bzw. der alten Celestina, deren Name im Spanischen zum Synonym für eine Kupplerin wurde. Sie gaben Manet die Anregung zu seinem „Balkon“-Bild (1868/69). Doch während es sich hier um die Eleganz junger großbürgerlicher Frauen handelt, sind Goyas Majas dem Willen der Männer unterworfen bzw. werden von einer Kupplerin feilgeboten.   

Goya war bereits Hofmaler der königlichen Familie und ein erfolgreicher Porträtist der Aristokratie, als er 1792 schwer erkrankte, und das führte zu einer lebenslangen Gehörlosigkeit und auch zu einer Wende in seinem künstlerischen Schaffen. In dem zwischen 1793 und 1799 entstandenen gesellschaftskritischen Zyklus von Aquatinta-Radierungen „Los Caprichos“ verspottete er im Zeichen der europäischen Aufklärung menschliche Schwächen und Torheiten, geißelte er die gesellschaftlichen Umstände wie die Laster der spanischen Gesellschaft, den Missbrauch klerikaler Gewalt. Eine Reihe von Skizzen hat er mit „Träume“ überschrieben. Berühmt wurde die Radierung eines träumenden, über einen Tisch zusammengesunkenen Mannes, eines Künstlers, unter die geschrieben steht: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Die heranstürmenden Nachtgespenster gibt es nur, solange der Mensch schläft, sich der Finsternis ausliefert, anstatt selbst zu denken. Der Traum war für Goya aber auch das Tor zur Kunst, in den Träumen offenbarte sich die uneingeschränkte Wahrheit. Hier wird dem Unbewussten, Unvernünftigen, Irrealen, den ungebundenen Leidenschaften, überhaupt einer „anderen“ Wirklichkeit das Wort gesprochen.

Als der 1808 begonnene Spanienkrieg Napoleons sich zu einem Volksaufstand gegen eine reguläre Armee, aber der Krieg gegen die Eindringlinge sich auch zu einem Bürgerkrieg entwickelte, wurden die Kriegsschrecken, die Grausamkeiten, die auf beiden Seiten geschahen, das Hauptthema von Goyas radierten Blättern „Desastres“. Die 82 Drucke tragen alle einen knappen Titel, der voller Schmerz, sarkastisch oder mit schneidender Ironie feststellt: “Das ist schlimm“ (Blatt 46), wenn einem Mönch das Messer in die Brust gestochen wird, „Sie haben den Nutzen“ (16), wenn es um die Plünderungen geht. „Dafür seid ihr geboren“ (12) ruft Goya den Mördern angesichts eines Leichenhaufens zu, was ist das denn für eine „große Heldentat“ (39), wenn zerstückelte Leichen an Bäume gehängt werden. „Man weiß nicht warum“ (36) – warum betrachtet der Soldat stolz sein Werk, einen Mann gehängt zu haben? Kann „Nächstenliebe“ (27) wirklich nur noch darin bestehen, die nackten Toten in die Grube zu werfen?

Dass Goya seine „Desastres“ nicht zu Lebzeiten veröffentlichte, mag auch darin begründet sein, dass er Furcht vor der Inquisition hatte, die Ferdinand VII. 1814 wieder eingeführt hatte. Aber wären damals überhaupt seine so erschreckend klarsichtigen Graphiken vom Publikum angenommen worden? Goyas berühmt gewordenes Gemälde „Die Erschießung der Aufständischen“ (1814) fand erst 40 Jahre später Anerkennung. Tief enttäuscht war Goya, dass nach dem Freiheitskampf der Spanier, die sich doch gegen die Missachtung und Ausschaltung ihres Königshauses erhoben hatte, mit Ferdinand VII. sich nur ein neues Despotentum etabliert, Adel und Kirche wieder an Macht gewonnen hatten. Sein Urteil: „Sie wissen den Weg nicht“ (Blatt 70): Mönche, Geistliche und Aristokraten ziehen durch das Bild, sich an einem Seil haltend, das den Absturz aber nicht verhindern kann. Goya sollte dann selbst 1824 ins Exil nach Frankreich gehen.

