Wir müssen nicht verstehen

Die „Theoriegeschichte der Unverständlichkeit 1870–1970“ von Felix Christen zielt „ins Sprachdunkle“ und damit ins Zentrum der Kunst

Von Karl-Josef MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Josef Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was kann man Besseres über einen wissenschaftlichen Text sagen, als dass er, mit den Worten Kants, „‘viel zu denken veranlaßt‘“? Im Epilog mit Kafka befasst sich Felix Christen zum Abschluss seiner Habilitationsschrift mit einem „kleinen Dialog“ des Schriftstellers:

A. Was quält Dich so?
B. Alles ist mir unverständlich.
Ich verstehe nichts.

In der Einleitung begründet Christen seinen abschließenden Blick auf Franz Kafka mit dem Hinweis auf „weitere Untersuchungen“:

Abschließend und zugleich mit der Absicht, das Feld für weitere Untersuchungen zu öffnen, soll deshalb auf eine Stelle bei Kafka eingegangen werden, die, mit Kants berühmter Definition ästhetischer Ideen gesprochen, ‚viel zu denken veranlaßt‘.

Nach der Lektüre dieser Arbeit könnte die Blickrichtung sich allerdings auch in die Vergangenheit richten. Denn besteht das Handwerk der Literatur- und Kunstwissenschaften nicht oft genug darin, die vermeintliche oder tatsächliche Fremdheit ihrer Gegenstände, seien es Texte, Bilder, Musikstücke oder andere Artefakte, mit Hilfe ausgeklügelter Theorien auf den Begriff zu bringen und damit verständlich zu machen? Wiederholt verweist Christen auf die Grenzen einer theoretisch fundierten Kunstbetrachtung:

Zugespitzt lässt sich also durchaus sagen, es gebe keine Theorie der Unverständlichkeit. Denn der Anspruch zu theoretisieren, was sich dem Blick (der Anschauung), was sich dem Verstehen (der Deutung) entzieht, lässt sich kaum erfüllen.

Im Sprachdunkel versagt das Licht der theoretisch fundierten Erkenntnis.

Im Zentrum der Arbeit stehen Texte von Nietzsche, Heidegger, Adorno und Celan. Vorangestellt ist dem ein Rückblick auf den Begriff der obscuritas in der antiken Rhetorik. Christen belegt, dass es bereits in der Antike nicht gelingen will, der Verständlichkeit zum endgültigen Sieg zu verhelfen. Beide, die „perspictuitas, die Durchsichtigkeit der Rede“, und „die obscuritas – im Wortsinn ein sprachliches Dämmerlicht“, sind, wie im Januskopf, unlösbar miteinander verbunden. Deshalb kann es nicht gelingen, das vermeintlich Negative – die Unverständlichkeit oder das Sprachdunkle – aus dem Weg zu räumen, zu verbieten oder zum Verschwinden zu bringen. Das Spannungsfeld, auf dem die Argumentation von Christen sich bewegt, lässt sich annäherungsweise mit drei Zitaten von Ludwig Wittgenstein skizzieren. Zunächst aus dem Vorwort zum Tractatus logico-philosophicus: „Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen.“ Die zweite Aussage deckt sich zudem fast wörtlich mit dem letzten Satz der Abhandlung: „7 Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“ Über das Unaussprechliche heißt es wenige Sätze vorher: „6.552 Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“

In einem Brief, den Christen in einer Anmerkung zitiert, bemerkt Wittgenstein über die Gedichte Georg Trakls: „Ich verstehe sie nicht, aber ihr Ton beglückt mich.“

Dichtung, und wohl alle Kunst, die es wert ist, als solche bezeichnet zu werden, ließe sich im Sinne der Ausführungen von Christen als Versuch bezeichnen, über das zu sprechen, worüber man, weil es das Unaussprechliche ist, eigentlich schweigen müsste. Kunst definiert sich somit als eine Art metaphysische Grenzüberschreitung. Selbst Historienbilder, die doch vermeintlich fraglos an das historische Ereignis gebunden sind, das sie thematisieren, sagen etwas aus, über das ohne sie nicht zu sprechen wäre. Entsprechend bestimmt Max Imdahl die Bildsprache von Picassos Gemälde „Guernica“: „Was diese Bildsprache im Bilde ‚Guernica‘ vergegenwärtigt, hätte ohne sie kein Vorkommen – wie ebenso ausgeschlossen bleibt, daß sich die Botschaft dieses Bildes in gegenstandsloser Malerei formulieren läßt.“

Dieses Überschreiten der Wirklichkeit oder der Sprache, in der Wirklichkeit dargestellt wird, hat Konsequenzen für jede Theorie der Kunst, Konsequenzen, die Felix Christen in immer neuen Anläufen umkreist und zu definieren versucht.

Es ist beileibe kein einfaches Unterfangen, ihm bei diesen Gedankengängen zu folgen, aber wie könnte dem auch anders sein? Klar, deutlich und unmissverständlich könnte die Sprache einer Theorie der Unverständlichkeit nur sein, wenn ihr Ziel wäre, eben diese als bloße Chimäre zu entlarven und sie mittels der Macht theoretischer Begrifflichkeit verständlich zu machen. Dennoch kann man seinen Überlegungen gut folgen, was nicht zuletzt darin begründet ist, dass für ihn die eigene Anschauung und die eigene genaue Lektüre der von ihm in den Blick genommenen Texte an erster Stelle steht. Wir beobachten ihn bei seinen Verstehensbemühungen und werden dabei selbst zu Detektiven, die sich mit einem schier unlösbar scheinenden Fall konfrontiert sehen.

Damit stellt sich die Arbeit von Felix Christen all denen in den Weg, die meinen, Kunst im Rückgriff auf ein bereits vorhandenes vielfältiges Theorieangebot begreifbar machen zu können. Adorno spricht davon, die Kunst bedürfe des Begriffs, – und damit auch der Begriffsbildung der Theorie –, aber sie gehe nicht im Begriff und somit in der Theorie auf. Weil Felix Christen diese kritische Haltung gegenüber jeder Theorie unserer Ansicht nach beherzigt, erweisen sich seine Gedanken als so spannende wie anregende Lektüre.

Titelbild

Felix Christen: »ins Sprachdunkle«. Theoriegeschichte der Unverständlichkeit 1870–1970.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
424 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783835350045

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