Aber wenn Goya mit dem Titel eines seiner Blätter auch behauptet, „Ich habe es gesehen“ (Blatt 44), so sind diese doch als „Beglaubigungsstrategien“ anzusehen, „indem Goya sich selbst als Augenzeugen der Ereignisse darstellt“, die er nicht persönlich erlebt hat, schreibt José Manuel Matilla. Goya hat zwar die Zerstörungen und Verwüstungen zur Kenntnis genommen, die durch die französische Belagerung in Saragossa entstanden sind, aber was in diesen Kriegsjahren allerorts geschah, hat er komprimiert in „vollkommen neuartigen, von der Realität ausgehenden Bildfindungen“ (J. M. Matilla) hervorgebracht.  

Schon 1819 hatte sich Goya in seine neu erworbene „Quinta del Sordo“ zurückgezogen und konzentrierte sich auf die Ausmalung der Räume seines Landhauses. Die 14 „Schwarzen Bilder“ waren nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Sie sind eine Abfolge von Darstellungen einer aus den Fugen geratenen Welt, wild, verrückt, dämonisch, in der die Menschen von Aberglauben und Ängsten, gewalttätiger Erregung und Ignoranz getrieben sind. Das grausame Gemälde „Saturn“ (1820-1823) zeigt den mythischen Gott mit wie im Wahnsinn geöffneten Augen, der seinen Sohn verschlingt, weil ihm der Mythologie zufolge prophezeit wurde, dass eines seiner Kinder ihn stürzen würde, um selbst an die Macht zu kommen.  Es ist auch als Angst Goyas vor eigenen Wahnvorstellungen gedeutet worden. Die „Schwarzen Bilder“ gehören heute zur Sammlung des Prado und können aus restauratorischen Gründen nicht ausgeliehen werden. Dazu hat Philippe Parreno einen Film geschaffen, der während der Ausstellung gezeigt wurde.

Goya hielt in seinen letzten Lebensjahren in Bordeaux neben seinem Lithographie-Zyklus der „Stiere von Bordeaux“ mit seinen gewalt- und blutrünstigen Szenen – die Lithografie wurde zu seiner großen Entdeckung des Alters – auf seinen Zeichnungen absurde und skurrile Szenen aus einem Alltag fest, die nicht mehr von dieser Welt sind. Und seine Träume und Albträume, das Verhältnis von Vernunft und Unvernunft, Realem und Irrealem bezog eben auch verstörendes menschliches Verhalten ein. Bilder der Gewalt, auch gegen Frauen, des Wahnsinns, erschütternde Szenen, der Analyse menschlicher Handlungsweisen, sie wirken wie die Notate eines Psychiaters. Goya arbeitete nicht nur den Unterschied von Tätern und Opfern, Privilegierten und Geächteten, Mächtigen und Ohnmächtigen heraus, sondern erkannte auf beiden Seiten verstörende menschliche Verhaltensweisen, die er auch an sich selber feststellte.  In seinem letzten Selbstbildnis, einer Kreidezeichnung in seinem Bordeaux-Skizzenbuch, stellt er sich als bärtiger Greis im Büßerhemd dar, auf zwei Stöcken gestützt, von Dämonen umlauert, sie mutet wie ein Gegenbild zu dem von Monstern geplagten Träumenden („Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“) an, und Goya hat das Wort hinzugefügt: „Noch immer lerne ich“. Lernt er die Ausgeburten des Bösen zu bändigen? Dass Realität nicht ohne Irrealität denkbar ist? Gerade das Spätwerk Goyas ist von den Zeitgenossen nicht mehr verstanden worden, weil er – so Manuela B. Mena Marqués – „den Fokus verstärkt auf die häufig im Unbewussten wurzelnden Handlungsmotive seines Bildpersonals“ richtete.

Ergriffen von der großen Kunst des spanischen Meisters, ist man zugleich auch wie gelähmt angesichts dieser Bilder des Schreckens, des Grauens und Verfalls. Wie ist es mit der Erkennbarkeit des Menschen bestellt? Darüber heute wieder nachzudenken, geben die Arbeiten Goyas berechtigten Anlass.

Titelbild

Martin Schwander (Hg.): Goya.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern/ Ruit 2021.
397 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783775746496

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